Wütende Frauen sind im Crash-Raum. Das ist ein Ort, an dem man Geld bezahlt und dann einen Vorschlaghammer oder einen Baseballschläger und eine Schutzbrille erhält. Je nach Gusto. Dann geht es in einen Raum, der an ein klassisches Wohnzimmer erinnert. Möbel im 70er-Jahre-Flair, Heavy-Metal-Musik dröhnt aus den Lautsprechern, und eine Stunde lang kann man alles zerstören. Auf den alten Fernseher dreschen. Die grässlichen Möbel zerhacken. Vasen und Tassen zerschlagen, bis ihre Scherben wie kleine Juwelen über den Boden verstreut liegen. Treten, schlagen, zerschmettern – man ist da ganz allein. Nur man selbst und die Wut. Ohne dass irgendjemand einen sieht. Klingt großartig, oder? Deshalb sind laut Christian Block, dem Betreiber eines Wutraums in Berlin-Lichterfelde, Frauen mit 70 Prozent die dominanteste Gruppe, die den Raum bucht.
In unserer Gesellschaft gibt es keinen Platz für die Wut von Frauen. Außer sie zahlen 150 Euro und gehen in einen geschlossenen Raum dafür.
Die Stärke wütender Frauen
Wütende Frauen sind stark. Starke Frauen sind schwierig. Und die will niemand haben! Susanne* O. ist seit 33 Jahren Krankenschwester. Als sie noch „am Bett“ auf der Intensivstation arbeitete, wurde sie die „Bitch der Station“ genannt. „Dabei finde ich den Begriff überhaupt nicht schlimm“, sagt sie. „Ganz im Gegenteil. Wir – ein paar Kolleginnen und ich – haben ihn uns erarbeitet. Die jungen Assistenzärzt:innen hatten Angst vor mir. Ich war ihnen in der Zusammenarbeit zu aufmüpfig, anstrengend und unbequem.“
„Frauen sind genauso ärgerlich wie Männer“, so Ursula Hess, Emotionsforscherin und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Wenn wir Männer und Frauen ins Labor holen – was wir öfter machen – und sie ärgern, bis sie sich richtig aufregen, reagieren Männer und Frauen gleichermaßen ärgerlich.“ Trotzdem denken wir, dass Frauen nicht so wütend sind wie Männer.
Die Forscherin Agenta H. Fischer fand 2000 durch ihre Arbeit Gender and Emotion: Social Psychological Perspective heraus, dass Männer eher bereit sind, sich in Situationen zu begeben, in denen Wut die Konsequenz sein wird. Frauen nicht. Sie regen sich zwar auch auf, vermeiden es aber, wütend zu werden. Die Psychologin Ursula Hess sagt: „Wut hat viele positive Elemente. Menschen, die ärgerlich reagieren, werden häufig auch als fähiger, kompetenter und kräftiger wahrgenommen.“ Genau das erlebt Susanne O. im Krankenhaus. Sie nutzt ihre Wut als Werkzeug. Ihre Wut ist in diesem Kontext nützlich. Dabei steht für sie der Schutz ihrer Patientinnen und Patienten an höherer Stelle als die gesellschaftlichen Normen. „Wut zu demonstrieren, hat auch viel damit zu tun, in was für einem Setting du dich bewegst. Ich bediene mich des Stereotyps der Drachenschwester. Dabei ist es mir egal, was die Leute über mich denken. Das macht mich frei“, sagt sie.
Susanne O. liebt ihre Wut. Sie umarmt sie. Für sie ist es eine warme Kraft. Andere unterdrücken sie lieber. Statistisch halten sich Frauen häufig zurück, damit Konflikte gar nicht erst stattfinden. Sie gehen gar nicht so weit, den Ärger zuzulassen.
„Eine wütende Frau verliert an Status, ganz gleich, in welcher Position sie ist“, stellte eine Forschungsgruppe um die US-Psychologin Victoria L. Brescoll von der Universität Yale fest. Sie zeigten den Teilnehmenden ihrer Studie Videos wütender Menschen. Ihr Resümee lautete: Die Wut der Männer wurde positiv gewertet, die der Frauen negativ. Der offene Umgang mit Wut ist bei Männern eine akzeptierte Verhaltensweise, Frauen hingegen müssen oft Ablehnung fürchten.
Ein Großteil der Frauen rastet lieber in einem geschlossenen Raum aus, weil wir ganz früh verinnerlichen, wie wichtig es für die öffentliche Wahrnehmung ist, dass wir unsere Anliegen freundlich vortragen. Sonst nimmt man uns nicht ernst.
Ein prominentes Beispiel dafür ist die ehemalige SPD-Chefin Andrea Nahles. Nach einem Jahr an der Spitze haben Medien vor allem an ihre laute Art und ihre ironischen „In die Fresse“- und „Bätschi“-Sprüche nach der Bundestagswahl 2017 erinnert. Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel oder Peer Steinbrück, der sich mit erhobenem Mittelfinger für ein Magazin-Cover ablichten ließ – sie waren rotzig, impulsiv. Jungs halt. Nahles aber war von Anfang an zu laut, zu dominant, zu wütend, auch wenn sich ihre Wortwahl und Ausdrucksweise kaum von der dieser Männern unterschied.
Die idealtypische Frau
Wir hängen häufig diesem Idealbild einer Frau nach, die über allem schwebt, der man nichts entgegenschleudern kann, weil sie so in sich ruht, dass alles an ihr abprallt. Eine Person, die eigentlich nichts fühlt. Genau dieses Bild einer Frau wird belohnt. Sie ist erstrebenswert, geduldig und sympathisch. Eine Frau, die auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht, für sich einsteht oder Raum einnimmt, gilt als schwierig.
Als sich Kamala Harris und Mike Pence bei der TV-Debatte zur Vizepräsidentschaft im November 2020 gegenüberstanden, wurde im englischsprachigen Raum das Wort Smirking, was zu deutsch Grinsen bedeutet, zum Inbegriff eines Phänomens, das viele Frauen vermutlich schon in ihrem Leben einsetzen mussten: das unterdrückte Wutlächeln. Die Augen werden klein, das Lächeln steif. Wir ballen also die Fäuste, graben unsere Nägel in unser eigenes Fleisch, beißen uns auf die Zunge und machen es irgendwie mit uns selbst aus. Versuchen, entspannt zu bleiben. Weil: This is a man’s world.
Die Emotionsforscherin Agneta H. Fischer schreibt in ihrem Buch Gender and Emotion, dass Frauen ihre Wut eher gegenüber einer vertrauten Person ausdrücken als vor Fremden. Was logisch klingt, nachdem öffentliches Ausrasten von Frauen einem gesellschaftlichen Tabu entspricht. Fischer entdeckte aber auch, dass die Wut von Frauen sich gegen Personen oder Objekte richten kann, die dem Grund ihrer Wut ähnlich sind. Wenn eine Frau beispielsweise sauer auf jemanden ist, der sie ghostet, aber es nicht schafft, das dieser Person klarzumachen, wird die nächste Person, die sie ghostet, als Projektionsfläche herhalten müssen.
Viele Frauen führen ein Doppelleben. Wir bewegen uns in einer Welt, in der wir nie so wütend sein dürfen wie Männer – auch wenn wir diese Emotion genauso intensiv und häufig fühlen. Manche Studien zeigen sogar, dass Frauen mehr Wut empfinden als Männer. Andere wiederum ergeben das Gegenteil. Allerdings zeigen Studien einheitlich, dass Frauen in ganz anderen Situationen wütend werden als Männer.
Medusa gilt als ein Symbol dämonisierter weiblicher Wut. Sie ist einst eine wunderschöne Frau gewesen und wurde von Poseidon, dem Gott des Meeres, vergewaltigt. Daraufhin verwandelte die Göttin Athene sie in ein Monster mit Schlangenhaaren und riesigen Zähnen. Sie konnte fortan allein mit ihrem Blick Menschen zu Stein erstarren lassen. Später schlägt Perseus, Sohn des Zeus, ihr den Kopf ab. Medusa war mächtig und wütend – und dennoch machtlos.
Frauen berichten über mehr Wut nach Verrat, Herablassung, Zurückweisung, unbedachter Kritik oder Nachlässigkeit, während Männer über mehr Ärger berichten, wenn ihre Partnerin launisch oder selbstbezogen ist. Männer sind also über alles sauer, was mit Frauen zu tun hat, und Frauen über alles andere. Dass so viele Frauen ihre eigene Wut nicht mögen und lieber zu Tränen statt zu Aggression greifen, ist keine natürliche Entwicklung, sondern wurde über Jahrhunderte kultiviert. Dass die Wut von Frauen quasi verboten wird, basiert laut der Psychologin Teresa Bernardez auf drei Faktoren. Erstens auf der gesellschaftlichen Stellung der Frau als Untergebenen, zweitens auf der gesellschaftlichen Notwendigkeit, Frauen in Dienstleistungsaufgaben zu halten, und drittens auf der Rolle des „weiblichen Ideals“, das in seiner Konstruktion sowohl die Unterordnung als auch das Dienen und Kümmern enthält.
Plädoyer für eine Wut-Katharsis
Ich plädiere für eine revolutionäre Wut-Katharsis. Ich möchte, dass wir anfangen, einander zu erklären, warum es in Ordnung ist, wütend zu sein. Nicht, weil die nicht ausgelebte Wut von Frauen die Ursache des Problems wäre. Es ist nur eine von vielen Auswirkungen. Sondern weil der Wille, die Wut von Frauen zu kontrollieren, aus einer Angst herrührt. Der Angst vor Rache. Der Angst vor echter Gleichbehandlung.
Wütend zu sein und mithilfe dieser Emotion eine Ungerechtigkeit zu ändern, ist ein betörendes Gefühl. Es ist die Erkenntnis, dass eine eigene Handlung wirksam ist. Im Zuge des Reclaimings, also der Rückeroberung, erlangen Frauen wieder Kontrolle über die Art und Weise, wie sie beschrieben werden, und damit über das eigene Selbstbild, Selbstkontrolle und Selbstverständnis. Wut ist nicht anstrengend, sondern mächtig. Wütende Frauen sind auch nicht anstrengend, sondern ermächtigend. In ihrer Arbeit definiert die Autorin Robin Brontsema, dass es mindestens drei identifizierbare Ziele im Rückeroberungsprozess gibt.
Das erste Ziel ist die Bedeutungsumkehr. In Bezug auf Wut sollten wir sie nicht mehr als eine Schwäche bei Frauen assoziieren, sondern genau als das Gegenteil – als Stärke. Das zweite Ziel ist die Neutralisierung. Am Ende würde hier der Wunsch stehen, dass Wut einfach Wut ist. Unabhängig von normativen Rollen in unserer heteronormativen Gesellschaft. Der letzte Punkt ist die Stigmaausbeutung. Das bezieht sich auf die Verwendung von Begriffen als Erinnerung daran, dass eine bestimmte Gruppe ungerecht behandelt wurde.
Wir brauchen eine Bedeutungsumkehr. Aktuell wird die Wut von Frauen fehlinterpretiert. Gesellschaftlich müssen wir lernen, sie neu zu definieren. Geschichten von Wut-Vorbildern sollten bereits im Vorschulalter ein integraler Bestandteil der Wissensvermittlung sein, aber auch in Film und Fernsehen.
Wut ist nicht böse. Sie ist eine essenzielle Emotion. Böse Menschen sind wütend, und gute Menschen sind es auch. Wut ist auch kein Synonym für Zerstörung. Sie hat unterschiedliche Formen. Individuell müssen wir auf unseren eigenen Ärger hören, ihn annehmen und vor allem herausfinden, was er uns zu sagen versucht. Wut auszudrücken, ist Selbstliebe. Sie als Frau zu artikulieren, ist mutig. Dabei sollte es eigentlich normal sein.
Der nächste Schritt ist die Neutralisierung. Dass Wut zu dem wird, was sie eigentlich ist: eine normale Reaktion auf eine Ungerechtigkeit. Die Neutralisierung sollte sich nicht nur auf die Emotion beziehen, sondern auch auf die Personen, die sie ausdrücken. Damit alle Menschen den Raum erhalten, Wut auszudrücken. Damit wir als Gesellschaft lernen, einander zuzuhören. Damit wir schlussendlich zu einer gerechten Gesellschaft werden.
* Name von der Redaktion geändert.
Dieser Essay ist ein Abdruck ausgewählter Passagen aus dem Buch Wut und Böse. Es ist im September 2021 im Verlag hanserblau erschienen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Risiko. Das Heft können Sie hier bestellen.