Seit rund zwei Jahren steht unsere berufliche und private Welt auf dem Kopf. Was macht ein epochales Ereignis wie die Corona-Pandemie mit uns? Steigt das Bedürfnis nach Sicherheit im Job – oder die Lust an der Neuausrichtung, auch wenn damit ein Risiko einhergeht? Eine erste Antwort auf diese Fragen gibt der dynamische und im Gegensatz zum hiesigen oft volatilen Arbeitsmarkt der USA schon jetzt: Die Great Resignation genannte riesige Kündigungswelle, deren Name aus gutem Grund doppeldeutig zu verstehen ist und die wie ein Tsunami durchs Land rollt, stellt ganze Branchen vor strukturelle Probleme. Worauf aber müssen sich Arbeitgeber im deutschsprachigen Raum einstellen? Droht uns auf einem sowieso schon angespannten Arbeitsmarkt, auf dem überall Fachkräfte fehlen und in dem eine Rekordzahl an Stellen unbesetzt ist, eine ähnliche Entwicklung?
Seit 2012 führen wir von der New Work SE gemeinsam mit Forsa eine Studie zur Wechselbereitschaft deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch – und waren nach zwei durch die Pandemie geprägten Jahren noch nie so gespannt auf die Ergebnisse wie dieses Mal. Tatsächlich zeigt die Studie: Die Wechselbereitschaft ist im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. So sind etwa in Deutschland fast vier von zehn Befragten offen für einen neuen Job oder haben sogar bereits konkrete Schritte in die Wege geleitet. Das sind vier Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Besonders hoch ist die Wechselbereitschaft unter den 30- bis 39-Jährigen. Hier ist sogar fast jede zweite Person (48 Prozent) bereit, zu einem neuen Arbeitgeber abzuwandern. Deutlich gestiegen ist auch der Anteil von Frauen, die sich eine neue Tätigkeit vorstellen können. 38 Prozent von ihnen zeigen in diesem Jahr Interesse an einem Jobwechsel, im Vergleich zu 32 Prozent im Jahr 2021.
Schlechte Führung wird zum Risikofaktor für Unternehmen
Unternehmen dürfen sich allerdings nicht auf der Tatsache ausruhen, dass bislang nur rund zehn Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland seit Beginn der Pandemie tatsächlich gegangen sind – in der Schweiz und in Österreich ist es schon rund jeder Vierte, und auch Deutschland ist vor dieser Entwicklung nicht gefeit. Denn bei den Beweggründen gibt es eine erstaunliche Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Während nämlich ein höheres Gehalt bei einem überwiegenden Teil der Antrieb ist, über einen Stellenwechsel nachzudenken, spielt mehr Geld bei der tatsächlichen Kündigung eine untergeordnete Rolle. Bemerkenswert dabei ist, dass jeder Vierte gekündigt hat, ohne eine neue Stelle zu haben – ein gewisses Risiko wird also ganz bewusst in Kauf genommen.
Fragt man allerdings die HR-Abteilungen in Unternehmen zu den Gründen für die Abwanderung von Beschäftigten, glaubt drei Viertel (75 Prozent), dass dahinter der Wunsch nach mehr Gehalt steckt. Da dieses Thema tatsächlich in Bewerbungsgesprächen eine sehr zentrale Rolle spielt, Ist diese Einschätzung keineswegs aus der Luft gegriffen (mit 83 Prozent Häufigkeit). Tatsächlich aber ist das Gehalt gerade einmal für jede fünfte jobsuchende Person der ausschlaggebende Grund für den Jobwechsel (19 Prozent) – wichtiger sind der oder die direkte Vorgesetzte und die aktuelle Jobsituation. So waren Führung und Work-Life-Balance zu je rund 30 Prozent und der Wunsch nach einer spannenderen Tätigkeit bei rund einem Viertel die ausschlaggebenden Faktoren für einen Wechsel. Zwar bietet ein attraktives Gehalt weiterhin einen hohen Anreiz, eine Stelle anzunehmen – es reicht aber nicht für eine nachhaltige Mitarbeiterbindung, wenn die sonstigen Rahmenbedingungen nicht stimmen. Und hier sind zunehmend unternehmenskulturelle Faktoren relevant.
Frauen als Treiber notwendiger Veränderungen
Viele der Benefits, mit denen Unternehmen früher bei Jobsuchenden punkten konnten, sind im Ranking der Bedürfnisse dramatisch abgestürzt, ehemals wichtige Statussymbole haben an Strahlkraft verloren. Und mit dem pandemiebedingten Massenumzug ins Homeoffice und dem unverhofften Digitalisierungsschub ist auch die vorher oft entscheidende Standortfrage auf einmal weniger relevant. Stattdessen beschäftigen Deutschlands Jobsuchende vor allem die Themen Vereinbarkeit von Beruf & Karriere, Jobsicherheit, flexible Arbeitszeiteinteilung, Unternehmenskultur und gutes Führungsverhalten.
Gerade Frauen messen dabei den sogenannten weichen Faktoren mehr Bedeutung bei als Männer. Während sich Männer und Frauen bei der Wichtigkeit guten Führungsverhaltens mit 59 beziehungsweise 58 Prozent weitgehend einig sind, sind flexible Arbeitszeiten (Frauen: 59 Prozent, Männer: 54 Prozent) für Frauen deutlich wichtiger als höheres Gehalt (Frauen: 52 Prozent, Männer: 54 Prozent). Und auch Fragen zu Vorsorge und Gesundheit spielen bei ihnen eine wichtigere Rolle. Der größte Unterschied zwischen beiden Geschlechtern manifestiert sich allerdings in dem Wunsch, von Zuhause oder einem anderen Ort aus arbeiten zu können. Während dieser Aspekt für 48 Prozent der Frauen wichtig ist, ist er es nur für 38 Prozent der Männer. Dass hier auf Nachholbedarf auf Seiten der Unternehmen besteht, zeigt auch die deutlich höhere Zahl von Frauen, die akut unzufrieden mit ihrer Arbeitssituation sind. Mit 28 Prozent liegt sie deutlich höher als bei Männern, von denen nur 18 Prozent angeben, dass Corona sich negativ auf ihre Situation ausgewirkt habe. Auch die Bereitschaft zum Jobwechsel ist bei Frauen von 32 auf 38 Prozent gestiegen.
HR wird zum strategischen Erfolgsfaktor
Gefragt sind deshalb auch im Recruiting zeitgemäße Modelle und Strukturen, die auf die Bedürfnisse des Einzelnen eingehen. Denn die perfekten Mitarbeitenden sind die, bei denen auch die Chemie stimmt. Sie müssen nicht nur zu ihrer Stelle passen, sondern auch zum Unternehmen. Mehr denn je zählen heute Qualitäten, die ein Standardlebenslauf nicht vollständig abbilden kann. Denn auch wenn die Qualifikation noch so gut ist: Wer kulturell nicht im Unternehmen andockt, wird eher früher als später wieder gehen. Wenn Unternehmen ihre Recruiting-Prozesse allerdings kritisch hinterfragen und mit Blick auf die Bedürfnisse der Talente optimieren, dann sind sie im Wettbewerb um Talente gut aufgestellt – und können so am Ende von der Wechselbereitschaft der deutschen Beschäftigten profitieren.