Die Arbeit ist tot, es lebe der Sinn

Rezension

Keine Frage, es ist paradox. Einerseits wabert durch unsere Gesellschaft die Furcht, die fortschreitende technologische Entwicklung werde immer mehr Arbeitsplätze obsolet machen. Andererseits wünschen sich die meisten Menschen genau das: Mehr Freizeit und Freiheit vom täglichen Tun, während unsere Wirtschaft quasi automatisch am Laufen gehalten wird. Zur selben Zeit verlangen Arbeitgebervertretungen mit Blick auf ein dysfunktionales Rentensystem den Ruhestand ab 70 Jahren und der Bundesfinanzminister wirbt für freiwillige Überstunden, indem er an den Solidaritätsgedanken aller Berufstätigen appelliert.

Hier liegt etwas im Argen. Genau dieser Schieflage hat sich der prominente Philosoph und Autor Richard David Precht in seinem neuen Buch von gut 500 Seiten gewidmet. Und das hat es in sich. Precht spannt im essayistischen Stil einen großen Argumentationsbogen. Die locker geschriebenen und sich aus vielfältigen Quellen speisenden Kapitel bauen aufeinander auf. Am Anfang steht die Frage, was Arbeit – genauer: Erwerbsarbeit – eigentlich ist. Arbeitet der Philosoph, wenn er ein Buch schreibt? Die Drogendealerin, wenn sie Suchtmittel verkauft? Ist es Arbeit, als Kanzler das Land zu führen? Precht durchstreift definitorische Irrungen, geht den Fragen nach, warum wir uns so stark über unsere Arbeit identifizieren („Ich bin Journalistin.“) und welcher Wert der Arbeit in verschiedenen Epochen, Kulturen und Religionen beigemessen wurde – von der Geringschätzung der praktischen Tätigkeiten in der Antike bis hin zur christlich konnotierten Verteufelung des Müßiggangs.

Precht bemüht Denker von Karl Marx über Oscar Wilde bis hin zu zeitgenössischen Theoretikerinnen wie Lisa Herzog. Dabei skizziert er eine Metamorphose von der Arbeits- zur Sinngesellschaft – in der übrigens nicht mehr jede Arbeit wünschenswert ist. So fragt Precht beispielsweise rhetorisch, wie hoch Arbeitsplätze zu bewerten seien, die mit einem erheblichen Raubbau an der Natur einhergehen. All seine Argumente münden in einem nüchternen Schluss: Unsere Arbeitsgesellschaft hat in ihrer aktuellen Form keine Zukunft! Aber diese Erkenntnis ist für ihn mitnichten eine Katastrophe, sondern ein Fortschritt – wenn man den Systemumbau zu händeln weiß.

Das Flickschustern am System

Und genau hier diagnostiziert Precht die Schwachstelle: Die Reaktionen aus Gewerkschaften und den politischen Lagern – allen voran die im Buch vielfach gescholtene und als gestrig abgestempelte Sozialdemokratie – sind auf die aktuelle Lage kaum abgestimmt. Sie klammern sich an einem Bild der Arbeiterklasse fest und flickschustern mit anwachsender Not an einem System herum, das sich längst selbst überholt hat. Precht führt dafür Beispiele an, beißt sich beinahe genussvoll in den Unzulänglichkeiten fest und spart auch nicht mit Spott über diejenigen, die sich selbst als progressiv empfinden. Den maßvollen Stellschräubchen, an denen hier und da zu drehen aufgefordert wird, um unsere Arbeitswelt zu modernisieren, kann er nichts abgewinnen.

So enttarnt er den unpolitischen Charakter von Frithjof Bergmanns New-Work-Predigten. Die Visionen dieses 2021 verstorbenen Sozialphilosophen und Anthropologen passten zwar gut in die Zeit des digitalen Umbruchs. „Zugleich aber sind die Bonmots auf bestechend harmlose Weise unpolitisch“, lautet Prechts Urteil. Mit Linkedin-tauglichen Phrasen über einen uns allen innewohnenden Drang zu arbeiten und zu gestalten, gibt er sich nicht zufrieden. Der Philosoph Precht wird politisch. Er will den großen Wurf, eine Revolution. Dafür hat er im letzten Buchdrittel einen konkreten Vorschlag auf Lager. Alle argumentativ sorgsam gespannten Fäden scheinen in einer Lösung zusammenzulaufen: dem Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Und zwar nicht in der Light-Version von monatlich 1.000 Euro, die der Verein Bedingungsloses Grundeinkommen auszahlt.

Nein: Precht spricht sogar von rund 1.500 Euro im Monat, die allen Erwachsenen zukommen sollen, ob sie nun arbeiten oder nicht. Die Sinngesellschaft – ein Begriff, den einst der Medien- und Kommunikationstheoretiker Norbert Bolz prägte – würde das zum Prosperieren bringen, das leidige Umlagesystem für Renten würde überflüssig und der Niedriglohnsektor wäre passé. Precht hat allerlei Begründungen auf Lager, warum ungeliebte Tätigkeiten auch weiterhin erledigt würden, und auch für die Finanzierung macht er Vorschläge. Doch diese sind höchst vage. Den hohen Maßstäben, anhand derer er die Argumente anderer zuvor bemessen hat, wird er nun selbst nicht gerecht. So bleibt er Antworten schuldig, wie sich Deutschland ohne Mitziehen anderer Länder auf das BGE-Parkett begeben könnte, ohne global benachteiligt zu sein. Er driftet hier und da ins Spekulative. Und obwohl er zuvor mit Verweis auf Gewerkschaften und Politik immer wieder gemahnt hat, ökonomische Annahmen seien niemals Naturgesetzlichkeiten, verfällt er hier selbst ins Dogmatische.

Revolution statt Feinjustierung

Das Gute: Man muss diesen Schritt nicht mit ihm gehen, um der Lektüre etwas abgewinnen zu können. Auch muss man seine teils holzschnittartig gezeichneten Feindbilder – zum Beispiel von der schädlichen Finanzindustrie – nicht teilen. Das Buch vermag dennoch aufzurütteln: Unsere Arbeitswelt braucht eher eine Revolution statt eine Feinjustierung. Und wir müssen systemisch denken, anstatt Einzelmaßnahmen für Bildung, Erwerbsarbeit und Rente zu ersinnen. Dafür macht Richard David Precht Vorschläge, statt Gefälligkeiten zu liefern.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Grenzen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Anne Hünninghaus, Foto: Jana Legler

Anne Hünninghaus

Anne Hünninghaus ist Journalistin und Redakteurin bei Wortwert. Sie war von Januar bis Oktober 2019 Chefredakteurin i. V. des Magazins Human Resources Manager. Zuvor arbeitete die Kultur- und Politikwissenschaftlerin als Redakteurin für die Magazine politik&kommunikation und pressesprecher (heute KOM).

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