Was kann HR tun, um die Problematik Think talent – think male im Talent Management zu vermeiden? Eine Studie gibt Aufschluss
Wissenschaft, Politik und Wirtschaft treibt bereits seit einigen Jahren die Frage um, wie sie den Frauenanteil in Führungspositionen – als Vorständin und Geschäftsführerin sowie Führungskraft in Handel, Produktion und Dienstleistungen – erhöhen können. Die entscheidenden Impulse kamen vor allem aus Norwegen, wo 2003 als erstem Land der Welt eine Geschlechterquote von 40 Prozent für Aufsichtsräte eingeführt und eine europaweit anhaltende Debatte über Frauen in Führungspositionen initiiert wurde. 2015 kam in Deutschland mit dem Führungspositionengesetz I – dem Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst – und der damit einhergehenden Quotenregelung in Aufsichtsräten der vermeintliche Durchbruch.
Heute wissen wir: Die Quote wirkt – aber die freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft funktioniert nicht. So das Ergebnis der Evaluation des Führungspositionengesetzes I, die die ESCP Business School Berlin im Rahmen einer Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wissenschaftlich begleitet hat. Laut Statistischem Bundesamt waren in Deutschland im Jahr 2020 rund 28 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt – im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union lag Deutschland damit nur im unteren Drittel und unter dem EU-Durchschnitt von 34 Prozent.
Die Studie
Im Rahmen ihres Forschungsprojektes zum Thema Think talent – think malesind Marion Festing, Angela Kornau und Lynn Schäfer von der ESCP Business School in Berlin folgenden Forschungsfragen nachgegangen: Unter welchen Bedingungen kann man von genderspezifischen Verzerrungen oder geschlechtsspezifischer Diskriminierung im Talent Management sprechen? Und: Verfolgen Unternehmen unterschiedliche Ansätze im Talent Management, um weibliche Talente zu fördern? Wenn ja, wie unterscheiden sich diese Ansätze?
Diesen Fragen wurde konzeptionell und empirisch auf der Basis einer vergleichenden Fallstudie von zwei deutschen Medienkonzernen beantwortet. Es wurden sechs Interviews mit Talent-Management- und HR-Fachleuten sowie 37 Interviews mit Teilnehmenden von Talentförderprogrammen (20 Frauen und 17 Männer) durchgeführt. Zudem wurden Evaluierungsbögen für die Analyse hinzugezogen. Die semistrukturierten Interviews beinhalteten Fragen zum fachlichen Hintergrund, zur Wahrnehmung der Talent Management-Praktiken im Unternehmen, zur Organisationskultur sowie zu Maßnahmen der Frauenförderung. Die Gespräche dauerten rund 90 Minuten. Schließlich wurde ein Kategoriensystem entwickelt, das einen systematischen Vergleich der Unternehmen ermöglichte.
Tipps für Personalverantwortliche
Die Analyse der zwei sehr unterschiedlichen Unternehmen ermöglicht es, interessante praktische Implikationen für Personalverantwortliche und Talent-Management-Fachleute abzuleiten.
- Obwohl Talent Management in Deutschland oft dazu genutzt wird, in Form von Förderprogrammen und Mentoring-Programmen insbesondere Frauen in ihrer Karriere zu unterstützen, zeigen unsere Ergebnisse in den zwei Unternehmen, dass sich in verschiedenen Talent-Management-Charakteristika und Praktiken genderspezifische Verzerrungen und geschlechtsspezifische Diskriminierungsrisiken identifizieren lassen und Frauen und Talente mit einer eher stereotypen femininen Werteorientierung dadurch benachteiligt werden können. Ein größeres Bewusstsein für die Gefahr der versteckten Verzerrungen, zum Beispiel durch den Same-sex-bias oder den Unconscious Bias in der Auswahl und Bewertung von Talenten oder mögliche Diskriminierungen durch männlich geprägte Talentdefinitionen, ausschließlich vertikale Karriereorientierungen und den Verzicht auf breite Inhalte in der Talentförderung, kann Talent-Management-Fachleuten helfen, die im Unternehmen angewendeten Praktiken systematisch kritisch zu hinterfragen und zu überprüfen mit dem Ziel, die Chancengleichheit für Talente jeglichen Geschlechts zu erhöhen.
- Darüber hinaus können Firmen das geschlechtsspezifische Diskriminierungsrisiko in Auswahlprozessen für Talentförderprogramme durch die frühzeitige Offenlegung von Kriterien vorbeugen, die eine objektive und zuverlässige Einschätzung des Talentpotenzials ermöglichen. Auch die Einbindung von weiblichen Führungskräften in Auswahlprozesse kann einen möglichen gleichgeschlechtlichen oder männlichen Bias ausgleichen.
- Und letztlich ist die Einführung einer offiziellen Geschlechterquote für Talentförderprogramme ein effektives Instrument zur Sicherstellung der Chancengleichheit. Jedoch sollte vor Einführung derartiger Maßnahmen die Unternehmenskultur der Organisation berücksichtigt werden, um Frustration und Demotivation bei den Beschäftigten zu vermeiden.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen (Gender-)Diversität und Geschäftserfolg. Laut einer Analyse von McKinsey aus dem Jahr 2020 haben Unternehmen mit hoher Gender-Diversität eine um 25 Prozent größere Wahrscheinlichkeit, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Es ist also wenig überraschend, dass auch das Interesse an Talent Management, also der Fähigkeit einer Organisation, Talente anzuwerben, auszuwählen, zu entwickeln und langfristig an ein Unternehmen zu binden, zunimmt. Schließlich sind es genau diese Talente, die per Definition wertvoll, selten und schwer zu imitieren sind und daher einen Wettbewerbsvorteil für die Organisation darstellen können. Solange jedoch hochqualifizierte Frauen geringere Chancen auf Führungspositionen haben als ihre männlichen Kollegen, schöpft das Unternehmen den verfügbaren Talentpool nicht vollständig aus und verhindert damit die effektive Partizipation aller an der unternehmerischen Wertschöpfung.
Geschlechtsspezifische Diskriminierung
In der Literatur gibt es zwei Definitionen von Gender: Gender als biologisches Geschlecht und Gender als soziale Konstruktion. Demzufolge sind auch zwei Indikatoren für das Forschungsprojekt wichtig: geschlechtsspezifische Diskriminierung sowie genderspezifische Verzerrungen im Talent Management. Konkret wurde untersucht, inwieweit Talent-Management-Praktiken stärker stereotype maskuline oder feminine Werte widerspiegeln sowie ob ein Diskriminierungspotenzial gegenüber weiblichen Talenten vorliegt. Es wurden zwei Unternehmen – A und B – hinsichtlich ihrer sehr unterschiedlichen Talent-Management-Ansätze verglichen. Im Folgenden werden vier wichtige Ergebnisse der Studie zusammengefasst:
Stereotype Eigenschaften
Die Talentdefinition unterscheidet sich deutlich in den beiden untersuchten Unternehmen. In Unternehmen A scheint eine Think-Talent-Think-Male-Philosophie verbreitet, was dadurch deutlich wird, dass der Begriff „Talent“ in offen gestellten Fragen nach der Wahrnehmung von typischen Charakteristika von Talenten in Interviews indirekt mit männlichen Führungskräften und stereotypen maskulinen Eigenschaften assoziiert wird wie Durchsetzungsvermögen oder die Fähigkeit, sich gut zu verkaufen beziehungsweise zu präsentieren.
In Unternehmen B spiegelt sich dagegen eine vielfältigere Talentdefinition wider. Als Charakteristika von Talenten wurden hier Flexibilität, Kommunikation und soziale Kompetenzebenso wie analytisches Denken sowie die Fähigkeit, sich ein gutes Netzwerk innerhalb des Unternehmens aufzubauen und zu pflegen, genannt – allesamt sowohl stereotype feminine sowie maskuline Eigenschaften.
Karriereorientierung
Die zugrunde liegende Karriereorientierung ist in beiden Firmen vertikal, und daher ist Führungspotenzial auch in beiden Unternehmen als wichtiges Kriterium für die Anerkennung als Talent genannt worden. Unternehmen B zeigt jedoch im Vergleich zu A eine größere Wertschätzung auch für eine horizontale, nichtlineare Karriereorientierung und einen umfassenderen Ansatz im Talent Management, der Männer und Frauen, die beispielsweise aufgrund familiärer Verpflichtungen eine Karrierepause eingelegt haben, nicht kategorisch ausschließt.Dies führt dazu, dass die Gefahr einer genderspezifischen Verzerrung durch die vorherrschende Karriereorientierung in Unternehmen B geringer ist.
Inhalt der Talentprogramme
Der Inhalt des Nachwuchskräfteprogramms in Unternehmen A konzentriert sich primär auf die weitere fachliche Qualifizierung (Management, Strategie, Medienmanagement). Dagegen fokussieren sich die Förderprogramme in Unternehmen B fast ausschließlich auf die persönliche Entwicklung, Coaching, soziale Kompetenzen, Teamfähigkeit und Führungskompetenz. Dadurch ist die breitere Ausrichtung der Inhalte der Talentmanagementprogramme in Unternehmen B weniger genderspezifisch verzerrt als in Unternehmen A.
Talent‑Auswahlprozesse
In beiden Unternehmen sind Talente während des Auswahlprozesses (in Unternehmen A für das Nachwuchskräfteprogramm und in Unternehmen grundsätzlich) auf die Unterstützung und das Wohlwollen von Vorgesetzten angewiesen. In diesem Prozess können weibliche Talente mit Diskriminierung konfrontiert werden, da die Managementebene, die für die Nominierungen in beiden Unternehmen zuständig ist, fast ausschließlich aus Männern besteht. In Unternehmen A besteht aufgrund der numerischen Dominanz von männlichen Vorgesetzten, die mit der alleinigen Nominierung von Talenten betraut sind, das Risiko, Frauen zu diskriminieren, denn die Entscheidungstragenden unterliegen häufig der Tendenz,männliche Kandidaten zu bevorzugen (Same sex bias). Dagegen wird in Unternehmen B diesem Risiko durch die Institutionalisierung einer expliziten Geschlechterquote und die Einbindung von HR-Expertinnen begegnet, sprich der Einsatz von Geschlechterquoten wird als strategisches Element im Talent Management genutzt.
Fazit
Unsere genderspezifische Analyse deutet darauf hin, dass das Talent Management des männerdominierten Unternehmens A durch einen höheren Grad an genderspezifischen Verzerrungen gekennzeichnet ist als das von Unternehmen B. Die maskulin geprägte Talentdefinition, das vertikale Karriereverständnis, die Inhalte der Talentförderungsprogramme sowie die Gestaltung der Auswahlprozesse können ein größeres Hindernis für weibliche Karrieren darstellen als in Unternehmen B. Unternehmen A versucht zwar diskriminierende Effekte durch transparente Prozesse und die Möglichkeit von Initiativbewerbungen zu reduzieren, Unternehmen B scheint durch eine formelle Quotenregelung für alle Förderprogramme weibliche Karrieren stärker zu fördern.
Am 27. Oktober 2021 erschien der Bericht der Allbright Stiftung Aufbruch oder Alibi? Viele Börsenvorstände erstmals mit einer Frau. Er stellt die Frage, ob sich die deutschen Unternehmen mit der einen Alibi-Frau im Vorstand zufriedengeben oder ob sie den Aufbruch in eine echte Transformation von Führungsstrukturen und Unternehmenskultur schaffen. Die Allbright Stiftung mit Sitz in Berlin und Stockholm dokumentiert seit fünf Jahren jährlich die Entwicklung des Frauenanteils in den Führungspositionen deutscher Unternehmen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.