Um geeignete Mitarbeiter zu finden, setzen erste Unternehmen auf künstliche Intelligenz. Sie nutzen eine Software, die die Sprache der Bewerber anhand einer Aufnahme untersucht – und daraus Erkenntnisse über die Persönlichkeit der Kandidaten gewinnen soll. Experten sind skeptisch, ob das zuverlässig funktioniert.
Wer sich beim Versicherer Talanx bewirbt, redet zunächst fünfzehn Minuten darüber, wie er sich seinen schönsten Tag vorstellt – mit dem Telefonhörer am Ohr. Doch am anderen Ende der Leitung antwortet niemand, und der Inhalt des Gesagten spielt auch keine große Rolle. Vielmehr geht es um die Stimme und um Erkenntnisse über die Persönlichkeit des Kandidaten. Talanx nutzt die Sprachanalysesoftware Precire, die die Stimme eines Bewerbers aufnimmt und in ihre Bestandteile zerlegt: Das Programm untersucht, welche Worte ein Bewerber wie oft nutzt, wie er Sätze bildet und wie lang sie sind. Die Informationen gleicht die Software mit Daten aus Persönlichkeitsstudien ab, um Muster zu erkennen, die wiederum Rückschlüsse auf Charakter und berufliche Eignung des Kandidaten geben.
Precire ist auf dem deutschen Markt noch einzigartig. „Die Technologie hat von vielen Persönlichkeitstests, Beobachtungsverfahren und Assessments gelernt“, erklärt Christian Greb, Mitgründer des vertreibenden Unternehmens Precire Technologies in Aachen. „Sie bietet Personalern einen zusätzlichen objektiven Bewertungsparameter für die Personalauswahl.“ Laut Greb testet die Software eine Sprachaufnahme auf rund 500.000 Merkmale. Am Ende trifft sie etwa Aussagen darüber, wie selbstbewusst, gewissenhaft und neugierig ein Kandidat ist.
Talanx nutzt Precire seit dem Jahr 2017 – ausschließlich für die Suche nach Führungskräften. „Die Software vereinfacht den Auswahlprozess“, sagt Thomas Belker, Personalvorstand bei Talanx. „Ein Bewerber kann von überall anrufen und muss vorerst nicht anreisen, weil er das Assessment-Center spart. Wir wiederum haben weniger Personalaufwand und sparen Kosten.“ Nach der Auswertung der Sprachaufnahme folgt allerdings immer ein Gespräch mit einem Personaler. Er spricht den Kandidaten auch auf die Testergebnisse an und schätzt noch einmal persönlich ein, ob der Bewerber zum Unternehmen passt.
200 Kandidaten haben die Software bei Talanx bereits genutzt. Die Ergebnisse der Analyse haben laut Belker immer überzeugt. Sie seien facettenreicher als die eines herkömmlichen Persönlichkeitsfragebogens. „Auch wenn am Ende der Mensch entscheidet: Der Algorithmus hat keine Vorurteile, die die Ergebnisse verzerren könnten“, erklärt der Personalchef.
Doch was, wenn während des Telefonats ein Nachbar in der Wohnung nebenan ein Loch in die Wand bohrt? Oder wenn der Bewerber vor lauter Aufregung keinen geraden Satz hervorbringt? Damit eine verlässliche Aussage getroffen werden kann, müsse die Software 80 Prozent der Wörter gut verstehen, sagt Softwareunternehmer Greb. Das sei meist kein Problem: „15 Minuten sind relativ lang. In dieser Zeit spricht der Bewerber bis zu 2.200 Wörter. Nach sieben bis acht Minuten ist sein Sprachprofil erkennbar – auch wenn er sich zum Beispiel aus Nervosität oft verhaspelt.“ Kandidaten, die einen starken Dialekt sprechen oder keine deutschen Muttersprachler sind, hätten keinen Nachteil.Diese sprachlichen Verzerrungen könne der Algorithmus weitgehend herausfiltern. Im Extremfall könnten Bewerber den Test wiederholen.
Ist Manipulation möglich?
Manch ein Kandidat könnte auf die Idee kommen zu versuchen, die Software zu überlisten. Einfach einen schön geschriebenen Text vorbereiten, vorlesen – und prompt stuft ihn Precire als Überflieger ein. Unternehmer Greb ist jedoch überzeugt, dass ein Mensch sein eigenes Sprachprofil nicht derart fälschen kann. Personaler könnten sich somit sicher sein, dass Bewerber ihre Bewertung nicht manipulieren.
Viele Experten für Personalauswahl sind da anderer Meinung. So auch Joachim Diercks: Der Eignungsdiagnostiker aus Hamburg hält es für einen Mythos, dass Sprache nicht manipulierbar sei. So wie Bewerber in Persönlichkeitsfragebögen bewusst falsche Kreuze setzen könnten, optimierten sie womöglich auch ihre Sprache. Doch selbst wenn die Stimme des Bewerbers authentisch ist, bleibe unklar, inwieweit sich daraus überhaupt Aussagen über seine Persönlichkeit treffen lassen, kritisiert Diercks.
Für ihn sind Technologien wie Precire eine Blackbox. Wie genau die Software aus der Sprache Informationen zieht, sei Kandidaten und Arbeitgebern weitgehend unbekannt. Unternehmen, die Precire nutzen, bewegten sich deshalb „auf relativ dünnem Eis“, findet Diercks. Sie könnten einen Imageverlust erleiden, wenn sie eine Software nutzen, deren Funktionsweise noch nicht geklärt ist. Auch verschrecke die Software womöglich Bewerber: „Man suggeriert einem Kandidaten, dass man ihm nicht traut – weil er sich in einem herkömmlichen Persönlichkeitstest verstellen würde. Das wirft ein schlechtes Licht auf den Personaler und den gesamten Recruitingprozess.“ Bis nicht genau geklärt ist, ob die Software tatsächlich zuverlässige Ergebnisse liefert, ist sie in Diercks Augen noch nicht marktreif.
Auch manche Wissenschaftler bezweifeln, dass sich eine Software wie Precire für die Personalauswahl eignet. Zu ihnen gehört Uwe Kanning, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück, der sich intensiv mit Sprachanalyse in der Personalauswahl beschäftigt. Er kritisiert, dass es kaum unabhängige Forschungsergebnisse gibt, die beweisen, dass die Technologie zuverlässige Aussagen über die berufliche Leistungsfähigkeit trifft. Zwar gibt es eine Untersuchung der Hochschule Fresenius, die zu dem Ergebnis kommt, dass Precire ähnlich valide Ergebnisse liefert wie andere eignungsdiagnostische Verfahren. Doch die Studienautoren geben selbst zu, dass weitere Forschung nötig sei, um sicherzugehen.
So lange sollte eine solche Software weder für die Auswahl noch die Entwicklung von Personal eingesetzt werden, findet Wissenschaftler Kanning. „Sprache und Persönlichkeit hängen zwar zusammen – die in der Forschung nachgewiesenen Zusammenhänge sind jedoch extrem gering“, sagt er. So sage es etwa kaum etwas über die emotionale Stabilität und Offenheit eines Bewerbers aus, wie oft er das Wort „ich“ benutzt. Ein Assessment-Center liefere deutlich zuverlässigere Ergebnisse als eine Sprachanalyse – vor allem was die berufliche Leistungsfähigkeit angeht. Personaler könnten einen Bewerber genau beobachten und gezielt auf die Kriterien achten, die er für die Position erfüllen muss. Die Software hingegen spucke zahlreiche Informationen aus, die nicht eindeutig Aufschluss über die zukünftige berufliche Leistungsfähigkeit eines Menschen geben könnten.
Wie steht es um den Datenschutz?
Um an diese Informationen zu kommen, müssen Unternehmen mithilfe der Software viele Daten über Kandidaten erheben. Doch dürfen Unternehmen das überhaupt? Rechtsanwältin Nina Diercks sieht in dieser Frage ein entscheidendes Problem. Die Datenschutzexpertin verweist auf das Bundesdatenschutzgesetz: Daten dürfen in der Bewerberauswahl nur dann verarbeitet werden, wenn sie für die Entscheidung erforderlich sind. Das heißt laut der Anwältin: Wenn es keine gleich geeignete Methode gibt, bei der weniger Daten erhoben werden. Diercks rät deshalb von der Software ab. „Wer diese Technologie nutzt, ist damit in einer Lose-lose-Situation: Er weiß nicht, ob der Algorithmus zuverlässige Informationen liefert, und muss womöglich ein Bußgeld zahlen, weil er gegen das Datenschutzgesetz verstößt.“ Noch gebe es aber keine Fälle vor Gericht.
Die Verfechter der Precire-Software wiederum sind überzeugt, im Sinne des Datenschutzes zu handeln. Talanx-Personaler Belker betont, dass das Unternehmen transparent über die Software aufklärt. Bewerber müssten vorab einwilligen, dass ihre Daten gespeichert werden, und könnten sie jederzeit löschen lassen. Zudem enthalte die Sprachaufnahme keine sensiblen Daten, weil Bewerber inhaltlich kaum etwas über sich preisgäben.
Fest steht: Die Software ist umstritten. Eine gewisse Skepsis hatte deshalb anfangs auch Andreas Bolder, HR-Direktor von Randstad Deutschland. Der Personaldienstleister setzt die Software seit dem Jahr 2015 als einen von mehreren Auswahlschritten ein. „In der Eignungsdiagnostik gibt es viele fragwürdige Verfahren, etwa wenn Rückschlüsse von der Handschrift auf die Persönlichkeit gezogen werden. Deshalb stand ich der Sprachanalyse zunächst abwartend gegenüber“, sagt Bolder. Die Analysesoftware sei tatsächlich eine Blackbox. Das liege auch daran, dass Randstad erst die fertige Persönlichkeitsauswertung zu Gesicht bekommt – die Daten der Sprachaufnahme fließen zuvor an Precire Technologies.
Doch die Erfolge sprechen laut Bolder für sich. „Wir sind Praktiker, keine Wissenschaftler. Die Software bietet Personalern übersichtlich und kompakt eine relativ treffsichere Analyse. Wir haben damit überwiegend positive Erfahrungen bei unseren Kandidaten gemacht.“ Mehrere Testläufe im Vorfeld hatten das Unternehmen überzeugt. Am Ende entscheide aber immer der Mensch. Bewertet die Software einen Kandidaten als sehr intelligent, sei er in der Realität womöglich schwer zu führen, sagt Bolder. Ein Personaler könne selbst entscheiden, wie stark er die Sprachanalyse in seine Wahl miteinbezieht. Auch kann er sie dafür nutzen, einen Lernplan für einen neuen Mitarbeiter zu entwickeln. Denn auf Basis der Testergebnisse kann ein Personaler erkennen, wo sich der Mitarbeiter noch verbessern muss.
So wie Bolder ist auch Precire-Mitgründer Greb überzeugt, dass Unternehmen ihre zukünftigen Mitarbeiter nicht ausschließlich über Precire auswählen sollten. Algorithmen werden Auswahlprozesse künftig aber verstärkt begleiten, glaubt er. So sind Entwickler in den USA bereits den nächsten Schritt gegangen: Die Softwarefirma Hirevue untersucht dort mit einem Algorithmus die Gestik, Mimik und Sprache von Bewerbern in Videointerviews.