Das fehlgeleitete Bauchgefühl

Superpower EQ

Die gängige Meinung zum Bauchgefühl ist eindeutig: Vertraue darauf! Als wäre das Bauchgefühl eine pure Quelle der Weisheit. Doch die Intuition kann auch sehr fehlerhaft sein. Warum ist das so?

Wie es anfing

Es war ein warmer Septembertag vor einigen Jahren. Innerhalb unseres Teams sollten wir für eine Aufgabe 2er-Gruppen bilden. Ich schaute mich um. Mit wem möchte ich zusammenarbeiten? Mein Auge fiel auf eine Kollegin, mit der ich mich menschlich sehr gut verstand. Mein Bauchgefühl sagte mir: Mach die Gruppenarbeit mit ihr.

Dann sagte unsere Führungskraft jedoch: „Wir losen die Gruppen aus und überlassen die Gruppenbildung dem Zufall.“

Zu meinem Leid sollte ich mit einem Kollegen eine Gruppe bilden, der mir nicht sonderlich sympathisch war. Dafür gab es keinen rationalen Grund, aber mein Bauchgefühl war ganz eindeutig. Wieso? Ich konnte es mir damals selbst nicht erklären.

Die Gruppenarbeit mit ihm gestaltete sich als zäh und anstrengend. Wenn ich mich mit einer oberflächlichen Antwort zufriedengeben hätte, hätte ich mir sagen können: „Mein Bauchgefühl sagt mir eindeutig, dass ich mich von diesem Mann fernhalten muss, und ich vertraue darauf.“

Mit dieser Antwort konnte ich mich jedoch nicht zufriedengeben. Sie war unlogisch und oberflächlich. So machte ich mich auf, um das Thema Bauchgefühl tiefer zu erforschen. Mich trieben Fragen um wie: Kann man immer zu 100 Prozent auf das Bauchgefühl vertrauen? Kann das Bauchgefühl auch fehlgeleitet sein? Und überhaupt: Was steuert unsere Intuition?

Das Wunder Bauchgefühl

Zunächst einmal: Unser Körper besitzt mit dem Bauchgefühl eine Form der Intelligenz, die unser Verstand schwer greifen kann. Diese ist in der Lage, Gefahren und brenzlige Situationen zu erspüren. Auch dann, wenn wir dies kognitiv nicht verstehen können.

Der niederländische Psychiater und Autor Bessel van der Kolk hat es mit seinem Buch The Body Keeps the Score auf den Punkt gebracht: Unser Körper speichert verschiedenste Erfahrungen und Erlebnisse im sogenannten Unterbewusstsein ab. So kann unser System in verschiedenen Situationen auf diesen Erfahrungspool zugreifen und uns Signale senden – in Form von Emotionen oder Körperempfindungen. Diese Signale helfen uns dabei, Situationen zu bewerten und passende Entscheidungen zu treffen. Dies bezeichnen wir allgemein als Bauchgefühl.

In anderen Worten dargestellt: Das Bauchgefühl setzt sich zusammen aus biochemischen Körperprozessen, eigens gemachten Erfahrungen, kognitiven Vorgängen, den kollektiven Erfahrungen der Gesellschaft und vielem mehr. Der US-Psychiater Eric Berne hat es schon vor Jahrzehnten wie folgt ausgedrückt: Intuition ist Wissen, das auf Erfahrung beruht.

Wenn wir uns in einer bestimmten Situation befinden, startet unser System einen Scanning-Prozess. Es sucht in der Gesamtheit vergangener Erfahrungen und Erlebnisse nach Daten, die Aufschluss über den jetzigen Fall geben können.

Ein Beispiel: Wenn ich einen Geruch wahrnehme, den ich bisher noch nicht kannte, sucht mein System automatisch in meiner „Datenbank“ nach ähnlichen Gerüchen, um bewerten zu können, ob es sich hierbei um einen gefährlichen oder einen harmlosen Geruch handelt. Ganz intuitiv schätze ich die Situation ein und treffe danach weitere Entscheidungen. Es kann somit sehr ratsam sein, auf das eigene Bauchgefühl zu hören.

Die fehlgeleitete Intuition

Als ich damals mit dem besagten Kollegen in die Interaktion trat, sagte mir meine Intuition unmissverständlich: „Lauf weg! Diesem Menschen kannst du nicht vertrauen!“

Das Merkwürdige daran war: Ich hatte bisher so gut wie keine Interaktion mit diesem Kollegen gehabt, nur flüchtigen Smalltalk. Es gab also keinen Grund, solche negativen Emotionen ihm gegenüber zu verspüren.

Zu dem Zeitpunkt waren meine Gefühle unbewusst. Ich konnte sie weder greifen noch verstehen. Und so war es nicht verwunderlich, dass wir beide negativ aufeinander reagierten. Er spürte meine verschlossene und negative Haltung und reagierte seinerseits mit Vorbehalten und Verschlossenheit darauf. Das ist kein gutes Fundament für eine effiziente Zusammenarbeit, oder?

Irgendwann gab es eine Situation, die Licht ins Dunkel brachte: Mein Kollege und ich hatten uns eine Recherchearbeit aufgeteilt. Ich machte meinen Teil sehr sorgfältig und präsentierte ihm diesen. Seine Reaktion? Er fand meine Ausarbeitungen nicht gut. Die Art, wie er sich hinstellte und mir dies vermittelte, löste in mir ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit aus. Während ich diese Ohnmacht in mir verspürte, fiel mir plötzlich auf: Dieses Gefühl kam mir sehr bekannt vor! Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Dieser Mann erinnerte mich in seinem Aussehen, wie auch in seiner besserwisserischen Art, an meine Chemielehrerin aus der Schule!

Jene Lehrerin war der reine Alptraum für mich. Sie war mir gegenüber sehr negativ eingestellt. Sie stellte mich vor der Klasse bloß und versetzte mich sehr oft in einen Zustand der Machtlosigkeit. Ich konnte mir noch so viel Mühe geben: Stets war sie abfällig und bewertete mich schlecht. Daher fühlte ich mich als Jugendliche dieser Lehrerin oftmals ausgeliefert.

Indem mein Kollege mich an meine Chemielehrerin erinnerte, entstand wieder in mir das Gefühl dieser Ohnmacht – wie damals als Jugendliche. Mein Bauchgefühl wollte mich vor einer erneuten Situation der Machtlosigkeit und der Demütigung schützen. Nur war es in dieser Situation unangebracht und demnach fehlgeleitet.

Als mir dies bewusst wurde, war ich sprachlos. Es ging in all der Zeit gar nicht um meinen Kollegen an sich. Er war nur ein Stellvertreter. Ab diesem Zeitpunkt beschloss ich, mein Bauchgefühl ihm gegenüber aktiv zu hinterfragen.

Bauchgefühl und emotionale Intelligenz

Wie viele Kämpfe führen wir täglich bei der Arbeit mit sogenannten „Stellvertreter-Menschen“ aus? Menschen, die durch ihre Persönlichkeitsstruktur und ihre Art uns an Menschen aus unserer Vergangenheit erinnern? Menschen, die in uns ohne triftigen Grund negative Emotionen auslösen?

Wie viel Potenzial und Lebenskraft verschwenden wir, indem wir uns in Streitigkeiten und Anspannungen verlieren, die nichts mit den Personen an sich zu tun haben? Wie viel Fokus und Lebensfreude verlieren wir, indem wir auf unser teilweise fehlgeleitetes Bauchgefühl hören?

Wir Menschen sind komplex gestrickt. Wir haben so viele Erfahrungen gemacht, die in uns verschiedenste Reaktionen auslösen können. Aus diesem Grund ist es nicht immer ratsam, auf das eigene Bauchgefühl zu hören.

Hätte ich in der beschriebenen Situation weiterhin auf mein fehlgesteuertes Bauchgefühl gehört, wäre das womöglich nicht gut ausgegangen. Stattdessen habe ich glücklicherweise einen anderen Weg gewählt: Ich habe meine emotionale Intelligenz eingeschaltet.

Mittels emotionaler Intelligenz ist es mir in jener Situation gelungen, das Problem an der Wurzel zu packen und den Ursprung zu erkennen. Dadurch gelang es mir auch, aus der Rolle der machtlosen Jugendlichen herauszutreten und meinem Kollegen wieder auf Augenhöhe zu begegnen. Dadurch verbesserten sich unsere Beziehung und Zusammenarbeit wesentlich.

So können Bauchgefühl und emotionale Intelligenz verbunden werden

Wie kannst du emotionale Intelligenz für dich nutzen, um dein Bauchgefühl zu prüfen?

Versuche, dir selbst im Arbeitsalltag auf die Schliche zu kommen. Folgende Fragen kannst du als Anker nehmen:

  • Welche tieferliegenden Gründe könnte es geben, dass ich einer Person oder Situation aus dem Weg gehe?
  • An wen erinnert mich diese Person, die mich so stark triggert?
  • Welche Stellvertreter-Menschen erkenne ich bei meiner Arbeit wieder?

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Beriwan Almaami

Beriwan Almaami ist Gründerin und CEO von Cocobiya und hat den Online-Kurs Resilienztraining am Arbeitsplatz entwickelt. In ihrer Kolumne Superpower EQ schreibt sie über die Bedeutung von emotionaler Intelligenz als wichtigsten Erfolgsfaktor für Führungskräfte und Teamarbeit.

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