„Ich habe mich oft wie ein Ausreißer im Datensatz gefühlt“

Interview

Mina, wie nimmst Du als junge KI-Expertin und Gründerin die Techwelt in Deutschland wahr?

Mina Saidze: Ich bin jetzt seit mehr als sieben Jahren in der Branche unterwegs, insbesondere im Bereich von künstlicher Intelligenz und Big Data. In diesem Umfeld habe ich mich oft wie ein Ausreißer im Datensatz gefühlt. Der Frauenanteil in der IT liegt hier in Deutschland bei 17 Prozent. Europaweit sind es 23 Prozent. Auch im weiteren internationalen Vergleich schneiden wir sehr schlecht ab. In Indien beträgt der Frauenanteil in den Computerwissenschaften rund 40 Prozent, in Malaysia bis zu 50 Prozent, ähnlich ist es in arabischen Ländern. Wir haben also noch einen langen Weg vor uns, was Gleichberechtigung und Diversity in der IT-Branche betrifft.

Trotzdem bist Du geblieben. Warum?

Es stellt sich immer die Frage, ob man geht und dazu beiträgt, dass weiterhin ein homogenes Bild vermittelt wird, oder ob man bleibt, um selbst das dahinterliegende Phänomen zu verstehen. Ich tendiere definitiv zu Letzterem. Wir müssen Unterschiedlichkeiten wirklich begreifen und auch bei Diversity-Themen unterschiedliche kulturelle und historische Kontexte berücksichtigen.

Du kommst zudem ursprünglich aus einer anderen Branche. Wie wirkte die Techwelt auf Dich aus Sicht einer Quereinsteigerin?

Deutschland ist eine antiquierte Industrienation mit einem Fetisch für so viele Bildungsabschlüsse wie möglich. Wenn etwas nicht zertifiziert ist, zählt es nicht. Das ist auch noch die Einstellung von vielen Arbeitgebern. Gleichzeitig beklagen diese sich über einen akuten Fachkräftemangel. Das passt meines Erachtens nicht zusammen.

Wie lässt sich diesem Bild entgegenwirken?

Um den Fachkräftemangel, insbesondere in der IT, zu bekämpfen, müssen Unternehmen sich gegenüber Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern öffnen, ihnen eine Chance geben und nicht zu kritisch sein. Gerade im digitalen Zeitalter werden Menschen immer häufiger unterschiedliche Karrieren im Laufe ihres Lebens ausprobieren. Es gibt nicht nur den einen geradlinigen Berufsweg, sondern auch ganz viele Abzweigungen. Eine Karriere bedeutet nicht zwangsläufig, dass ich immer weiter zu einem höheren Titel befördert werde. Stattdessen kann ich mich auch horizontal weiterentwickeln, indem ich intern die Abteilung wechsele und ein neues Projekt leite.

Inwieweit unterscheiden sich Konzerne und Start-ups im Umgang mit Diversity-Themen?

Wir müssen uns immer die Frage stellen: Warum beschäftigt sich eine Organisation mit Diversity? Bestehen interne Konflikte, die gelöst werden müssen? Denn Diversity bringt auch Komplexität mit sich und kann zu Reibung führen. Oder hängt es damit zusammen, dass es ein internationaler agierender Konzern ist, der bereits divers besetzt ist, aber nach außen hin nicht so auftritt? Oder möchten Arbeitgeber so dem Fachkräftemangel begegnen? Aus all diesen verschiedenen Gründen könnte eine Öffnung gegenüber anderen kulturellen Hintergründen oder Quereinsteigerinnen auf einmal von Interesse sein. Wenn ich mir jetzt den IT-Bereich näher ansehe, ist es so, dass Start-ups meistens schon auf Englisch sprechen und arbeiten. So ist es für sie zum Beispiel einfacher, ausländische Fachkräfte zu rekrutieren.

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Wie können dagegen mittelständische Unternehmen beim IT-Nachwuchs punkten?

Mittelständische Unternehmen haben es generell schwieriger, an IT-Talente zu kommen. Das Image ist nicht so hip und cool wie das eines Start-ups, das die modernsten Technologien verwendet und schnell wächst. Und es bietet auch nicht die Sicherheit und das Prestige wie die Arbeit in einem renommierten Konzern. Allerdings haben sich dem Mittelstand in der Vergangenheit auch einige Chancen geboten.

Welche zum Beispiel?

Die Belebung von Remote Work durch die Corona-Pandemie. Die Tech-Industrie ist noch eine der wenigen Industrien, die ein relatives Wohlstandsversprechen halten können. Sie bietet auch die Möglichkeit, in Teilzeit und ortsunabhängig zu arbeiten. Das könnten mittelständische Unternehmen besser nutzen, um potenzielle Bewerberinnen und Bewerber anzuziehen.

Was könnten Unternehmen in einem ersten Schritt genau tun, um diversere Nachwuchstalente für IT-Teams für sich zu gewinnen?

Sie können sehr viel im Recruiting optimieren. Das fängt schon bei einem selbstkritischen Blick auf der eigenen Karriereseite an. Wie sieht die Bildsprache aus? Entsprechen sie der gelebten Unternehmenskultur oder sind es nur irgendwelche Bilder aus dem Netz, die sich unter dem Schlagwort Diversity finden lassen? Aber auch die verwendete Sprache in der Stellenbeschreibung sollte hinterfragt werden. Fast-paced environment, Extrameile, Ninja oder Guru – das sind alles Wörter, die unterbewusst männlich konnotiert sind und dann Bewerberinnen abschrecken. Mit Gender Bias Decodern können Unternehmen ihre Stellenausschreibungen beispielsweise nach solchen Konnotationen durchsuchen, umwandeln und diesen Gender Bias entzerren.

Der Begriff „Future Skills“ ist in aller Munde. Was ist für Dich die wichtigste Zukunftsfähigkeit?

Data und AI Literacy. Jeder Mensch muss heute in der Lage sein, zu verstehen, welche Rolle Daten spielen, wie sie gesammelt und verwertet werden. Es braucht zudem ein genaueres Verständnis für Technologien. Was ist KI genau und wie grenzt es sich zum Beispiel von Machine Learning ab. Wir sollten uns auch die Grenzen von KI, die Chancen und die Gefahren verdeutlichen. Es ist ein Trugschluss, dass alle Menschen jetzt programmieren lernen müssen. Schon ein Grundverständnis der Materie reicht aus, damit ich über Abteilungen, Teams und Organisationen hinweg mit anderen Personen an technologischen Innovationen arbeiten kann und mit meiner individuellen Perspektive auch eine Bereicherung darstelle.

Auch in Deinem Buch FairTech betonst Du, dass wir KI-Debatten nicht nur den Technokraten überlassen dürfen. Wie können Arbeitgeber diese Fähigkeit bei ihren Mitarbeitenden schulen?

Da gibt es vielfältige Möglichkeiten. Sie alle hängen von den bestehenden Ressourcen der Unternehmen ab. In einem Konzern gibt es meist schon eine Learning- and Development-Abteilung. Innerhalb dieser kann ein Bereich etabliert sein, der Data and AI Literacy gewidmet ist. Grundsätzlich stellt sich die Frage: Können Unternehmen interne Ressourcen nutzen oder lagern sie diese aus? Für den Anfang würde ich empfehlen, mit einem externen Anbieter zusammen zu arbeiten, um schon einmal den Stein ins Rollen zu bringen. Unternehmen sollten sicherstellen, dass sie Workshops oder andere Weiterbildungen gut dokumentieren und sichern.

Du beschäftigst Dich schon seit vielen Jahren mit KI und Ethik. Was hat sich in den letzten drei Jahren in der Wahrnehmung von diesem Zusammenspiel verändert?

2023 war definitiv das Jahr für KI-Ethik. Mit dem Boom von ChatGPT und generativer KI gelangte KI plötzlich in das kollektive Bewusstsein. Die Einführung von ChatGPT war auch mein persönlicher IPhone-Moment der künstlichen Intelligenz. Jeder und jedem wurde schlagartig bewusst, welches disruptive Potenzial sich hinter ChatGPT oder anderen KI-Applikationen verbirgt. Menschen haben auf einmal gemerkt, dass KI nicht etwas Abstraktes, wie aus einem Science-Fiction-Film, ist. Und gleichzeitig haben wir gesehen, dass Open AI-CEO Sam Altman vor dem US-Komitee für die Regulierung künstlicher Intelligenz plädiert hat und Geoffrey Hinton, einer der größten Denker der KI-Gemeinschaft, seinen Beraterposten bei Google aufgegeben hatte. Er stand in einem moralischen Interessenkonflikt, wie er sagte. Denn er ist sich ziemlich sicher, dass KI ähnlich gefährlich wie atomare Waffen sein kann, wenn wir jetzt nicht richtig regulieren.

Du betonst zwar abseits dieser dystopischen Vorstellungen vehement die Chancen von KI für die Gesellschaft, warnst aber auch vor den Risiken wie der Untermauerung von sozialen Ungerechtigkeiten.

Ich bin definitiv optimistisch, was den Einsatz und die Möglichkeiten von KI angeht. Auch oder gerade, weil mir das Thema am Herzen liegt, mache ich auch auf die Missstände aufmerksam. Wir haben in technologischer Hinsicht rasante Fortschritte erzielt. Gleichzeitig sind gesellschaftliche und soziale Fragen auf der Strecke geblieben. Technologie tangiert uns jeden Tag. Daher ist es mir ein Anliegen, dass wir diese menschlicher, gerechter und inklusiver gestalten. Dafür braucht es Fair Tech! Es ist wie beim Fußballspiel: Gerade spielen alle Fußball. Aber es gibt keine Schiedsrichterin oder einen Schiedsrichter, der die Rote Karte hebt, wenn es nicht zum Fairplay kommt.

Über die Gesprächspartnerin:

Mina Saidze ist eine mehrfach ausgezeichnete KI-Expertin, Autorin und Gründerin. Sie gründete Inclusive Tech, europaweit die erste Lobby-und Beratungsorganisation für Diversity in Tech und KI-Ethik und schaffte es auf die Forbes 30 Under 30-Liste. Sie ist Autorin des Buches FairTech: Digitalisierung neu denken für eine gerechte Gesellschaft.

Über das Buch

Mina Saidze, FairTech. Digitalisierung neu denken für eine gerechte Gesellschaft. Quadriga Verlag, 20 Euro, 319 Seiten. Erschienen im Oktober 2023.

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Charleen Rethmeyer

Charleen Rethmeyer

Charleen Rethmeyer ist Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager. Dort absolvierte sie zuvor ebenfalls ihr Volontariat. Die Berlinerin hat einen Bachelorabschluss in Deutsche Literatur sowie Kunst- und Bildgeschichte und arbeitete mehrere Jahre freiberuflich für mehrere Berliner Verlage. Sie schreibt mit Vorliebe Features und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Zukunft der Arbeitswelt.

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