Der Diskussion über das Gendern kann man sich kaum noch entziehen. In einigen Unternehmen dürfte eine gendersensible Sprache längst Alltag sein. Im wahrsten Sinne des Wortes beginnt der Weg zu einer geschlechtergerechten Sprache bei der Anrede. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2017 entschieden, dass es in Deutschland – neben Herr und Frau – eine dritte Option für die Anrede geben muss. Das Bundesverfassungsgericht gab dem Gesetzgeber in dem Urteil auf, die Möglichkeit zu schaffen, im Personenstandsregister die Eintragung als „divers“ vornehmen lassen zu können. Dass eine genderneutrale Anredeoption kein „nice-to-have“ ist, sondern eine „harte“ rechtliche Verpflichtung, zeigt eine jüngere Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. Juni 2022 (9 U 92/20).
Sachverhalt und Entscheidung
Beklagte war ein bekanntes Bahnunternehmen. Auf Klägerseite stand eine non-binäre Person. Diese wollte bei der Beklagten online Fahrkarten erwerben. Bei der Online-Fahrkartenbuchung musste sie zum Fahrkartenerwerb das Geschlecht beziehungsweise eine Anrede angeben. Zur Auswahl standen jedoch ausschließlich „Herr“ und „Frau“. Ohne die Angabe des Geschlechts konnte die Fahrkartenbuchung nicht abgeschlossen werden. Um online eine Fahrkarte erwerben zu können, mussten sich non-binäre Personen daher zwangsläufig zwischen für sie unpassenden Ansprachen entscheiden. Eine neutrale Anredemöglichkeit stand nicht zur Auswahl. Die Geschlechtsbezeichnung „Herr“ oder „Frau“ befindet sich auf der Fahrkarte und auch bei der Kundenregistrierung, die eine Online-Buchung vereinfachen soll, muss zwingend die Anrede „Herr“ oder „Frau“ ausgewählt werden.
Die klagende Person fühlte sich dadurch benachteiligt und sah sich in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Mit der Klage wollte sie unter anderem erreichen, dass die Beklagte es unterlässt, von Personen beim Online-Fahrkartenerwerb zwingend eine Anrede als Frau oder Mann zu verlangen. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main gab ihr Recht:
Bei fehlender Auswahlmöglichkeit einer non-binären Ansprache kann eine unmittelbare Benachteiligung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) sowie eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (GG) vorliegen. Hieraus können Schadensersatzansprüche abgeleitet werden. Eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch den Zwang zu einer falschen Anrede sei zu bejahen, da dieses Recht gerade auch die geschlechtliche Identität einer jeden Person schütze.
Zwar sei der Erwerb von Online-Tickets auch für non-binäre Personen möglich gewesen. Dies jedoch nur unter falschen Angaben in Bezug auf die eigene geschlechtliche Identität und damit unter Verleugnung derselben. In der fehlenden korrekten Anredemöglichkeit liege daher eine Benachteiligung gemäß Paragraf 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG bei der Begründung eines zivilrechtlichen Schuldverhältnisses (hier: des Beförderungsvertrags als Massengeschäft im Sinne des Paragrafen 19 Absatz 1 Nr. 1 AGG). Infolgedessen sprach das Oberlandesgericht der klagenden Person sowohl einen Unterlassungsanspruch (Paragraf 21 Absatz 1 Satz 2 AGG), als auch einen Entschädigungsanspruch in Höhe von 1.000 Euro aufgrund eines immateriellen Schadens (Paragraf 21 Absatz 2 Satz 1 AGG) zu.
In der Sache gab das Gericht zu erkennen, dass wohl grundsätzlich kein Anspruch auf eine bestimmte Anredeform besteht, eine Verletzung bestehe lediglich aufgrund der unzutreffenden Anredeform. Insofern ist es sehr wahrscheinlich, dass das Urteil anders ergangen wäre, wenn die Möglichkeit bestanden hätte, beim Online-Erwerb einer Fahrkarte keine Anredeform auswählen zu müssen.
Praxishinweis
Auch wenn der vorliegende Fall im allgemeinen Zivilrecht spielt, ist die Situation weitgehend auf das Arbeitsrecht übertragbar, schreibt doch das Benachteiligungsverbot des Paragraf 19 AGG das Benachteiligungsverbot aus Paragraf 2 Absatz 1 Nr. 1 AGG fort. Es ist also ohne weiteres denkbar, dass Mitarbeitende die Argumentation des Oberlandesgerichts Frankfurt nutzen und – gerade in einem konfliktträchtigen Arbeitsverhältnis – den Arbeitgeber in Haftung nehmen. Die Anwendungsfälle sind vielfältig: Bewerberportale, Intranetprofile, Reise- und Abrechnungsportale – sie alle enthalten möglicherweise Eingabemasken, bei denen Anredeformen vorgegeben sind und keine Möglichkeit besteht, dieses Feld schlicht leer zu lassen.
Es ist daher jedem Unternehmen anzuraten, die Anredeformen in seinen Portalen zu kontrollieren. Hier ist es inzwischen nicht mehr nur zeitgemäß, die Auswahl zu erweitern, sondern es ist – wie das Urteil zeigt – auch rechtlich geboten. Mehr noch: Unternehmen sollten den Blick weiten und im Rahmen eines funktionierenden Diversity Managements sicherstellen, dass die Kommunikation im Unternehmen die Vielfalt der Belegschaft abbildet.