Wettlauf gegen Biases – Cybervetting im Recruiting

Diversity Check

Immer stärker werden sich Unternehmen der Wirkungsweise von sogenannten Biases, sprich Voreingenommenheiten, im Recruiting-Prozess bewusst. Zudem gibt es etliche Start-ups, die anonymisierte KI-Verfahren der fairen Auswahl entwickeln. Doch diese Erfolge können durch wenige Klicks im Internet zunichte gemacht werden. Was passiert, wenn die Antworten auf im Vorstellungsgespräch verbotene Fragen wie „Haben Sie Kinder oder in nächster Zeit vor, eine Familie zu gründen?“ oder: „Sind Sie Mitglied einer politischen Partei?“ längst bekannt sind? Wenn ein Arbeitgeber bereits weiß, dass die Kandidatin schwanger oder der Bewerber Mitglied in einer bestimmten Partei ist?

Der vorauseilende Ruf

Ermöglicht wird dies durch das so genannte cybervetting. Es kommt von to vet – etwas gründlich (über)prüfen und wird auch als Social-Media-Background-Check, Social-Media-Screening, Social-Media-Profiling oder als Facebook fired bezeichnet. Diese Verfahren erfreuen sich immer größerer Beliebtheit, da sie Recruiterinnen und Personalberatungen auf direktem Wege Informationen über die Kandidatinnen und Kandidaten liefern, ohne diese überhaupt fragen zu müssen. Alles das, was mühsam in den eingereichten Lebensläufen nicht explizit erkenntlich ist, wird nun auf dem Silbertablett serviert. Das öffnet jedoch wiederum stereotypen Annahmen und Biases aller am Recruitingprozess beteiligten Personen Tür und Tor. Denn es lässt sich kaum vermeiden, dass:

  • Informationen über Mitgliedschaften in politischen Organisationen, das Alter oder der Familienstand unentdeckt bleiben, die bei der eigentlichen Einstellung nicht zulässig sind.
  • Aktivitäten und Hobbies können nachvollzogen werden, die außerhalb der Arbeitszeit stattfinden, und so vermeintlich übermäßiger Konsum von Drogen wie Alkohol oder Rauchen zur Ablehnung führen.
  • Risikoreiche Hobbys oder sichtbare Behinderungen dienen als Anlass, Bewerberinnen und Bewerber auszusortieren.
  • Jüngere Kandidatinnen und Bewerber haben tendenziell Nachteile, da sie mehr posten und damit mehr Informationen über sich preisgeben.
  • Ältere Personen wiederum, die nur sporadisch im Netz sind oder keine regelmäßig gepflegten Social-Media-Seiten aufweisen, könnten den Anschein erwecken, etwas zu verschweigen oder nicht mit der Technologie vertraut zu sein.
  • Frauen, die Familienfotos posten, suggerieren potenziell eine „falsche“ Prioritätensetzung und zu hohe Freizeitorientierung.

Die Auswirkungen für Bewerbende im Recruiting

Dass dies reale Auswirkungen hat, zeigt eine Untersuchung der Singapore Management University von 2020. Bei den untersuchten Bewerbungen wurden über die Hälfte aufgrund von Informationen abgelehnt, die über Social Media ermittelt wurden. So fanden Forschende heraus, dass Profile, bei Facebook, Tiktok oder LinkedIn, Details enthalten, deren Berücksichtigung Unternehmen gesetzlich untersagt sind. Darunter fallen Informationen über das Geschlecht, die Herkunft und ethnische Zugehörigkeit, körperliche und kognitive Behinderungen, den Schwangerschaftsstatus, die sexuelle Orientierung, politische Ansichten und Religionszugehörigkeit.

Es ließ sich ebenfalls nachweisen, dass solche Informationen und Faktoren, die vermeintlich tabu sind, die Bewertungen der Personalvermittlungen beeinflussen: So etwa beim Beziehungsstatus, wo verheiratete und verlobte Kandidatinnen und Kandidaten im Durchschnitt bessere Bewertungen als Alleinstehende bekamen. Aber auch bei Informationen wie dem Alter (ältere Personen wurden höher bewertet), dem Geschlecht (wo Frauen einen Vorteil hatten) und religiöser Zugehörigkeit (niedrigere Bewertungen, wenn die Überzeugungen ersichtlich waren) ließen sich diese Beeinflussungen messen. Auch die Verwendung von Schimpfwörtern in Beiträgen, erkennbare Anzeichen von Alkohol- oder Drogenkonsum (zum Beispiel auf Party-Bildern) führten zu schlechteren Bewertungen.

Vorsicht ist auf beiden Seiten geboten

Für Bewerbende gilt daher schlicht: Alles, was sie zeigen oder schreiben, kann und wird im Zweifel gegen sie verwendet. Daher lohnt es sich, sehr genau zu schauen, was auf welchem Kanal und welcher Zielgruppe gegenüber an Einblicken gewährt wird. Bei Unsicherheit: einfach löschen.

Für Unternehmen braucht es wiederum transparente Regelungen. Wenn bereits heute ein Großteil der Unternehmen Social Media nutzt, um aktiv nach neuen Mitarbeitenden zu suchen, ist es utopisch zu glauben, dass diese Social-Media-Checks nicht weiter angegangen werden müssten. Ganz im Gegenteil: Je mehr sich Bewerbungen in die virtuelle Umgebung verlagern, desto wichtiger wird es, diese Spielregeln zu definieren, um aktiv gegen Biases vorzugehen.

Eine solche Policy sollte beinhalten:

  • Zeitpunkt der Durchführung dieser Checks: Empfehlenswert ist es, diese erst vorzunehmen, nachdem alle Interviews durchgeführt und Arbeitsproben gesichtet wurden. So vermeiden Unternehmen, dass eigentlich unerlaubte Informationen wie Familienstand oder Behinderung in die Einstellungsentscheidung einfließen.
  • Relevanz der Informationen für die Stellenbesetzung: Welche Informationen werden auf welchem Social-Media-Kanal gesucht? So könnten beispielsweise private Social-Media-Kanäle aus der Suche ausgeschlossen und lediglich Inhalte aus einschlägigen Berufsnetzwerken bei den Checks einbezogen werden.
  • Verantwortlichkeiten: Wer darf diesen Check überhaupt durchführen? Es sollten andere Personen als die Fachbereichsverantwortlichen sein, um nicht rollenrelevante Informationen auch nicht in die Bewertung für die Stelle einfließen zu lassen. Dazu sollte es für alle Beteiligten am Recruiting-Prozess eine Art Kurzschulung geben, um für Biases und Stereotypen Bewusstsein zu schaffen und die gemeinsamen Standards im Unternehmen zu verdeutlichen.

Für Unternehmen kann dieser vermeintliche Vorteil eines nicht gestatteten Einblicks in vom Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützte Lebensbereiche zurückfeuern: Wenn etwa die gefundenen nicht arbeitsplatzrelevanten Informationen eher den Präferenzen und Voreingenommenheiten der Recruiting-Verantwortlichen entsprechen und Entscheidungsfehler nähren, wie zum Beispiel die Tendenz, Kandidatinnen und Kandidaten zu bevorzugen, deren Interessen oder Eigenschaften mit ihren eigenen übereinstimmen.

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Eva Voss, Head of Diversity bei der Großbank BNP Paribas

Eva Voß

Dr. Eva Voß ist Head of Diversity, Inclusion and People Care Germany & Austria bei BNP Paribas. Als Keynote-Speakerin und Panelistin sowie Autorin verschiedener Fachpublikationen liegt ihr Schwerpunkt auf Unconscious Bias, Inclusive Leadership, Culture of Belonging, Employee Activation und Governance-Strukturen der Gleichstellung.

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