Was zunächst komplett widersprüchlich erscheint, ist seit einem Jahr als internationaler Standard gesetzt: die ISO 30415 Human Resource Management – Diversity and Inclusion wurde im Mai 2021 veröffentlicht. Eine solche Norm wird von der International Organization for Standardization (ISO), also dem internationalen Verband nationaler Normungsgremien (ISO-Mitgliedsgremien) entwickelt. Ziel ist es, Handreichung und methodisches Werkzeug an Organisationen aller Größen und Branchen zu vermitteln, um sie in ihrer Verantwortung für Diversity und Inclusion (D&I) konkret zu unterstützen. Als sich 2016 die ISO-Arbeitsgruppe auf den Weg machte, war auch Deutschland unter anderem durch zwei Vertreter des Charta der Vielfalt e.V. beteiligt. Es galt Standards für eine inklusive Organisationskultur zu entwickeln, die ein konsequentes Engagement aller Unternehmensebenen, insbesondere der obersten Führungsebene, einbezieht.
Vielfalt jetzt von der Stange?
Bei der Orientierung an Normen kommen zwangsläufig Fragen auf. Wie lassen sich ein festes Korsett und maximale Freiheit oder einheitliche Organisation und heterogene Belegschaften vereinbaren? Müssen unterschiedliche kulturelle Gegebenheiten berücksichtigt werden, also gibt es beispielsweise länderspezifische Auslegungsarten für nicht-inklusives oder diskriminierendes Verhalten? Die Antwort darauf lautet: genau deshalb gibt es eine Norm. Sie legt einen organisationalen Rahmen fest, indem sich sehr wohl spezifische Eigenheiten definieren lassen, führt aber auch Prinzipien ein, die zu mehr Vielfalt beitragen. Es geht also um die Verfahren und nicht das Ergebnis, das normiert werden soll. Und so sind in den sieben Kategorien der ISO über 170 Aktionspunkte definiert, die zu mehr Vielfalt in Organisationen beitragen können.
Die Struktur der Norm ermöglicht dabei die Freiheit, sich selbst auszuwählen, wo angefangen werden und was mit den Handlungsempfehlungen schließlich gemacht werden soll.
Eingangs gibt es eine umfassende Einführung in das Thema mit Zielsetzungen, Definitionen und Literaturverweisen. Dabei werden grundsätzliche Fragen wie Zuständigkeit und Verantwortlichkeit behandelt:
- Organisatorische Governance
- Organisatorische Führungsrolle
- Organisatorische übertragene Zuständigkeiten für D&I
- Individuelle Zuständigkeiten
Im Weiteren setzt sie sich auseinander mit den Rahmenbedingungen für D&I und einer „Inclusive Culture“. Das Kernstück der Norm sind praktische Maßnahmen, die anhand des Lebenszyklus‘ des Personalmanagements (Employee Life Cycle) dargestellt werden:
- die Personalplanung
- die Entlohnung
- die Rekrutierung
- Onboarding
- Lernen und Entwicklung
- Leistungsbeurteilung
- Nachfolgeplanung
- Mobilität von Beschäftigten
- Beschäftigungsende
Ergänzt werden diese Kernthemen des Personalmanagements um Themen an der Schnittstelle zu anderen unternehmerischen Handlungsfeldern:
- Konzeption, Entwicklung und Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen
- Beschaffungs- und Lieferkettenbeziehungen
- Beziehungen zu externen Stakeholdern
Praktische Handhabung
Eine Umsetzung der ISO-Norm in eine deutsche DIN-Norm steht noch aus. Aber schon jetzt wird sie als Grundlage für eine praxisnahe Anwendungsmöglichkeit genutzt: der Stifterverband der deutschen Wirtschaft und der Charta der Vielfalt e.V. sind aktuell dabei, auf dieser Basis ein Diversity Audit (Arbeitstitel) zu entwickeln, um Unternehmen zu begleiten und in der Umsetzung von Diversity und Inclusion evidenzbasiert zu unterstützen. Statt ‚Jodeldiplomen‘ und fragwürdigen Zertifikaten geht es darum, auch kleinen und mittleren Unternehmen einen kompetenten Einstieg und eine zielgerichtete Weiterentwicklung zum Thema D&I zu ermöglichen. Es steht kein „Walk of Fame“ am Ende dieses Auditierungs-Prozesses. Im Gegenteil: es soll vielmehr den Unternehmen einen Vergleich mit ihrem besten Selbst, das in ihnen steckt, ermöglichen. Ein Unternehmen kann theoretisch unendlich viel an D&I-Maßnahmen umsetzen und dennoch kein bisschen vielfältig sein. Es kommt auf die richtigen Hebel der Organisations- und Personalentwicklung und in der Konsequenz auch der Produktentwicklung des Unternehmens oder der Vernetzung mit externen Anspruchsgruppen (im Sinne der Corporate Social Responsibility) an.
Die ISO-Norm ist ein absolut hilfreicher Schritt in der Professionalisierung der Diversity-und-Inclusion-Arbeit, um strukturiert und nachhaltig Veränderungen in den jeweiligen Organisationen zu bewirken. Durch die internationale Vereinheitlichung profitieren auch Großunternehmen, die prinzipiell schon gut aufgestellt sind. Sie müssen die Diversity-Welt nicht neu erfinden, sondern können auf ein mit Expertise abgestimmtes Regelwerk zurückgreifen – ein Bollwerk an Struktur für umgerechnet 153,90 Euro. Dafür bekommt man heute nicht mal mehr Fliesen.
Weitere Beiträge aus der Kolumne:
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