Die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung setzt voraus, dass mindestens fünf schwerbehinderte Menschen nicht nur vorübergehend im Betrieb beschäftigt sind.
Bislang war die Frage unentschieden, ob eine gewählte Schwerbehindertenvertretung auch dann weiterbesteht, wenn der in § 177 Absatz 1 Sozialgesetzbuch IX gesetzlich geregelte Schwellenwert von fünf schwerbehinderten Menschen unterschritten wird. Für das Betriebsverfassungsrecht und für die Betriebsräte wird dies angenommen, so dass der Gedanke naheliegt, dies mangels gesetzlicher Regelung auch im Fall einer Schwerbehindertenvertretung ebenso zu sehen. Dem ist das Bundesarbeitsgericht nun entgegengetreten.
Sachverhalt
Die Arbeitgeberin führte in K. einen Betrieb mit rund 120 Mitarbeitenden. Hier war nicht nur ein Betriebsrat gebildet, sondern mit Wahl am 13. November 2019 auch eine Schwerbehindertenvertretung – die von § 177 Sozialgesetzbuch IX sogenannte Vertrauensperson der Beschäftigen mit Schwerbehinderung. Vor dieser Wahl einer eigenen Schwerbehindertenvertretung im Betrieb in K. waren die Interessen der dort beschäftigten Schwerbehinderten von der Schwerbehindertenvertretung in L. (mit)vertreten worden. Als mit dem 1. August 2020 im Betrieb K. die Zahl der Schwerbehinderten auf vier absank, vertrat die Arbeitgeberin die Ansicht, dass die rund neun Monate zuvor erst gewählte Schwerbehindertenvertretung nicht mehr existiere; künftig würden die schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder von der Schwerbehindertenvertretung im Betrieb L. betreut. Die Schwerbehindertenvertretung K. trat dem entgegen und verlangte von der Arbeitgeberin, den Fortbestand der Schwerbehindertenvertretung bis zum Ablauf ihrer Amtszeit, das heißt der nächsten anstehenden Neuwahl, anzuerkennen, zumindest eine Duldung in Betracht zu ziehen. Dies lehnte die Arbeitgeberin ab. Die Schwerbehindertenvertretung K. beantragte hieraufhin, beim Arbeitsgericht Köln, festzustellen, dass ihre Amtszeit nicht aufgrund des Absinkens der Anzahl der schwerbehinderten Mitarbeitenden im Betrieb K. unter fünf beendet ist. Eine nach der Wahl eintretende Veränderung der Anzahl der Schwerbehinderten berühre die Existenz der Schwerbehindertenvertretung nicht. Die Dauerhaftigkeit des Absinkens unter den Schwellenwert von fünf stehe nicht fest, es gebe drei dauererkrankte Mitarbeitende im Betrieb. Die gesetzliche Wahlregelung in § 177 Absatz 1 Sozialgesetzbuch IX beinhalte eine rein punktuelle Betrachtung des Schwellenwerts zum Zeitpunkt der Wahl. Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung sei es auch, für die Ausweitung der von ihr zu betreuenden Mitarbeitenden zum Beispiel durch Neueinstellungen zu sorgen. Wenn die Schwerbehindertenvertretung gegenüber dem Arbeitgeber zur Zahl der schwerbehinderten Menschen rechenschaftspflichtig sei, führe das zu datenschutzrechtlichen Problemen. Im Übrigen seien die Gründe für eine vorzeitige Beendigung der Amtszeit in § 177 Absatz 7 Sozialgesetzbuch IX abschließend geregelt.
Die Arbeitgeberin war indes der Meinung, bei Unterschreiten des Schwellenwertes von fünf bestehe eine Schwerbehindertenvertretung nicht mehr. Dies sei auch im Betriebsverfassungsrecht anerkannt, wenn die gesetzliche Schwelle für das Bestehen eines Betriebsrates unterschritten werde (§ 1 Absatz 1 Betriebsverfassungsgesetz). Anders als dieses sehe das Schwerbehindertenvertretungsrecht sogar eine umfassende Vertretung durch die Gesamtschwerbehindertenvertretung vor; eine solche sei bei ihr gebildet, folglich bestehe auch ohne Existenz der örtlichen Schwerbehindertenvertretung kein vertretungsloser Zustand.
Entscheidung
Beim Arbeitsgericht Köln und beim Landesarbeitsgericht Köln war die Schwerbehindertenvertretung K. noch erfolglos. Der dagegen gerichteten Beschwerde hat das Bundesarbeitsgericht nun mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 stattgegeben. Geradezu umgekehrt zu den Vorinstanzen begründet das Bundesarbeitsgericht dies damit, dass weder im Sozialgesetzbuch IX noch anderweitig eine gesetzliche Vorschrift bestehe, die bei Absinken der Anzahl der schwerbehinderten Menschen unter den Schwellenwert regele, dass die Schwerbehindertenvertretung erlösche. Weder aus gesetzessystematischen Gründen noch im Hinblick auf Sinn und Zweck des Schwellenwerts sei eine vorzeitige Beendigung der Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung geboten.
Fazit
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist bedeutsam. Sie stärkt ersichtlich die Stellung der Schwerbehindertenvertretung, die in den letzten Jahren sukzessive zugenommen hat, zuletzt insbesondere durch die Regelung in § 178 Absatz 2 Sozialgesetzbuch IX zur Unwirksamkeit der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ohne vorherige Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung. Mit einer gewissen Spannung darf erwartet werden, wie das Bundesarbeitsgericht es rechtfertigt, die immerhin vom Gesetzgeber gesetzte Grenze von fünf schwerbehinderten Mitarbeitenden faktisch zu unterschreiten. Vordergründig überzeugt das nicht. Auch rechtspolitisch erscheint das nicht bedenkenfrei, führt es doch zur Manifestierung einer Interessenvertretung, für die es in Anbetracht des auch ohne ihre Existenz bestehenden Schutzes der schwerbehinderten Beschäftigten nach dem Sozialgesetzbuch IX insbesondere dort kein zwingendes Erfordernis geben dürfte, wo Betriebs- und Personalräte bestehen.
Schließlich dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich auch bei Unterschreiten des Schwellenwertes des § 1 Absatz 1 Betriebsverfassungsgesetz die Frage stellt, ob auch ein Betriebsrat fortbesteht, wenn die gesetzliche Schwelle für sein Bestehen unterschritten wird.