Herr Hayer, was ist der Unterschied zwischen Spiel und Glücksspiel?
Tobias Hayer: Fangen wir bei der einzigen Gemeinsamkeit der beiden Begriffe an, dem Wortstamm Spiel. Danach könnten beide Wörter kaum konträrer sein. Während das kindliche Spiel eindeutige Regeln, einen klaren Spielanfang sowie oft auch ein eindeutiges Spielendende aufweist und man in eine Als-ob-Realität eintaucht, geht es beim Glücksspiel immer um Geld. Man kann schlichtweg real sehr viel verlieren.
Geldgewinne sind also die Attraktion beim Glücksspiel?
Das ist korrekt. Ohne die in Aussicht gestellten Geldgewinne funktioniert das Glücksspiel nicht. Wer würde noch Lotto spielen, wenn es keinen Jackpot zu gewinnen gäbe? Und für eine Spielteilnahme ist der Geldeinsatz halt notwendige Voraussetzung. Gerade deswegen gehen Glücksspiele mit Suchtgefahren und Risiken der Verschuldung einher. Man spricht in diesem Fall auch von einem demeritorischen Gut, also einem an sich unerwünschten Gut ohne nachhaltige Wertschöpfung. Ganz im Gegenteil, zumindest gewisse Glücksspielangebote verursachen für die Gesellschaft mehr Schaden als Nutzen.
Was genau beschreibt die Diagnose Glücksspielsucht?
Für lange Zeit war die Glücksspielsucht in den gängigen Klassifikationsmanualen als Impulskontrollstörung gelistet, neben beispielweise der Kleptomanie, dem pathologischen Stehlen oder der Trichotillomanie, dem zwanghaften Ausreißen von Haaren. Die Forschung hat dann irgendwann dazu beigetragen, dass man die Glücksspielsucht als Suchtstörung re-klassifiziert, da die Risikofaktoren, die Symptomatik, die Phänomenologie, die Entwicklungsverläufe und auch die Behandlungsansätze im Prinzip ähnlich bis identisch sind mit anderen Suchterkrankungen. Nun befindet sie sich auf einer Ebene mit den stoffgebundenen Suchterkrankungen, wie der Alkohol- oder Nikotinabhängigkeit. Die Glücksspielsucht ist quasi eine Sucht ohne Stoff. In Maßen ist es natürlich nicht schädlich, am Glücksspiel teilzunehmen. Es kann aber sein, dass das Zocken schrittweise intensiviert wird, vor allem wenn man entsprechende Summen gewinnt oder seinen Verlusten hinterherjagt und dann eben anfängt, riskanter und regelmäßiger zu spielen. Zunehmend wird Geld aufs Spiel gesetzt, das eigentlich für andere Dinge vorgesehen war. Spätestens wenn die Sparschweine der eigenen Kinder geplündert werden, beginnt auch das schlechte Gewissen zu wachsen. Doch trotz Scham- und Schuldgefühlen zockt man im Rausch, immer mit dem Gedanken, dass der große Gewinn irgendwann eintreffen wird. Entsprechend nimmt das Glücksspiel einen immer größeren Teil des Lebens der Betroffenen ein. Schlussendlich kommt es zum Kontrollverlust: Das Glücksspiel beherrscht die Lebensführung und nicht umgekehrt. Dann wird nicht mehr aus Spaß gezockt, sondern weil man süchtig ist.
Mit welchen Folgen?
Allem voran Beschaffungsdelinquenz, sobald das Geld knapper wird. Ein bekannter Trick, sich zu helfen, ist zum Beispiel das Anbieten von nichtexistierenden Produkten auf Ebay. Oder auch der Griff in die Kasse am Arbeitsplatz oder die Veruntreuung von Kundengeldern in Finanzunternehmen. Dann kann die Privatinsolvenz folgen, begleitet von zerrütteten Ehen, Familien und Freundschaften. Das pathologische Glücksspiel führt aufgrund dieser existenzbedrohenden Eigenschaften auch nicht selten zu Suizidgedanken und versuchten oder vollendeten Suiziden.
Wer ist besonders gefährdet?
Aktuellen Schätzungen zufolge gibt es 1,3 Millionen Glücksspielsüchtige in der Bundesrepublik. Unter den verschiedenen Berufsgruppen scheinen Menschen besonders gefährdet zu sein, die im Transportwesen arbeiten. Denn sie sind mobil, haben Kleingeld in der Tasche und müssen sich auf Park- und Rastplätzen irgendwie die Zeit vertreiben. Geldspielautomaten, wie sie oft in Autobahnnähe auffindbar sind, dienen da als Ablenkung von der Monotonie des Jobs. Auch überproportional häufig betroffen sind die Servicekräfte selbst, die in Spielhallen arbeiten. Sie bleiben am Reiz des großen Gewinnes und den bunten Lichtern der Automaten kleben, obwohl gerade sie die Negativfolgen des Glücksspieles jeden Tag vor Ort beobachten können. Im Allgemeinen kann aber jede Person dem Reiz des Gewinns dauerhaft verfallen.
Kann das Arbeitsumfeld die Sucht verschlimmern oder gar hervorrufen?
Per se lässt sich das nicht klar feststellen, aber natürlich gibt es Risikofaktoren, die durch den Arbeitsplatz verstärkt werden könnten. Ein Faktor ist beispielsweise Stress, der unter anderem auch durch den Berufsalltag verursacht werden kann. Glücksspielsüchtige scheitern an einer angemessenen Stressbewältigung und lenken sich in der Automaten kleben, obwohl gerade sie die Negativfolgen des Glücksspieles jeden Tag vor Ort beobachten können. Ein Faktor ist beispielsweise Stress, der unter anderem auch durch den Berufsalltag verursacht werden kann. Glücksspielsüchtige scheitern an einer angemessenen Stressbewältigung und lenken sich in belastenden Situationen mit Glücksspiel ab. Am Automaten kann dann jegliche Belastung einfach weggedrückt werden. In der Psychologie nennen wir das negative Verstärkung: Man kehrt immer wieder zum Spiel zurück, um all dem Unangenehmen des Alltags aus dem Weg zu gehen. Auch Über- oder Unterforderung, Langeweile oder fehlende Selbstwirksamkeitserlebnisse können ein Suchtgeschehen bedingen und sind häufig gleichfalls die Ursache für Rückfälle von Suchterkrankten.
Gibt es erkennbare Warnhinweise am Arbeitsplatz?
Ein eindeutiges Anzeichen ist beispielweise, wenn eine Person ständig mit Glücksspielgewinnen prahlt, jedoch auch immer wieder nach Geld fragt, mehr Gehalt oder vorgezogene Gehaltszahlungen fordert. Oder natürlich die permanent offene Website für Online-Wetten oder andere Arten des Online-Glücksspiels. Dann gibt es weniger eindeutige Symptome wie Stimmungsschwankungen, Müdigkeit oder sich häufendes Zuspätkommen. Aufgrund von Geldsorgen, aber auch, weil sie so viel Zeit mit Glücksspiel verbringen, werden viele Betroffene am Arbeitsplatz zunehmend unkonzentrierter und vernachlässigen soziale Interaktionen. Aber all das kann auch aufgrund anderweitiger Belastungen in Erscheinung treten, ist also kein klares Indiz für Glücksspielsucht.
Ist die Glücksspielsucht generell besonders schwer festzustellen?
Auf jeden Fall, nicht umsonst wird sie auch die „heimliche Sucht“ genannt. Auch Betroffene anderer Süchte können ihr Krankheitsbild unter Umständen lange verheimlichen, doch während Menschen mit Alkoholsucht möglicherweise torkeln oder eine Fahne haben und Cannabiskonsum an der veränderten Pupillengröße sichtbar sein kann, gibt es bei der Glücksspielsucht keine eindeutigen Symptome. Die Früherkennung von außen ist auch bei anderen Suchterkrankungen schwierig, bei der Glücksspielsucht ist sie jedoch fast unmöglich. Hinzu kommt, dass viele Süchtige besonders gut schauspielern können.
Wie kommt das?
Erkrankte führen oft ein Doppelleben. Sie fangen an zu lügen und bauen eine immer komplizierter werdende Geschichte auf, warum sie jetzt gerade so viel Geld brauchen. Sie werden kreativ und umtriebig, und es scheint in vielen Fällen zu gelingen, den Kopf immer wieder aus der Schlinge zu ziehen. Doch auf das High der ersten Gewinne folgen die Verluste, und auf die Geldnot und das Erschwindeln folgen Scham, Selbstzweifel und Schuld.
Was können Arbeitgeber für Erkrankte tun?
Allem voran sich zum Thema sensibilisieren und Mitarbeitende und Führungskräfte aufklären: Glücksspielsucht ist eine psychische Störung und tritt gar nicht so selten auf. Und um jeglicher Krankheit vorzubeugen, egal ob psychischer oder physischer Natur, müssen Arbeitsplätze so gestaltet werden, dass sie gesundheitsfördernd und nicht gesundheitsschädigend sind. Ein Wohlfühlfaktor am Arbeitsplatz immunisiert gegen ganz viele psychische Erkrankungen. Außerdem sollte es im Unternehmen klare Regeln in Bezug auf Suchterkrankungen geben – beispielsweise wie reagiert wird, wenn jemand betrunken zur Arbeit kommt oder während der Arbeitszeit zockt. Vorbeugend kann es hilfreich sein, auf allen Arbeitsrechnern Schutzsoftware zu installieren.
- Wenn Arbeit süchtig macht
- Sucht am Arbeitsplatz: Das Gespräch suchen – aber richtig
- Darf der Arbeitgeber Gesundheitsdaten einsehen?
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Spielen. Das Heft können Sie hier bestellen.