Erfolgreiche HR-Einhörner?

Start-Up-Kultur

Der Vorstand sitzt in einem gläsernen Besprechungsraum mit Blick über New York City und stimmt über einen Antrag ab – und zitiert Unternehmensgründer Adam Neumann hinzu. Ein Krisengespräch. Es geht um seine Zukunft als Vorstandsvorsitzender. Anlass ist ein Zeitungsartikel im Wall Street Journal, in dem ihm vorgeworden wird, sein Milliarden-Start-up zugrunde zu richten; ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, nach anhaltenden Bedenken um die Profitabilität des Geschäftsmodells. Als der Unternehmensgründer am Kopf des Tisches Platz nimmt, prahlt er mit Erfolgen und gibt sich selbstsicher. Alles Zeitverschwendung, findet er: „Wir wollen nämlich in zwei Wochen an die Börse.“ Doch die Vorstandsmitglieder haben andere Pläne: Sie wollen ihn als Führungsspitze absetzen.

Das ist die Auftaktszene der Apple-TV-Serie Wecrashed – inspiriert von dem Aufstieg und Fall des Start-ups Wework, einem Anbieter von Coworking Spaces aus den USA. Der US-amerikanische Schauspieler und Musiker Jared Leto spielt die Hauptfigur Adam Neumann. Es geht um Start-ups, Arbeitswelten, Visionen und Größenwahnsinn. Im Jahr 2010 gründet Neumann Wework, macht dank Milliardenfinanzierungen aus einem Coworking Space in New York Hunderte, die auf der ganzen Welt verteilt sind. Im Jahr 2019 wird das Unternehmen mit 47 Milliarden Dollar bewertet und ist damit längst ein echtes Unicorn. Als sogenanntes Einhorn gelten Start-ups mit einer Marktbewertung von mehr als einer Milliarde Dollar.

Einschätzen des Markpotenzials

Ein Einhorn in der HR-Welt ist das Start-up Personio. Das Münchener Software-Unternehmen wird dem Handelsblatt zufolge im Jahr 2022 mit 8,5 Milliarden US-Dollar bewertet, fast sieben Jahre nach seiner Gründung. Die Software unterstützt kleine und mittelständische Unternehmen sowie deren HR-Abteilungen bei der Personalverwaltung, sei es Recruiting, Zeiterfassung oder Lohnabrechnung. Dass ein Tool zur Personalverwaltung auf dem Markt derart einschlägt, hätte man auf Anhieb nicht erwartet. Schließlich gibt es bereits andere Anbieter mit ähnlichem Leistungsportfolio. Und wer denkt bei Tech-Start-ups und Innovationen schon an Personalverwaltung? Auch Michael H. Kramarsch hat das Potenzial von Personio zunächst unterschätzt. Der Gründer und Managing Partner der Hkp Group ist Mitglied der Jury des HR-Start-up-Awards. Jedes Jahr prüft er zahlreiche Ideen und beobachtet auch sonst die Neuheiten der Gründerszene. „Mir war schon bewusst, dass das Start-up Personio auf einen riesigen Markt bei kleinen und mittelständischen Unternehmen­ trifft“, sagt Kramarsch. Es decke Standardprozesse ab und bringe HR in die Cloud. Aber im Vergleich zu anderen Neuheiten auf dem Markt sei der Innovationsaspekt geringer.

„Die deutsche HR-Start-up-Szene lebt, ist vielfältiger geworden und adressiert mehr Themen“, sagt Kramarsch. Im Personalbereich gehe es meist um Tech-Innovation. Ohne digitale Komponente komme kaum ein HR-Start-up aus, mal stehe sie im Vordergrund, mal im Hintergrund. Das macht er vor allem von den Award-Einreichungen abhängig. Wie im Vorjahr liegen 2022 die Bewerbungen mit mehr als 50 Einreichungen auf einem Rekordhoch. Daran lässt sich ein inhaltlicher Trend ablesen, was HR und Start-ups in Sachen Innovationen bewegt. Oftmals sind es Lösungen im Recruiting. Über die Jahre kommen weitere Schwerpunkte wie Performance Management oder Kommunikation hinzu. In diesem Jahr sind es vorrangig die Themen „Gewinnung internationaler Talente“ und „Gesundheit“. Wellbeing and Health hat aus Sicht von Kramarsch in den Unternehmen einen deutlichen Schub erfahren. Dafür macht er unter anderem die separierten Arbeitsbedingungen verantwortlich, in denen Menschen heute oft tätig sind. Damit meint er, dass aufgrund von Homeoffice Führungskräfte oftmals keinen physischen Zugriff auf ihr Team haben.

Und warum sind Innovationen gerade für HR von Interesse? „Von unterschiedlichen Unternehmensfunktionen ist HR nicht gerade überdigitalisiert“, antwortet der Managing Partner. Er sieht im Bereich Personalverwaltung weiterhin einen großen Bedarf, aber ebenso bei Employee Engagement. Auch habe sich der Arbeitgebermarkt zu einen Arbeitnehmermarkt gewandelt, sodass weiterhin Tools im Recruiting gefragt seien.

Im Maschinenraum tüfteln

Dass Tech-Start-ups im Recruiting gefragt sind, bestätigt auch die Finanzierungsrunde des Kölner Jungunternehmens Catch. Im Sommer 2022 sicherten sich die Gründer Marco Verhoeven und Justin Bous für ihre Recruiting-Plattform Catch Talents ein siebenstelliges Investment. Vom Einhorn-Status ist das Start-up also noch weit entfernt. Aber extrem schnelles Wachstum scheint auch gar nicht im Vordergrund zu stehen. Das Unternehmen ist eine Hochschulausgründung und die Idee zweier Studenten. Die Gründer setzen anfangs auf Bootstrapping. Sie sind somit ohne externe Finanzierungen aus sich selbst heraus gewachsen. „Die vergangenen Jahre haben wir im Maschinenraum gearbeitet“, sagt Verhoeven. So beschreibt er die Phase, in der sie abgetaucht sind, um an der Entwicklung zu feilen. Dadurch funktioniere das Produkt sehr gut, sodass es jetzt in die Verbreitung gehen könne. Die Idee haben beide schon 2017 entwickelt, 2020 dann das Unternehmen gegründet. Angefangen hat alles mit dem Programmieren von Auswahlalgorithmen für das Matching zwischen Jobinteressierten und Unternehmen. Im Verlauf ihrer Arbeit haben sie festgestellt, dass sich das Tool nicht nur für das Matching eignet, sondern ebenso für die Personalsuche. So haben sie ihr Tool optimiert und sind damit an den Markt gegangen.

Catch Talents richtet sich an kleine und mittlere Unternehmen. Die Zielgruppe sind Betriebe der Größe von 50 bis 5.000 Beschäftigten mit kleinen HR-Abteilungen. Das Tool verspricht die Automatisierung bei der Talentsuche und der Vorauswahl. Mehr als 600 externe Schnittstellen helfen bei der Anbindung diverser Kanäle wie Jobbörsen oder soziale Netzwerke. Die Stellenanzeigen sollen zielgerichtet ausgespielt werden und so Bewerberinnen und Bewerber mit Arbeitgebern matchen. Das Matching erfolgt auf zwei Ebenen: Fähigkeiten und Persönlichkeit. Im Kern steht die gemeinsam mit der Universität Köln entwickelte Individuellen-Stärken-Analyse. Ein Algorithmus analysiert die Anforderungen einer Stellenausschreibung, fügt Informationen zur Persönlichkeit hinzu und leitet daraus Soft Skills ab. Dann wird die Stellenanzeige ausgespielt und es werden tendenziell Personen vorgeschlagen, die aufgrund von Wahrscheinlichkeitswerten dazu passen. „Am besten funktioniert unsere Software mit Social Media, weil dort die spezifischen Einstellmöglichkeiten vorhanden sind“, sagt Verhoeven. So kann man zum Beispiel auswählen, dass Anzeigen eher kreativen Menschen ausgespielt werden. Bei Stellenbörsen gebe es oftmals keine entsprechenden Targeting-Funktionen.

Die nachgelagerte Vorauswahl ist schrittweise aufgebaut. Im ersten Schritt werden die Kontaktdaten und im zweiten die Rohdaten wie Sprachkenntnisse erfasst. Im dritten Schritt folgt ein zweiminütiger Persönlichkeitstest mit spielerischen Elementen. Interessierte können die Prozessschritte durchlaufen, wann immer sie möchten – alles optional, je nach eigenen Bedürfnissen. Erst später werden Lebenslauf oder Anschreiben abgefragt. „Wir haben uns der Flexibilität des Kandidatenmarktes angepasst“, sagt Verhoeven. Ihm zufolge haben Menschen keine Lust mehr, mit dem Lebenslauf in der Hand um einen Job zu bitten. Vielmehr zeigen sie Spaß an kleinen spielerischen Tests, ob sie für eine Stelle passen. Kundenunternehmen hätten einen zeitlichen Vorsprung, in dem ihnen direkt Kontaktdaten von Jobinteressierten vorlägen. Mehr als 80 Prozent der von dem Tool angesprochenen Kandidatinnen und Bewerber sind aktuell in einem Job. Von 2019 bis 2021 hat das Start-up nach eigener Aussage rund 40.000 Bewerbungen abgewickelt. Bis Ende 2022 werden es voraussichtlich doppelt so viele sein – also insgesamt 80.000. Seit der sogenannten Seed-Finanzierung – einer frühen Erstfinanzierung – hat sich der Arbeitsalltag von Verhoeven deutlich gewandelt: mehr Meetings, mehr Controlling, mehr Reportings. In 18 Monaten soll die Series A anstehen, also die Anschlussfinanzierung.

Mirjam Ferrari arbeitet gern mit Start-ups zusammen. Sie ist Senior Vice President HR Operations bei Post und Paket und bewältigt gemeinsam mit den Teams in den Regionen und der Zentrale rund 500.000 Bewerbungen pro Jahr. Einstellungen finden im fünfstelligen Bereich statt. Beim sogenannten Massenrecruiting spielen Standardisierung und Automation eine große Rolle. Neben dem Einsatz eines modernen Bewerbermanagementsystems nutzt das Unternehmen im Recruiting beispielsweise einen Diagnostik-Test bei der Auswahl operativer Kräfte. Der Test setzt auf einer Lösung eines HR-Start-ups auf, die gemeinsam entsprechend der Bedürfnisse von Post und Paket weiterentwickelt wurde. Im Bereich Performance Marketing und Segment Recruiting arbeitet das Team ebenfalls mit Start-ups zusammen. Warum das Team auf Start-ups setzt, liegt in den besonderen Anforderungen des Massengeschäfts. Anbieter und Tools in dem Bereich sind rar, Lösungen von der Stange für das Unternehmen selten direkt geeignet. Das HR-Team analysiert daher regelmäßig den Markt und schaut, ob Gründerinnen und Gründer vielleicht einen interessanten Recruiting-Baustein bearbeiten.

„Nicht alles ist gut, auch wenn es gut gemeint ist“, sagt Ferrari. Diese Erfahrung musste die Personalerin auch im Erstkontakt mit Start-ups machen. Am Anfang herrsche oftmals viel Enthusiasmus, aber wenn es später um handfeste Kennzahlen und Skalierbarkeit gehe, folge manchmal eine Fehleinschätzung des Machbaren. Klar ist, für den Konzern kommt es besonders auf Zahlen und Performance an. Einen Vorteil bei der Zusammenarbeit mit Start-ups sieht sie im kurzen Draht zu den Personen, die die Entscheidungen treffen. Auch können Großunternehmen von den kleineren lernen. Als Beispiel nennt Ferrari unter anderem die Scrum-Methoden in der IT-Entwicklung oder das agile Mindset, was bei Start-ups oftmals weiter verbreitet als in größeren Organisationen ist. An Start-ups schätzt sie den Enthusiasmus, die Produktexpertise und die Kundenorientierung. Gleichzeitig empfiehlt sie Gründungspersonen ein Coaching, um zu verstehen, wie große Organisationen ticken und funktionieren. Das ist vor allem dann ratsam, wenn sie mit Konzernen zusammenarbeiten wollen, um ein Verständnis für deren Struktur, Abläufe und Entscheidungswege zu bekommen.

„Es braucht Erwartungsmanagement in der Zusammenarbeit auf beiden Seiten“, sagt Ferrari. Vor Beginn der Zusammenarbeit ist zu klären, ob sich alle bewusst sind, worauf sie sich einlassen. So müsse sich das junge Unternehmen mit den Prozessen und Vorgaben des großen anfreunden und sich überlegen, inwiefern sie selbst mit ihrer Lösung skalierbar sind – also das steigende Auftragsvolumen bewältigen können. Ein Großunternehmen klopft neben der Skalierbarkeit weitere Anforderungen beim Start-up ab. Für Ferrari kommt es bei Gründungspersonen zum einen auf die Persönlichkeit und deren Fähigkeiten an. Sie will wissen, ob die Menschen das erforderliche Durchhaltevermögen für den gemeinsamen Weg mitbringen. Ebenso wichtig ist, ob die Menschen ein gesundes und ausgewogenes Urteilsvermögen haben. Damit meint sie eine realistische Einschätzung der eigenen Leistungen und der Geschäftsentwicklung über die nächsten Jahre. Außerdem entscheiden die Investorenzusammensetzung und Kapitalausstattung des Start-ups darüber, ob es zu einer längerfristigen Zusammenarbeit kommt.

Anforderungen an Start-Ups

Durststrecke

Auf die Kapitalstärke und die Finanzierung eines Start-ups zu schauen, dazu rät auch Hkp-Gründer Michael H. Kramarsch. So habe man ein Indiz über die Bestandsfähigkeit des Unternehmens. Nachdem die Gründerszene in den vergangenen Jahren einen Boom erlebt hat, zeichnet sich allmählich eine Durststrecke ab. Die Krisenzeit macht auch vor jungen Unternehmen nicht Halt. Medien titeln über Entlassungswellen in etablierten Start-ups und deuten auf Kapitalengpässe hin. Das Investitionsklima hat sich verändert, das gilt auch für Start-ups in der HR-Nische. „Natürlich ist die Finanzierung für HR-Start-ups genauso eng geworden, wie für alle anderen Start-ups auch“, sagt Michael H. Kramarsch. Kapitalgeber seien weniger bereit, in neue Ideen zu investieren. Diese Rückmeldung hat Kramarsch, der selbst auch Investments tätigt, von unterschiedlichen Start-ups bekommen. Einen Grund dafür sieht er in einer gewissen Marktunsicherheit. Fairerweise müsse man aber auch sagen, dass die vergangenen Jahre für die Gründerszene auch die Zeit des Schlaraffenlandes gewesen ist. „Es gab Geld aus allen Richtungen. Relativ blind wurde in Wachstumswerte investiert, ohne die Substanz eines Start-ups näher zu prüfen“, sagt er. Der Wind habe sich nun deutlich gedreht.

Interview

Den Unternehmergeist wecken

Katharina Hölzle © Ludmilla Parsyak
Katharina Hölzle © Ludmilla Parsyak

Katharina Hölzle ist Innovationsforscherin. Sie leitet das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) der Universität Stuttgart sowie das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO.
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Der Druck bei Investoren ist groß, gerade wenn ein Unternehmen Verluste schreibt oder ins Straucheln gerät. „Sie sind draußen“, sagt ein Vorstandsmitglied zur Serienfigur Adam Neumann und informiert ihn damit recht harsch über das Abstimmungsergebnis des Vorstandes. Jemand anderes soll fortan die Geschäfte des angeschlagenen Unternehmens führen. In der Serie Wecrashed verlässt Neumann ohne ein Wort den Raum. Anwälte handeln später ein Abfindungspaket aus. So geschah es auch im realen Leben des Wework-Gründers. In Medienberichten wird spekuliert, dass dieses über 1,7 Milliarden Dollar betragen hat. Wework ging später trotz einer deutlich geringeren Bewertung an die Börse. Und Adam Neumann? Im Jahr 2022 streicht er wieder mal eine Millionenfinanzierung ein. Diesmal für sein neues Start-up Flow. Viel ist zu dem neuen Vorhaben noch nicht bekannt, nur dass es wieder mit Immobilien zu tun hat. Statt großen Büroflächen handelt es sich wohl um Apartments zum Mietwohnen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sven Lechtleitner, Foto: Privat

Sven Lechtleitner

Journalist
Sven Lechtleitner ist freier Wirtschaftsjournalist. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule in Berlin absolviert. Von November 2020 bis Juli 2022 war er Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager.

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