Positiver Störer und Kulturbewahrer

Interview mit Marcus Hendel

Herr Hendel, wie empfinden Sie die aktuellen Herausforderungen für Ihre Profession?
Marcus Hendel: HR ist schon immer stetig im Umbruch. Doch im Moment ist, auch mit Blick auf die Medienlandschaft, der Druck für HR sehr groß, sich immer wieder neu zu erfinden oder mit neuen Buzzwords um die Ecke zu kommen. Das ist teilweise ein bisschen anstrengend. Wir sollten uns aus der Rolle der Getriebenen etwas herausnehmen. Auch HR geht mit offenen Augen und Ohren durch die Welt und ist überall mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Mal ehrlich: Den Fachkräftemangel gibt es nicht erst seit gestern und der Digitalisierung und KI müssen wir uns alle stellen.

Wie flexibel muss HR sein, um für die Zukunft gut gerüstet zu sein – und welchen Spielraum haben Sie persönlich für Flexibilität?
In unserem Unternehmen musste ich nie den Kampf ausfechten, ob ich Gestalter sein darf. Ich kann mit meinem 18-köpfigen Team viele Dinge ausprobieren. Dazu gehört, sich auch mal ein blaues Auge zu holen. Ich sehe uns im Benchmark mit HR-Kolleginnen und -Kollegen zwar relativ weit vorn, aber wir müssen uns weiterentwickeln, es darf keinen Stillstand geben.

Inwieweit muss die Organisationsentwicklung mitgehen?
Wir richten ein großes Augenmerk auf die Organisationsentwicklung (OE). Dies ist in unserem Unternehmen schon eine Besonderheit. Die OE geht nicht in der HR-Abteilung auf, sondern wir haben uns bewusst dafür entschieden, die OE als eigenständige Querschnittsabteilung zu initiieren, die jeden Change eng begleitet. Wir haben auch verschiedene Organisationsformen ausprobiert und sind jetzt mit einer Best-of-Lösung unterwegs, in der wir die Erfahrungen der einzelnen Abteilungen zusammengeführt haben. Ich würde behaupten, dass dadurch in den Köpfen unserer Mitarbeitenden ein starkes agiles Mindset zu finden ist.

Agilität ist ja auch so ein Buzzword. Wie füllen Sie das mit Leben?
Indem wir schon in der Personalauswahl darauf achten, dass neue Kolleginnen und Kollegen genau dieses Mindset mitbringen beziehungsweise bereit sind, sich diesem Mindset zu stellen. Wir tun dafür auch sehr viel in der Personalentwicklung. Diese beginnt für uns schon beim Onboarding, in dem wir die Neuen mit unserer agilen Denkweise und unserer Kultur vertraut machen.

Gehört Hybrid Work auch dazu?
Unbedingt. Wir müssen aufhören, in Standorten zu denken.

Wie meinen Sie das?
Als Unternehmen, das 2000 in München gegründet schon als wildes Start-up an mehreren Standorten unterwegs war, haben wir bei Unite schon früh gelernt, über Bürostandorte hinauszudenken, und haben in virtuellen Teams gearbeitet. Gerade wenn ein Unternehmen über verschiedene Standorte verteilt ist, ist Büroanwesenheit nicht mehr das Maß aller Dinge. Wir denken und arbeiten nicht in Standorten, sondern stellen die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden in den Vordergrund. Dafür haben wir im Austausch mit der Belegschaft drei Smart-Work-Modelle entwickelt: Modell eins ist für alle, die wirklich ihren Arbeitsalltag primär im Büro sehen. Weil sie gerne unter Leuten sind oder weil sie zu Hause nicht die passende Infrastruktur für Homeoffice haben oder weil sie doch gerne ihren eigenen Schreibtisch im Büro haben. All denjenigen bieten wir an, fünf Tage in der Woche im Büro zu sein. Sie können aber trotzdem 20 Prozent ihrer Zeit remote arbeiten. Unser Modell zwei ist für alle, die gerne mehr als 50 Prozent ihrer Zeit mobil arbeiten und den Rest der Zeit im Büro sind. Und unser Smart-Work-Modell drei heißt, 100 Prozent mobil tätig zu sein.

Wir haben kürzlich unseren Hybrid-Work-Kodex im Unternehmen veröffentlicht und uns darin klar gegen einen Remote-First-Ansatz entschieden. Wir nennen unseren Ansatz Hybrid-Integration. Das heißt, wir können alle von überall aus unsere Kernarbeit erledigen. Die Büros bleiben aber unser Heimathafen und Innovations-Hub. Das asynchrone Arbeiten braucht noch etwas Gewöhnung. Ich erwarte nicht, dass jemand um 20 Uhr noch E-Mails beantwortet, aber wenn sein Arbeitstag vielleicht erst um 17 Uhr beginnt, dann kann es ja die neue Normalität für ihn sein und ein passenderes Lebens- und Arbeitsmodell.

Welchen Raum nimmt für Sie die Kulturarbeit ein?
In meiner idealen Welt arbeitet jeder Mitarbeitende an der Kultur mit, deshalb würde ich das Thema Kultur jetzt nicht primär in einer Abteilung verorten. Aber vor allem für HR ist es die große Aufgabe, Menschen für die Arbeit bei uns zu begeistern und unsere Kultur entsprechend zu transportieren. Ich sehe für HR aber auch eine gewisse kulturelle Ambivalenz, so zwischen positivem Störer und Kulturbewahrer. Ich bin überzeugt, dass es in diesen volatilen Zeiten auch wieder ein bisschen mehr Beständigkeit braucht, die man den Menschen im Unternehmen bieten sollte. Viele Mitarbeitende wünschen sich gerade jetzt Sicherheit. In schwierigen Zeiten nimmt das Augenmerk auf die Kommunikation zu. Wir leben zwar eine totale Transparenz. Dennoch ist es wichtig, zu überlegen, wann welche Information die richtige ist, ohne den Wahrheitsgehalt zu mildern oder durch Weglassung irgendwas zu verschönern, damit wir Menschen nicht verunsichern.

Unite hat 700 Mitarbeitende weltweit und ist in 15 Ländern vertreten. Wie kann HR auf die verschiedenen kulturellen Aspekte eingehen?
Da schließen wir wieder den Bogen zu Hybrid Work. Es ist uns mittlerweile egal, ob wir einen guten Softwareentwickler in Spanien beschäftigen oder in Deutschland. Wenn wir Prozesse „corporate“ denken, fällt es schnell auf, dass sich in Deutschland gut funktionierende Benefitsysteme natürlich nicht eins zu eins woanders in Europa adaptieren lassen. Wir müssen unsere Country Manager in Wachstums- und Personalprozessen eng begleiten. Das sind auch Erfahrungen, bei denen wir uns, wie ich vorhin sagte, auch mal ein blaues Auge holen. Wir haben heute eine Recruiterin, die in Spanien lebt und die unsere Entwickler global für alle Landesgesellschaften rekrutiert. Hätte man mir das vor zehn Jahren gesagt, hätte ich gemeint, das geht nicht.

Im Moment wird künstliche Intelligenz stark debattiert. Inwieweit ist der Einsatz in der HR für Sie denkbar?
Ich kann es mir heute noch nicht vorstellen, eine Maschine festlegen zu lassen, welche Person mit ihren Softskills zu den Menschen in unserer Organisation passt. Darauf möchte ich mich nicht verlassen. Aber ich könnte mir den Einsatz von KI durchaus langfristig für einfache administrative oder beratende Aufgaben vorstellen.

Inwieweit haben die Krisen Corona, Krieg oder Klimawandel Ihre HR-Arbeit verändert, neu sortiert oder neu gewichtet?
Ich verbringe heute viel mehr Zeit im Austausch mit unserer Sustainability-Managerin, weil ich es unterstütze, dass Nachhaltigkeit nicht mehr nur ökologisch gedacht wird, sondern dass Nachhaltigkeit gerade für Unternehmen viel, viel mehr bedeuten muss. Stichwort ESG-Kriterien. Auch der Ukraine-Krieg beschäftigt uns im HR, nicht nur, weil wir Mitarbeitende mit ukrainischer und russischer Staatsbürgerschaft beschäftigen. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass hybride Arbeitsmodelle gut funktionieren, wenn ein gegenseitiges Vertrauen herrscht. Auch wenn es wie eine Floskel klingt: Vertrauen hat eine sehr, sehr hohe Werthaltigkeit im Miteinander von Menschen in Organisationen. Und immer wieder höre ich von Skeptikern, dass es doch Menschen gibt, die das Vertrauen ausnutzen.

Was sagen Sie diesen Skeptikern?
Da sage ich: Ja, die gibt es. Da braucht es schon ein bisschen Gelassenheit. Wo es Vertrauen gibt, gibt es auch immer Vertrauensbrüche. Aber es ist ganz wichtig, sich nicht aufzureiben für die wenigen, die das Vertrauen ausnutzen, sondern für den Großteil, der dankbar ist für die Freiheiten und das Vertrauen auch verdient.

Fördert die Politik Flexibilität in Unternehmen oder schafft sie eher neue Bürokratiemonster?
Im Moment sehe ich einen Flickenteppich von Initiativen, die für mich nicht zu Ende gedacht sind. Das Arbeitszeitgesetz wird auch bei uns heiß diskutiert. Wir haben uns entschieden, uns dem Thema einer Arbeitszeiterfassung zu stellen und ein Modell zu entwickeln, das zu uns passt. Arbeitszeit korreliert im Übrigen ja auch nicht immer zu 100 Prozent mit Leistung. Es gibt durchaus auch in der Belegschaft Wünsche, Arbeitszeiten zu erfassen. So ergibt sich die Chance, Lebensarbeitszeit anzusammeln, die man später gegen Freizeit einlösen kann.

Manche argumentieren für die Viertagewoche, andere meinen, wir bräuchten eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden.
Ich sehe bei uns eine eindeutige Tendenz zu Teilzeit-Arbeitsverhältnissen. Vollzeit-Arbeitsverträge mit 40 Wochenstunden gibt es immer weniger. Bei Neuverträgen mit jüngeren Menschen zeigt sich klar der Bedarf, sich zwischen 30 und 35 Wochenstunden einzupendeln. Ich glaube, eine Viertagewoche, bei der man am Ende doch 40 Stunden abreißt, bringt nichts.

Was wird demnächst im Fokus Ihrer HR-Arbeit stehen?
Wir haben bei unserer HR-Strategieentwicklung festgestellt, dass uns einige Skills fehlen, die wir uns antrainieren müssen, und dass es vielleicht auch komplett neue HR-Rollen geben wird. Ein neuer persönlicher Fokus wird sicher auf Netzwerk ausgerichtet sein. Eines meiner Herzensthemen ist es, ein Alumni-Netzwerk aufzubauen mit einer Art Rückfahrkarte ins Unternehmen. Wir haben in den letzten zwei Jahren gesehen, dass sich Menschen bei uns wieder beworben haben mit neuen Skills und frischem Input für unser Unternehmen. Vielleicht kann das ja auch ein Teil der Lösung des Fachkräftemangels sein, wenn Unternehmen sich nicht gegenseitig Personal wegnehmen, sondern sich gegenseitig Personal geben.

Wie soll das funktionieren?
Man könnte die Frage der Passung über Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg ausbreiten. Von Jobtausch oder Rotation könnten die Unternehmen, aber auch die Mitarbeitenden profitieren. Jeder könnte sich mehr mit den Rollen und der Denkweise anderer beschäftigen und von den Best Cases profitieren.

Marcus Hendel ist seit 2011 Head of Human Resources bei Unite, einer europäischen B2B-Plattform. Seine vorherigen Stationen waren jeweils junge Wachstumsunternehmen der Tech- und Digitalbranche. Hendel studierte Psychologie, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie an der Universität Leipzig.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Flexibilität. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sabine Schritt ist leitende Redakteurin beim Human Resources Manager.

Sabine Schritt

Sabine Schritt ist leitende Redakteurin des Magazins Human Resources Manager. Sie war zuvor 25 Jahre als freie Journalistin tätig. Nach verschiedenen Stationen im Tagesjournalismus und bei Ratgeber- und Lifestyle-Publikationen, beschäftigt sie sich seit über 15 Jahren intensiv mit Themen rund um die Arbeitswelt, HR und Führung. Die gebürtige Kölnerin war zudem bis 2012 stellvertretende Chefredakteurin des Schweizer Fachmagazins HR Today in Zürich. Anschließend war sie zehn Jahre als freie Redakteurin für das Fachmagazin Personalführung tätig. Sabines besonderes Interesse gilt den Aspekten:  Zusammenarbeit, Kommunikation, digitale Transformation, Kulturwandel in Unternehmen, Rollenverständnis von HR, Persönlichkeitsentwicklung.

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