Neurodiversität: Wo bisheriges Leadership versagt

MENTAL BREAK(DOWN)

Kurz vor 8 Uhr morgens, ich schaue hoch zu einem großen grauen Gebäude, das vor mir aus dem Boden wächst. Es ist hässlich, ein farbloser Klotz mit viel zu wenigen Fenstern. Das Innere ist beleuchtet von grellweißen Lampen, Tageslicht ist nur ein Wunschtraum. Ich weiß genau – wenn ich dieses Gebäude betrete, wird mein Gesicht hinter einer Maske verschwinden. Ich werde verschmelzen mit einer Masse an Menschen, über Witze lachen, die ich nicht lustig finde, und mich der allgemeinen Ellenbogen-Mentalität anpassen, um nicht unterzugehen. Das Gebäude ist mein Arbeitsplatz, und die Menschen meine Teamkolleg*innen, auch wenn ich die wenigsten von ihnen über ein Mindestmaß hinaus kenne. Die Maske ist selbst gebaut. Ich habe sie mir angeeignet, um ja nicht aufzufallen.

Ich wache auf – nur ein schlechter Traum. Trotzdem bleibt ein mulmiges Gefühl, denn der Traum erinnert mich an die Zeit, als ich die „klassische“ Berufslaufbahn als angestellte Arbeitnehmerin eingeschlagen habe. Stark überspitzt, aber nicht ganz ohne ein Fünkchen Wahrheit.

Viele organisationale Systeme – und auch mein alter Arbeitsplatz – fördern es nicht gerade, dass Menschen sich in ihrer Ganzheit zeigen und einbringen können. Sie müssen sich anpassen und verstellen, um vermeintlichen Normen zu entsprechen: In welchem Modus gearbeitet wird, wie sie aussehen müssen, was sie sagen dürfen und woran sie glauben sollen. Damit meine ich nicht nur Religionen, sondern auch alle anderen Wertesysteme, bis hin zu gängigen Wachstumsphilosophien. Auch neurodiverse Menschen wie ich müssen „Masking“ betreiben, um keine Nachteile zu haben – privat wie beruflich.

Kurzer Rückblick

Bereits in meinem vorherigen Beitrag habe ich über Neurodiversität gesprochen. Neurodiversität meint die Vielfalt menschlicher Nervensysteme, unter denen es wie bei Schneeflocken „niemals zwei sich völlig gleichende Exemplare gibt“. Jeder Mensch verarbeitet Informationen und Eindrücke auf eigene Art und Weise. Dabei gibt es keine „richtige“ oder „normale“ Art, die Welt zu erleben und mit ihr umzugehen. Weiterhin bin ich damals kurz auf die Bedeutung von Neurodiversität im Office und die Rolle von HR-Abteilungen in Bezug auf neurodiverse Mitarbeitende eingegangen. Heute möchte ich noch etwas weiter ausholen: Was passiert, wenn die Führungskraft selbst neurodivers ist?

Neurodiversität und Leadership

Mir sind zu diesem Thema bislang keine größeren Studien oder Handreichungen bekannt. Eine eigene Nachfrage beim KMU Förderprogamm des deutschen Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), ob es denn möglich sei, Mittel für KMUs zu beantragen, in denen die Geschäftsführung neurodivers (im zweiten Versuch: schwerbehindert) sei, wurde abgelehnt – solche Fälle würden nicht vorkommen, teilte mir das BAFA mit. Neurodivers und schwerbehindert sind nicht immer gleichzusetzen, aber ich hatte mir als neurodiverse Person Chancen auf eine Förderung für mein Unternehmen erhofft. Auch sonst wird in der Fachpresse kaum diskutiert, dass Leadership und Neurodiversität zusammengedacht werden. Ich möchte das aber zusammendenken.

Neurodiverse Führungskräfte gibt es häufiger als gedacht – ich kenne zahlreiche Egomanen, narzisstische Leader, Supergenies und Nerds, die Unternehmen gründen. Auch ich gehöre dazu. Ich hatte 2015 genug davon, mich als neurodiverse Frau in einer neurotypischen und männerdominierten Arbeitswelt einzufinden. Deshalb habe ich mein eigenes Unternehmen gegründet, das zu mir passt – und nicht umgekehrt. Heute, neun Jahre später und als Chefin von mittlerweile drei Unternehmen, ziehe ich das Fazit: Es läuft!

Und ich stelle mir die Frage: Braucht es eventuell diese Abweichungen von der Norm, um eine gute Führungskraft zu sein? Denn ich kann meine eigene Neurodiversität als Wettbewerbsvorteil nutzen. So ist unter anderem meine Angststörung ein Teil von mir und eine wichtige Ressource meiner Kreativität. Inzwischen habe ich außerdem gelernt, wie ich sie als Katalysator für meine Schaffenskraft einsetzen kann. Auch andere neurodiverse Menschen können viel: Menschen mit ADHS oder Autismus erwerben Wissen besonders schnell oder rufen es ab. Studien zeigen beispielsweise, dass unter Beschäftigten in der Mathematik die Quote an Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung bis zu neunmal höher ist als bei Menschen aus anderen nicht MINT-Fachgebieten, wie Simon Baron-Cohen, Sally Wheelwright, Amy Burtenshaw und Esther Hobson in der Studie Mathematical Talent is Linked to Autism 2007 feststellten. Auch der Anteil von Ingenieur*innen und Techniker*innen, die sich selbst als definitiv oder möglicherweise neurodivers identifizieren, ist höher als bei der allgemeinen Bevölkerung.

Obwohl ich meine Neurodiversität (und die von anderen Personen) als Superpower betrachte, gibt es einige Punkte, die ich für neurofreundliches Arbeiten im Team überdenken musste und die ich an dieser Stelle teilen möchte. Über die Berufsjahre hinweg habe ich gemeinsam mit meinem Team und unserer Kundschaft bereits einiges ausgetestet und gelernt:

1. Selbstakzeptanz und Selbstverständnis: Neurodiverse Führungskräfte sollten sich ihrer eigenen neurologischen Vielfalt bewusst sein und diese akzeptieren. Selbstverständnis hilft, die eigenen Stärken und Herausforderungen zu erkennen.

2. Vorbild sein: Die Forschung zeigt, dass das Outing von Führungskräften zu einer Entstigmatisierung beiträgt und die Hürde für andere Teammitglieder senkt, sich bei Bedarf Hilfe zu suchen, zum Beispiel bei einer Psychotherapie – ich habe davon sehr profitiert (Stichwort: Diana-Effekt). Sicherlich gilt das nicht für alle Arbeitsumgebungen und ist nicht in jedem Team uneingeschränkt möglich – allerdings sollten Führungskräfte kritisch hinterfragen, warum dies so ist und ob sie in diesem Bereich Pionierarbeit leisten könnten.

3. Stärken betonen: Neurodiverse Menschen haben oft einzigartige Fähigkeiten, wie zum Beispiel tiefes Fachwissen, Kreativität oder analytisches Denken. Diese Stärken sollten in der Führungsrolle hervorgehoben werden. Gleichzeitig müssen Führungskräfte die unterschiedlichen Perspektiven und Denkweisen ihrer Teammitglieder wertschätzen und nutzen. Für mich war es lange Zeit schwierig auszuhalten, dass andere im Team nicht intuitiv entscheiden, so wie ich es tue, sondern analytisch, ganz nach dem Motto: Welche Entscheidungskriterien gibt es – und erst mal eine Excel-Tabelle anlegen. Es braucht in einem Team jedoch beides: Intuition und Analytik.

4. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit: Führungskräfte sollten flexibel sein und sich an unterschiedliche Arbeitsstile und Kommunikationspräferenzen anpassen können. Dies ist besonders wichtig, wenn das Team aus neurodiversen und neurotypischen Mitarbeitenden besteht. Dazu gehören auch:

  • Virtuelle Meetings sind nicht schlechter als analoge Meetings. Ich persönlich schalte dabei oft meine Kamera aus beziehungsweise blende mein Bild aus. Oder ich wähle mich über das Handy in das Meeting ein und gehe währenddessen eine Runde spazieren. Ich finde übrigens: Wer sich dafür entscheidet, die Kamera einzuschalten, sollte nicht für die unordentliche Wohnung im Videohintergrund verurteilt werden!
  • Stichwort Meetings: Nicht alle müssen immer und überall dabei sein! Wir sind dazu übergegangen, Meetings zu kürzen und zu verkleinern (angelehnt an die Zwei-Pizzen-Regel von Amazon-Gründer Jeff Bezos: Alle Teilnehmenden müssen von zwei Pizzen satt werden können).
  • Kommunikationsvorlieben variieren und sollten respektiert beziehungsweise offen thematisiert werden. Eine E-Mail kann genauso viel wert sein wie ein Telefonat oder ein Meeting von Angesicht zu Angesicht. Bitte zwingt neurodiversen Menschen nicht eure Sichtweise auf (mein Favorit: „Das ist doch viel einfacher, wenn wir schnell telefonieren.“ oder „Lass uns das doch lieber persönlich besprechen“.) Neurodiverse Menschen leiden unter dem Druck, dass sie permanent soziale Konventionen erfüllen müssen, die als unabdingbar dargestellt werden.

5. Kommunikation und nochmal Kommunikation: Klare und präzise Kommunikation ist entscheidend. Neurodiverse Führungskräfte sollten ihre Erwartungen deutlich formulieren und sicherstellen, dass sie von ihren Teammitgliedern verstanden werden. Gern auch mal rückfragen, ob die eigene E-Mail verständlich war (zum Beispiel „Kannst du mir bitte kurz bestätigen, dass alle Punkte klar und verständlich sind? Bei Fragen gern bei mir melden 🙂 “).

6. Unterstützung und Barrierefreiheit: Organisationen sollten sicherstellen, dass neurodiverse Führungskräfte die notwendige Unterstützung erhalten, um erfolgreich zu sein. Dies kann Zugang zu Ressourcen, Schulungen oder individuellen Anpassungen des Arbeitsplatzes umfassen. Ich persönlich liebe mein Homeoffice und unser Silent Office im Büro – einen Raum, in dem nur eine Person arbeitet – wenn ich produktiv bin, brauche ich tiefen Fokus und möchte keine weiteren akustischen oder räumlichen Reize, die andere Personen in Büros unweigerlich mitbringen.

7. Auszeiten und Autonomie respektieren: Führungskräfte und Teammitglieder sollten ehrlich darüber sprechen, wer wann produktive Zeit und Fokuszeit hat. Ich beispielsweise mag es eigentlich nicht, wenn mir andere Menschen Termine in meinen Kalender setzen, weil ich mir meinen Tag gern selbst einteile und nicht fremdbestimmt sein möchte. Wer aber andere koordinieren will oder muss, muss auch erreichbar sein – bei mir ab 10.30 – davor ist meine Me-Time. Ich versuche, alle internen Dinge bis zum Mittag zu koordinieren, Mails und Tasks zu ordnen – nach meiner Regel: kleinere Tasks wegschaffen, um zu den größeren nachmittags zu kommen. Inzwischen nutze ich sogar einen Buchungslink für externe Termine (aber nur zwischen 11 und 16 Uhr) – so habe ich immer wieder Randzeiten für Tasks, die spontan aufkommen. Ab 18 Uhr arbeite ich nur am Laptop weiter, wenn es sein muss.

Interessierte sind herzlich eingeladen, der Gruppe neurodiwers – neurodiverse women* auf Linkedin beizutreten. Frauen* meint dabei alle, LGBTQIA+ eingeschlossen.

In dieser Gruppe können sich neurodiverse Frauen* treffen, netzwerken und Wissen teilen: über ihr Sosein in der Welt, Mental Health, Lebensentwürfe, Arbeitsleben, Berufsbeziehungen mit neurotypischen Menschen, Trigger, Skills und vieles mehr.

Warum gerade diese Gender-Einschränkung? In der Ausprägung von Neurodiversität und der (medizinischen) Forschung existieren einige Gender-Unterschiede und Lücken. Zum Beispiel äußert sich Autismus bei Frauen* teilweise anders und sie betreiben mehr „Masking“, sind also sozial weniger „auffällig“ und werden daher erst spät oder gar nicht diagnostiziert. Die Diagnose-Fragebögen enthalten einen male & child bias, das heißt, es werden Eigenschaften abgefragt, die vor allem bei Männern und Kindern beobachtet wurden.

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Simone Burel, Geschäftsführerin der LUB GmbH - Linguistische Unternehmensberatung

Simone Burel

Dr. Simone Burel ist Geschäftsführerin der LUB – Linguistische Unternehmensberatung, promovierte Sprachwissenschaftlerin und (Fachbuch-)Autorin. Ihre Arbeiten zu Sprache, Gender Diversity & Unternehmenskommunikation wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit der neuen Marke Diversity Company spezialisieren Burel und ihr Team sich auf einen neuen Schwerpunkt: Diversität in all ihren Dimensionen – neben den sechs klassischen Diversity-Dimensionen beschäftigen sie sich mit den unsichtbaren Faktoren soziale Herkunft und mentale Diversität. Das Thema Mental Health beschäftigt sie intern als Führungskräfte wie auch extern bei Kundinnen und Kunden

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