Seit Jahren betont die Forschung, dass die Intuition im Recruiting nichts zu suchen hat. Dennoch spielt sie in der Praxis immer noch eine wichtige Rolle. Nicht wenige Führungskräfte und Personaler hören bei der Personalauswahl auch auf das, was man Bauchgefühl nennt. Zwei Meinungen.
Nein, meint Uwe P. Kanning. Er is Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück.
Ja, meint Sven Zeising. Er ist globaler HR Business Partner & Head der Business Unit Animal Health bei Bayer.
Personalentscheidungen lediglich auf Basis von Fakten zu treffen, wäre zu eindimensional, sagt Sven Zeising.
Sven Zeising, Foto: Privat
Kennen Sie die Situation? Sie interviewen eine Kandidatin kompetenzbasiert. Die Kandidatin beantwortet alle Fragen gut und mit Substanz. Sie zeigt, dass sie die definierten Anforderungen an die Position voll ausfüllt. Trotzdem hinterlässt die Dame ein „Geschmäckle“. Eine Ahnung, die sie als HRler auch nicht unmittelbar rational begründen können. Passt die neue Kollegin wirklich ins Team? Sie hadern.
Und dann die Realität. Der Zeitdruck für die Besetzung ist groß und der verantwortliche Manager möchte diese Kandidatin unbedingt einstellen. Fakten gegen Gefühl. Je nach Unternehmenskontext wird es nun schwer für Sie, gute Argumente zu finden. Was ist das Primat Ihrer Entscheidung: Verstand oder Intuition? Hilft ja nichts, wir brauchen eine Entscheidung. Sie vernachlässigen Ihre Spiegelneuronen und entscheiden sich gemeinsam für die Einstellung der Kandidatin.
Und dann: Schon zu Beginn des Einstellungsprozesses ruckelt es. Der Vertrag wird inhaltlich immer wieder filetiert, das Vertrauen fehlt. Auch das Onboarding verläuft nicht rund. Es passt einfach nicht. Es kommt zur vorzeitigen Trennung. Nicht nur ärgerlich, sondern auch sehr kostenintensiv.
Ist Ihnen das Phänomen bekannt? Nicht nur als HRler begegnet uns Intuition immer wieder. Sie ist wichtig für uns und zeichnet uns als gute HRler aus. Intuition ist ein unmittelbares, nicht auf reflektierendes Denken gegründetes Erkennen. Sie wird auch beschrieben als innere Stimme, Eingebung oder unser Bauchgefühl. Sie wird immer wieder in Verbindung gebracht mit Erfahrungswissen, ist aber mehr als das. Sie wird erklärt durch somatische Marker, Spiegelneuronen und unbewusste Wahrnehmung. Intuition durchdringt alle Bereiche unseres Lebens, doch oft wagen wir nicht, auf unsere Intuition zu hören. Denn wer seiner inneren Stimme folgt, muss Kontrolle und exakte Planbarkeit aufgeben, an die sich unser Verstand klammert. Intuitionen basieren zwar auch auf Emotionen, gehen jedoch weiter. Es geht um Informationen, die nur nicht sofort und bewusst abgerufen werden können. Im Unterbewusstsein verfügen wir über einen gigantischen Pool an Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen. Nur ein Bruchteil dieser angeeigneten Kenntnisse ist aber bewusst verfügbar.
Was heißt das für die Personalauswahl? Die Mischung macht’s. Warum nicht beide Spieler des eigenen Teams nutzen: den sensiblen Gefühls-Seismographen und den ankopplungsfähigen rationalen Entscheider, der seine Entscheidungen auf Basis belastbarer Fakten fällt?
Aber wie umsetzen? Zuallererst ist es kritisch, die Intuition in der Personalauswahl als eine solche wahrzunehmen und diese von typischen Beurteilungsfehlern, von Wünschen und Voreingenommenheit zu trennen. Der zweite Schritt besteht in der Analyse der eigenen Intuition: Woher kommt meine Reaktion und wofür könnte sie hilfreich sein? Aber aufgepasst: Das erfordert Training. Die Reaktion auf das Geschehene wird sehr schnell von kognitiven Prozessen überlagert, die dazu führen, dass wir unser Bauchgefühl wieder verlassen und nicht ernst nehmen. Der letzte Schritt führt zur Entscheidung. Jedoch auf Basis mehrerer Dimensionen: Nicht nur Fakten, sondern auch Gefühle sollten in der Personalauswahl ausgewogen berücksichtigt werden. Je seniorer beispielsweise in der Hierarchie besetzt wird, desto mehr Gewicht sollte dem Bauchgefühl gegeben werden, da hier Kompetenzen tendenziell zu Hygienefaktoren werden.
Personalentscheidungen nur intuitiv zu treffen, wäre genauso eindimensional wie ausschließlich auf Basis von Fakten zu entscheiden. Daher sollten wir unsere Entscheidungsmöglichkeiten auf Basis der zusätzlichen Perspektive, unserer Intuition, zumindest noch einmal betrachten und überdenken.
Seit Jahren betont die Forschung, dass die Intuition im Recruiting nichts zu suchen hat. Dennoch spielt sie in der Praxis immer noch eine wichtige Rolle. Nicht wenige Führungskräfte und Personaler hören bei der Personalauswahl auch auf das, was man Bauchgefühl nennt. Zwei Meinungen.
Ja, meint Sven Zeising. Er ist globaler HR Business Partner & Head der Business Unit Animal Health bei Bayer.
Nein, meint Uwe P. Kanning. Er is Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück.
Intuition kann keinen wertvollen Beitrag zur Qualität der Auswahlentscheidungen leisten, sagt Uwe P. Kanning
Uwe P. Kanning, Foto: Privat
Pro Jahr erscheinen mehr als 700 wissenschaftliche Publikationen zum Thema Personalauswahl, von denen so gut wie nichts in der Praxis ankommt. Hinweise darauf, dass Intuition einen wertvollen Beitrag zur Qualität der Auswahlentscheidungen leisten könnte, wird man hier vergeblich suchen. Im Gegenteil, seit vielen Jahren zeigt die Forschung, dass die Validität der Auswahlverfahren ansteigt, wenn wir den Einfluss von Bauchgefühl und Menschenkenntnis zurückdrängen. Beispielsweise können sehr hoch strukturierte Einstellungsinterviews den beruflichen Erfolg um ein Vielfaches besser prognostizieren als die in Deutschland so beliebten Vorstellungsgespräche. Zudem zeigen viele Studien, dass Bewerber in systematischer Weise falsch beurteilt werden, wenn die Verantwortlichen ihren Eingebungen folgen: Gut aussehende Bewerber erscheinen besonders klug und sozial kompetent, Übergewichtige als wenig leistungsmotiviert und Menschen mit Migrationshintergrund oder sächsischem Akzent als leistungsschwach. Der heute oft thematisierte „Mangel“ an weiblichen Führungskräften hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Entscheidungsträger bei der Besetzung von Führungspositionen gering strukturierte Verfahren bevorzugen und sich dabei – ohne es zu merken – an stereotypen Bildern einer Führungskraft orientieren.
Im positiven Sinne bedeutet Intuition, dass wir komplexe Aufgaben schnell und richtig lösen, ohne selbst erklären zu können, wie wir zu der Lösung gelangt sind. Intuition ist keine Gabe, sondern das Ergebnis intensiver Lernprozesse, die zu automatisierten Entscheidungen führen. Wer in seinem Leben schon hundertmal vielbefahrene Straßen überquert hat, kann intuitiv einschätzen, wann der richtige Zeitpunkt ist, loszugehen. Der zugrunde liegende Lernprozess setzt allerdings ein klares Feedback voraus und genau hier liegt das Problem derjenigen, die Personalauswahl betreiben. In ihrem Alltag gibt es kein aussagekräftiges Feedback. Beispielsweise erfährt kein Entscheidungsträger, wie viele sehr gute Bewerber durch fehlerhafte Sichtung der Bewerbungsunterlagen abgelehnt wurden. Auch erfährt er niemals, dass ein nach dem Interview abgelehnter Bewerber 20 Prozent mehr Leistung gebracht hätte als der ausgewählte Kandidat. Nur bei einer massiven Fehlentscheidung, die zum Beispiel zu einer Entlassung führt, gibt es ein klares Feedback. Derartige Fehlentscheidungen sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Erfahrung führt in der Personalauswahl nicht automatisch zu Expertise oder gar Intuition. Leider kann man jahrelang schlechte Personalauswahl betreiben, ohne etwas lernen zu müssen.
Der unerschütterliche Glaube an die eigene Intuition liefert nicht die Lösung, er ist der Kern des Problems. Weil viele Entscheidungsträger ihre diagnostischen Fähigkeiten stark überschätzen, schöpft die Praxis die Potenziale professioneller Personalauswahl bei weitem nicht aus und hinkt in vielen Unternehmen Jahrzehnte hinter den Erkenntnissen der Forschung hinterher.