Waldemar Zeiler: Der Nachhaltigkeitsrebell

Future of Work

Mit fair produzierten Kondomen hat das Start‑up Einhorn eine Marktnische erobert. Heute ist das Sortiment weitaus größer. Mitgründer Waldemar Zeiler setzt sich für Nachhaltigkeit ein und fordert ein neues Wirtschaftssystem.

In der Antwortmail der Presseabteilung ist Waldemar Zeiler direkt in Kopie. Die Terminfindung übernimmt der Geschäftsführer kurzerhand selbst, ganz unkompliziert und ohne zwischengeschaltete Assistenz. Diese Lässigkeit unterscheidet den Start-up-Unternehmer von anderen. Auch sonst herrscht im virtuellen Gespräch eine lockere Atmosphäre. Der Wahlberliner bietet zum Einstieg das Du an – es sei denn, das Magazinformat erfordere vielleicht das Sie. Er sitzt im Homeoffice, trägt trotz frühlingshafter Temperaturen eine Mütze. Kopfbedeckungen wie diese oder auch Caps sind sein Markenzeichen geworden. Auf kaum einem Bild ist er ohne sie zu sehen.

Der 39-Jährige, in Kasachstan geboren und am Bodensee aufgewachsen, hatte schon in jungen Jahren ambitionierte Ziele. Sein Bestreben im Alter von 20 Jahren war, mit 30 Millionär zu sein. Wenn auch etwas später, er hat er sein Ziel erreicht. Zumindest auf dem Papier. Sein Unternehmen Einhorn hat mit der Produktion und dem Vertrieb von Untenrumprodukten längst die Millionenmarke geknackt. Rückblickend findet Zeiler sein Vorhaben jedoch relativ naiv formuliert: „Für jemanden, der gerade Abitur gemacht hat, war dieses Ziel gar nicht fassbar.“ Doch zu diesem Zeitpunkt ist er einfach einem klassischen Erfolgsmodell gefolgt. Auf dem Markt gab es viele Bücher und Beispiele, die Geld als Währung von Erfolg beschrieben haben. Und die nötige Punktzahl, die es dafür brauchte, sei die Million gewesen. Erst dann habe jemand zu den erfolgreichen Unternehmern oder Gründerinnen gehört. Diese damalige Mentalität hatte er übernommen. Dabei ist er kein materialistischer Typ, wie er sagt. Teure Autos oder andere Luxusgüter bedeuten ihm nichts. Was treibt ihn also sonst an?

Zeiler studierte International Business in Maastricht. Viele Jahre hat er krampfhaft versucht, reich zu werden. Vor Einhorn war er an sieben Firmengründungen beteiligt, die fast alle in den Sand gesetzt wurden. Mit seinem ersten Unternehmen hat er Anschreiben und Lebensläufe für andere kreiert. Danach folgten Gründungen mit Venture Capital in Millionenhöhe. Jedes Scheitern hatte ein paar Lektionen für ihn parat. Der Wunsch, noch einmal etwas ganz anderes zu machen, entstand während seiner dreieinhalbjährigen Tätigkeit bei einem seiner letzten Start-ups Digitale Seiten. Eine Anhäufung von unterschiedlichen Frustrationen kam zusammen, hinzu das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Unternehmertum ist zwar reich an Facetten, meistens geht es jedoch um Kapitalmehrung. „Für andere aus einem Euro zehn zu machen, dabei vielleicht nicht mehr in den Spiegel schauen zu können, darauf hatte ich keinen Bock mehr“, sagt er. Er war nah am Burn-out. Sein Unternehmersein fühlte sich nach ständigem Scheitern an. Das Angestelltendasein war keine Alternative. Frühere Jobs hatte er meist nach wenigen Monaten beendet oder ihm wurde gekündigt. Es folgte eine tiefe Sinnkrise. Zeiler zog sich ein Jahr zurück, begab sich auf eine Reise durch Südamerika – und befasste sich gedanklich damit, ob Wirtschaft überhaupt fair und nachhaltig sein kann.

Einhorn für untenrum

Kurz vor seiner Auszeit lernte er Philip Siefer kennen, der sich gerade mit ähnlichen Fragen auseinandersetzte. Gemeinsam gründeten sie später das Labor Einhorn. Sie wollten sich ausprobieren und herausfinden, wie Wirtschaft anders funktionieren kann – ohne Kompromisse. Beide haben nach einem Produkt gesucht, an dem sie nachhaltiges und faires Wirtschaften durchexerzieren können. Kondome erwiesen sich dafür als passend. Die Gründe: Sie sind leicht, verfügen über eine hohe Marge und haben geringe Rücksendequoten. Ihre Hauptzutat ist Naturkautschuk und die Herstellung unkompliziert. Anecken wollten beide mit der Produktwahl auch ein wenig, vor allem aber einem Medizinprodukt mit Tabufaktor ein cooles Image verpassen. „Wir lieben das Provokative und können Produkte gut enttabuisieren“, sagt Zeiler. Primär ging es ihnen bei dem Vorhaben darum, Werte festzulegen und beizubehalten, um nicht auf alte Pfade zu kommen. Sie setzten sich damit auseinander, wie sie ein Unternehmen führen wollen und worauf es ihnen bei Produkten ankommt. Das Labor machten sie von Anfang an transparent. Den Wertschöpfungsprozess und die Lieferketten nahmen sie auseinander wie bei der Sendung mit der Maus. So konnten sie feststellen, wo Ungerechtigkeiten vorkommen. Diese Transparenz ist Teil der Erfolgsstory von Einhorn.

Das Unternehmen startete 2015 mit veganen und nachhaltigen Kondomen. Die Erstfinanzierung erfolgte über eine Crowdfunding-Kampagne. Zeiler war wichtig, dieses Mal keine Investoren an Bord zu haben – der unternehmerischen Freiheit wegen. Die Teilnahme bei der Fernsehsendung Höhle der Löwen war seinerzeit eher eine PR-Maßnahme. „Wir riefen eine hohe Bewertung auf, um sicherzugehen, dass niemand zuschlägt“, sagt Zeiler. Auch die RTL2-News berichteten. Millionen von Zuschauern kannten die Marke von heute auf morgen. Heute umfasst das Sortiment von Einhorn neben Kondomen auch Periodenprodukte wie Menstruationstassen, Tampons und Binden. Die Produkte werden in Supermärkten und Drogeriefilialen verkauft. Der Umsatz lag im Jahr 2020 bei über sechs Millionen Euro. Die Belegschaft umfasst 25 Beschäftigte.

Die Finanzwelt bezeichnet Start-ups, die vor ihrem Börsengang über eine Bewertung von mehr als einer Milliarde US-Dollar verfügen, als Einhorn – im Englischen Unicorn. Mit diesem Begriff spielen die beiden Gründer. Zeiler geht es nicht um eine derartige Bewertung, sondern um die Aufmerksamkeit, die Milliarden bewertete Unternehmen bekommen. Er möchte, dass Großunternehmen das Social-Start-up Einhorn zum Vorbild nehmen: Zwei Personen bauten eine große Firma auf – und das nach fairen und nachhaltigen Standards.

Nachhaltigkeit spielt bei Einhorn eine große Rolle. Für das sogenannte Fairstainability-Team ist knapp ein Viertel der Belegschaft abgestellt. Die Rohstoffe aus regenerativen Agroforstsystemen – also der Kombination aus Ackerbau und Tierhaltung mit Forstwirtschaft – bezieht das Unternehmen über eine Kooperative von Kleinlandwirten in Thailand. Die Kooperative hat das Team vor Ort selbst mit aufgebaut. Auch sonst läuft im Hause Einhorn einiges anders: keine Hierarchien, niemand ist weisungsgebunden, alle arbeiten selbstbestimmt. Dafür haben die Gründer vor einigen Jahren eine Vereinbarung mit ihrer Belegschaft getroffen und ihre Entscheidungshoheit abgegeben. „Führung ist eine Rolle, die sich wandeln kann“, sagt Mitgründer Zeiler. Einhorn ermöglicht flexible Arbeitszeiten, selbstbestimmten Wechsel von Teil- zu Vollzeit und andersherum sowie unbeschränkten Urlaub. Werdende Eltern erhalten automatisch eine Gehaltserhöhung von 400 Euro netto. Damit will das Social-Start-up insbesondere Frauen einen Anreiz bieten, im Job zu bleiben. Schließlich verdienen Männer oftmals besser und gehen daher seltener in Elternzeit.

Die Wirtschaft unfucken

Mit seinem Buch Unfuck the Economy setzt sich Zeiler für eine neue Wirtschaft ein. Er stellt den Ansatz Shareholder Value Only infrage, bei dem die Steigerung von Aktienerträgen im Vordergrund steht – oft zulasten der Menschen und zu miserablen Arbeitsbedingungen. Ein Grund, warum sich die beiden Gründer selbst enteignet haben. 99 Prozent der Unternehmensanteile liegen in einer Stiftung: Die Stimmrechte hält zu 99 Prozent das Unternehmen, zu einem Prozent die Stiftung. So kann das Unternehmen weder verkauft werden, noch lassen sich Gewinne für persönliche Zwecke entnehmen. Der Unternehmenszweck bleibt dauerhaft verankert. Die Idee einer Stiftungslösung ist nicht neu. Auch andere Betriebe nutzen das Prinzip. Bei Einhorn entscheiden seither Beschäftigte über das Unternehmen. „Die Früchte der Arbeit werden besser verteilt unter denjenigen, die sie erarbeiten“, sagt Zeiler. Mit der Initiative Stiftung Verantwortungseigentum fordern er und andere eine neue Rechtsform für Unternehmen, eine Gesellschaft mit gebundenem Vermögen. Wenn ein Unternehmen allen gehöre, gebe es weniger egoistisches Verhalten. Auch die Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich würden dadurch geringer.

Die Gründer des Berliner Social- Start-ups Einhorn, Waldemar Zeiler (links) und Philip Siefer, verzichten auf Hierarchien im Unternehmen: Niemand ist weisungsgebunden. Foto: © Verena Brandt

Arbeit soll sich stärker an den Bedürfnissen der Menschen orientieren, appelliert Zeiler. Damit sich das kapitalistische System dahingehend ändere, brauche es eine grundlegende Veränderung des Systems. Er erinnert an den Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch vor einigen Jahren, bei dem mehr als tausend Menschen starben. Am Ende habe niemand dafür bezahlt, obwohl Unternehmen durch günstige Einkaufspreise jahrelang von den Billiglöhnen der Arbeiterinnen und Arbeiter vor Ort profitierten. Zeiler erwartet von der Politik deutlich bessere Rahmenbedingungen – auch damit Start-ups und diejenigen, die es besser machen wollen, nicht benachteiligt werden. „Das System wird gegen die Wand fahren. Die Frage ist nur, ob wir vorher noch abbiegen“, sagt Zeiler. Abbiegen sei besser als der Aufprall.

Um wirklich am System zu rütteln, dafür müsste er noch viel radikaler sein und sich stärker zu einem Rebellen entwickeln, findet er. Aber das sei gar nicht so einfach. Auch er muss sich aus dem Umfeld, in dem er sozialisiert wurde, befreien. Es ist nicht leicht, Fehler in einem System zu erkennen, in dem man aufgewachsen ist. Von dem Millionärsziel seines jüngeren Ich hat Zeiler sich längst verabschiedet. Dieser Traum bedeute ihm nichts mehr. Durch Einhorn habe er gemerkt, was ihm wirklich wichtig ist. Erfolg macht er heute daran aus, komplette Freiheit über sein Leben zu haben und nur das zu tun, was er machen möchte – ohne finanzielle Abhängigkeiten.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Rebellion. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sven Lechtleitner, Foto: Privat

Sven Lechtleitner

Journalist
Sven Lechtleitner ist freier Wirtschaftsjournalist. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule in Berlin absolviert. Von November 2020 bis Juli 2022 war er Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager.

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