Angesichts des demografischen Wandels braucht es einen Perspektivwechsel im Recruiting und Offenheit für das ganze Thema Age Diversity bei Stellenbesetzungen.
Es ist ein wenig so zäh und unerquicklich wie beim Klimawandel: Seit den 1970ern ist bekannt, dass in Deutschland die Sterberate höher ist als dieGeburtenrate. Vor über 30 Jahren begann bereits die Enquete-Kommissiondes Bundestags „Demographischer Wandel– Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik“ ihre Arbeit. Seitdem wird über den demografischen Wandel berichtet, Szenarien entworfen und Handeln angemahnt, um dem absehbaren Fach- und Führungskräftemangel rechtzeitig entgegenzuwirken. Die Dimension „Alter“ oder eben Age Diversity hat es aber bis heute nicht wirklich in die Unternehmensrealität geschafft. Beziehungsweise nur in Form des klassischen Altersteilzeitmodells, was einen möglichst schonenden Abbau oder das Ausschleichen von Arbeitsverhältnissen in den Blick nimmt, statt Angebote zum Verbleib und zur Weiterentwicklung auch jenseits der 55+ zu offerieren. In ältere Beschäftigte wird weniger investiert, Karrieresprünge scheinen jenseits der 55 irgendwie gänzlich aus dem Rahmen zu fallen und bei Weiterbildungen wird gerne gespart. Die Botschaft ist recht eindeutig: Lohnt sich ja sowieso nicht mehr. Ab einem gewissen Alter scheint weder Leistungsfähigkeit noch Lernfähigkeit und Einsatz erwartet zu werden – außerdem sind ältere Mitarbeitende zu teuer. Dass das wiederum nicht wahnsinnig motivierend ist, liegt auch auf der Hand und so ist es ein Teufelskreis aus stereotypen Annahmen über „die Älteren“, die ohnehin nicht mehr mitziehen und selbst erfüllenden Prophezeiungen. Den Betroffenen fehlt schlicht der Anreiz, sich gegen diese Mauer an Stereotypen durchzusetzen.
Das Ganze ist übrigens ein Massenphänomen: Die Weltgesundheitsorganisation kam in einer breit angelegten Studie zu dem Ergebnis, dass die Hälfte aller Erwachsenen weltweit voreingenommen gegenüber älteren Menschen ist. In Europa berichtet ein Drittel der älteren Menschen, dass sie bereits Erfahrungen mit Altersdiskriminierung gemacht haben. In Deutschland bildet Altersdiskriminierung laut Befragung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von allen Diskriminierungsmerkmalen die größte Gruppe.
Und während sich die Bemühungen um die Generationen Y und Z überschlagen, diese für einen Einstieg im Unternehmen zu begeistern, sind Recruiting-Anstrengungen, die ganz bewusst die „Älteren“ ansprechen, noch wenig ausgeprägt. Dabei ist ein Blick auf die Altersstrukturdaten der eigenen Firma wichtig, um zu verstehen, dass an vielen Stellen in den kommenden fünf bis sechs Jahren etliche Wissensträgerinnen und Experten wegbrechen. Eine alterszentrierte Belegschaftsstruktur lässt sich aber eben nicht allein durch Recruiting von jungem Nachwuchs kompensieren. Es gilt viel eher darüber nachzudenken, wie sich ältere Menschen auch deutlich jenseits der 55 plus für das Unternehmen halten und weiterentwickeln oder aber neu gewinnen lassen. „Age inclusive recruiting“ ist das Zauberwort der Stunde – ach was, des nächsten Jahrzehnts!
Es gibt frei verfügbare Software, über die sich Analysen zur Altersverteilung einfach und unkompliziert erstellen lassen. Spätestens, wenn das Bild der Belegschaftsstruktur nämlich so wie oben aussieht, ist dringend Handlungsbedarf geboten. Hier ein paar Beispiele, was Unternehmen konkret tun können, um ihr Recruiting auf Altersdiversität auszurichten:
1. Zahlen, Daten & Fakten kennen
- Regelmäßiges Erfassen und Analysieren des Altersprofils der derzeitigen Belegschaft
- Auswertung der Altersstrukturdaten der Bewerberinnen und Kandidaten, um zu beurteilen, ob Stellenanzeigen Jobinteressierte aller Altersgruppen überhaupt ansprechen
- Regelmäßige Erfassung und Überprüfung der Altersdaten im Rahmen des Einstellungsverfahrens: Ab welchem Prozessschritt gehen ältere Personen verloren? Im Interview? Beim Probearbeitstag?
2. Unvoreingenommene Recruiting-Prozesse
- Stellenanzeigen sollten so formuliert sein, dass sie nicht altersdiskriminierend sind. Stellentitel wie „Marketing Ninja“ und „Product Rockstar“ zielen oft auf eine bestimmte Zielgruppe ab, was den Talente-Pool unnötig schmälert. So fühlen sich ältere Berufserfahrene, aber auch Menschen ohne akademischen Hintergrund deutlich weniger davon angesprochen.
- Gleiches gilt für das Bildmaterial: Wenn ausschließlich junge, hippe Personen gezeigt werden, ist die Botschaft eindeutig. Dabei ist belegt, dass altersgemischte Teams erfolgreicher und persönlich motivierter
- Generationen unterscheiden sich auch bei der Sichtung von Online-Anzeigen. Während sich Absolventinnen und Berufseinsteiger noch durch einen „ungelernten und damit eher ziellos suchenden Blickpfad“ auszeichnen, lesen Berufserfahrene eher quer, steuern Elemente wie Anforderungen oder Aufgaben gezielt an und suchen überdies direkt nach den Kernbotschaften. Auch das ist in der Konzeption von Ausschreibungen zu berücksichtigen.
- Die Verbreitung von Stellenanzeigen sollte mehrere digitale wie auch analoge Plattformen umfassen und über Branchennetzwerke gestreut werden, in denen sich Berufserfahrene zusammengeschlossen haben.
- Stellen sollten verschiedene Modelltypen reflektieren wie Teilzeit, Bogenkarrieren, Senior Experts, Senior Azubis, Returnships oder Generationentandems.
- Bei den Arbeitgeberleistungen sollten diejenigen Angebote hervorgehoben werden, die für ältere Beschäftigte attraktiv sind, wie zum Beispiel flexibles Arbeiten.
- Ein strukturierter Interviewprozess mit mehreren Entscheidungstragenden (oder altersgemischten Auswahlpanels), vordefinierten Fragen und Bewertungsmechanismen hilft unbewusste Wahrnehmungsverzerrungen (Unconscious Biases) zu minimieren.
3. Bewusstseinsbildung
- Altersdiversität sollte selbstverständlicher Teil des Diversity Managements sein und auch im Diversity Commitment des Arbeitgebers explizit genannt werden.
- Alle am Beurteilungsprozess Beteiligten sollten für sich den Impliziten Assoziationstest zu „Alter“ gemacht haben und gemeinsam als Recruiting Community die Einstellungen und Annahmen reflektieren und altersstereotype Schubladen Sei es in regelmäßigen Schulungen für die am Recruiting-Prozess Beteiligten oder durch quartalsweise ca. 45-minütige bis 1,5-stündige Community-Calls oder Recruiting Lunches. Dabei trifft sich die gesamte Recruiting Community oder Teile daraus virtuell oder analog, um Erfahrungen auszutauschen, Sonderfälle zu diskutieren, neue Maßnahmen (zum Beispiel Kampagnen) des Unternehmens vorzustellen und gute Beispiele zu teilen.
Natürlich hört es nicht mit dem Recruiting auf, damit ist nur ein Baustein im gesamten Mitarbeitenden-Lebenszyklus erfasst. Gerade Weiterentwicklungsmaßnahmen, interne Mobilitätsangebote aber auch Entwürfe für Führungslaufbahnen sind Teil einer altersgerechten Arbeitskultur. Dafür gibt es bereits viele elaborierte Toolkits und tolle Beispiele aus der Praxis. Das wichtigste von allen ist aber die Wertschätzung – vor einer Lebensleistung, die nicht an kalendarische Stichtage gebunden sein darf.
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