Wann beginnt der Kündigungsschutz von Schwangeren?

Arbeitsrecht

Wie definiert sich der Beginn einer Schwangerschaft und der damit eintretende Kündigungsschutz? Ein aktuelles Urteil könnte die Rechtsprechung ändern.

Kündigungen einer Frau während ihrer Schwangerschaft sind ausgeschlossen, § 17 Abs. 1 Mutterschutzgesetz (MuSchG). Entscheidend ist, ab wann objektiv eine Schwangerschaft bestanden hat. Bislang rechnet das Bundesarbeitsgericht (BAG) dazu 280 Tage vom voraussichtlichen Entbindungstermin zurück. Nach dem vorliegenden Urteil könnte sich dies auf 266 Tage verkürzen.

Sachverhalt

Die beklagte Arbeitgeberin stellte die Klägerin mit Wirkung ab dem 15. Oktober 2020 ein. Bereits am 7. November kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis in der Probezeit zum 23. November. Mit Schreiben vom 2. Dezember 2020 teilte die Klägerin unter Beifügung einer „Schwangerschaftsbestätigung“ ihrer Gynäkologin vom 26. November mit, in der sechsten Woche schwanger zu sein. Dem folgte eine weitere Schwangerschaftsbescheinigung der Frauenärztin vom 27. Januar 2021, aus der sich der 5. August als voraussichtlicher Geburtstermin ergab. Die Klägerin behauptete, bei Kündigung bereits schwanger gewesen zu sein, wovon sie erst am 26. November Kenntnis erhalten habe. Die verspätete Mitteilung an die Beklagte sei daher unverschuldet, noch unverzüglich nach Kenntnis erfolgt, weshalb die Kündigung wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 1 MuSchG unwirksam sei.

Entscheidung

Sowohl das ArbG als auch das LAG haben die Kündigungsschutzklage abgewiesen. Bei Zugang der Kündigung sei die Klägerin nicht schwanger gewesen. Bei natürlicher Schwangerschaft liege eine solche ab Befruchtung der Eizelle vor. Um Sicherheit und Schutz einer schwangeren Arbeitnehmerin zu gewährleisten, sei nach der Rechtsprechung des EuGH und des BAG vom frühestmöglichen Zeitpunkt einer Schwangerschaft auszugehen, wobei der Beweis für das Vorliegen einer Schwangerschaft zum Zeitpunkt der Kündigung der Arbeitnehmerin obliege. Zur Berechnung des Beginns einer Schwangerschaft rechne das BAG vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin 280 Tage. Dies umfasse die mittlere Schwangerschaftsdauer, die – gerechnet vom ersten Tag der letzten Regelblutung an – bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus zehn Lunarmonate zu je 28 Tagen betrage. Damit sei die äußerste zeitliche Grenze markiert, innerhalb derer eine Schwangerschaft bei normalem Zyklus vorliegen könne. Doch würden so, wie das BAG selbst einräume, Tage in den Schutz einbezogen, an denen der Eintritt einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich sei, weil eine Befruchtung der Eizelle erst nach dem Eisprung möglich sei, dessen durchschnittlicher Zeitpunkt erst beim 12.-13. Zyklustag angenommen werde. Zum Schutz der Arbeitnehmerinnen seien jedoch alle Wahrscheinlichkeiten in den Schutzzeitraum einzubeziehen (vgl. zuletzt BAG Urt. v. 26.3.2015, 2 AZR 237/14).

Wie schon zuvor das Arbeitsgericht wolle auch die entscheidende Kammer des LAG dem Rechenmodell des BAG nicht folgen, weil es die Existenz der Schwangerschaft als materiell-rechtlicher Voraussetzungen des Kündigungsschutzes mit der prozessualen Frage des Nachweises der Schwangerschaft vermenge und so zugleich den geschützten Zeitraum in vom Gesetzeszweck nicht gebotener Weise überdehne. Werde die Darlegung und der Beweis einer streitigen Tatsache über statistische Wahrscheinlichkeiten hergeleitet, könne dies nur über einen Anscheinsbeweis erfolgen. Dieser erleichtere aber einen Beweis nur bei typischen Geschehensabläufen. Im Fall einer Schwangerschaft könne eine solche typische Wahrscheinlichkeitsbeurteilung nur für einen Zeitraum von 266 Tagen vor der prognostizierten Entbindung erfolgen. Eine Vorverlegung des Beginns einer Schwangerschaft auf den ersten Tag der letzten Regelblutung erstrecke sich auf einen Zeitpunkt, zu dem eine Schwangerschaft extrem unwahrscheinlich und praktisch fast ausgeschlossen sei. Effekt einer solchen fiktiven Vorverlegung sei, dass einer zunächst wirksamen Kündigung durch den praktisch immer zeitlich danach liegenden tatsächlichen Schwangerschaftsbeginn die Wirksamkeit genommen werde. Dies sei ein Eingriff in die Grundrechte des Arbeitgebers, der auch durch den grundrechtlichen Anspruch einer Mutter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4 GG) nicht zu rechtfertigen sei.

Nachdem vorliegend an der Berechnung des voraussichtlichen Entbindungstermins mit dem 5. August 2021 nichts zu beanstanden sei, habe die Schwangerschaft bei Rückrechnung mit 266 Tagen erst am 12. November 2020 und damit vier Tage nach Zugang der Kündigung begonnen. Dabei bleibe es auch, wenn man zugunsten der Klägerin noch eine Wahrscheinlichkeitsbandbreite von einem bis zu zwei Tagen für typischerweise noch mögliche Abweichungen vom Zeitpunkt der Befruchtung der Eizelle unterstellen wollte.

Praxisfolgen

Nachdem das Urteil von der bisherigen Rechtsprechung des BAG abweicht, hat das LAG richtigerweise die Revision zugelassen, die auch eingelegt worden ist (BAG Az. 2 AZR 11/22). Deren Ergebnis muss man abwarten. Die Kritik, die Berechnungsmethode des BAG vermische die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Kündigungsschutzes mit der prozessualen Frage des Nachweises der Schwangerschaft, überzeugt. Jeder Schwangeren ist es unbenommen, nach allgemeinen Regeln den Vollbeweis zu führen, ab wann in ihrem Fall die Schwangerschaft abweichend von rückgerechneten 266 Tagen objektiv bestanden hat. Sollte das BAG seine Rechtsprechung modifizieren und entsprechende Kritik aus der Literatur aufgreifen (vgl. nur Rolfs in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, 6. Aufl. 2021, § 17 MuSchG Rn. 62-64 m.w.N.) würde sich das Risiko verringern, dass die Schutzfrist des § 17 MuSchG eingreift, obgleich (noch) keine Schwangerschaft besteht.

Vorstehendes betrifft Fälle natürlicher Befruchtung. Bei künstlicher Befruchtung in vitro besteht kein Erfordernis, den Beginn der Schwangerschaft errechnen zu müssen. Mit dem Datum des medizinischen Eingriffs und dem dabei erfolgenden Embryonentransfer steht der Schwangerschaftsbeginn fest.

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Axel J Klasen, Foto: Privat

Axel J. Klasen

Axel J. Klasen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei GvW Graf von Westphalen.

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