Unsere Arbeitswelt wird immer schnelllebiger und vernetzter. Da ist es nicht nur von Vorteil, wenn die eigene Leistung von Vorgesetzten und Teammitgliedern wahrgenommen wird. Auch außerhalb des Arbeitsplatzes rücken Menschen in Business-Netzwerken näher zusammen. Um aus der Masse herauszustechen, müssen wir Aufmerksamkeit erregen, gesehen und gehört werden. Während extrovertierten Personen dies aufgrund ihrer offenen Art scheinbar mühelos gelingt, empfinden Introvertierte den Schritt ins kommunikative Rampenlicht als herausfordernder. Dies liegt daran, dass sie den Kontakt zu vielen Menschen als kraftraubend empfinden.
„Introvertierte und extrovertierte Menschen haben unterschiedliche neurobiologische Bedürfnisse, die sich in ihrer Gehirnstruktur widerspiegeln“, erklärt Kommunikationsexpertin Sylvia Löhken dieses Phänomen. Introvertierte Menschen seien dabei nach innen gewandt und schöpften ihre Kraft aus Ruhe und Sicherheit. Extrovertierte Menschen hingegen beziehen ihre Energie aus äußeren Reizen. Beide Persönlichkeitsfaktoren kommen in der Bevölkerung zu etwa gleichen Teilen und in unterschiedlicher Ausprägung vor. Die verschiedenen Bedürfnisse führen jedoch zu unterschiedlichen Stressfaktoren, Präferenzen und Stärken in der beruflichen Zusammenarbeit oder beim Networking. Laut Löhken können sich Intro- und Extrovertierte sehr gut ergänzen. „Allerdings wird die Perspektive der Introvertierten nicht immer berücksichtigt.“
Energieräuber im Arbeitsalltag
Aufgrund des Energieverlustes durch äußere Reize gibt es beispielsweise Arbeitsumgebungen, die den Bedürfnissen von Introvertierten weniger entsprechen. So lauern in Großraumbüros mit all ihren Lärmquellen und fehlenden Rückzugsorten zahlreiche Energiefresser für introvertierte Mitarbeitende. Angebote wie Gleitzeitregelungen oder das Arbeiten im Homeoffice können dagegen für Introvertierte förderlich sein, ebenso die Möglichkeit, leere Konferenzräume als Rückzugsort zu nutzen. Auch digitale Kommunikationsmittel wie E-Mails oder Firmenchats kommen ihnen entgegen: „Generell liegt die Stärke von Introvertierten vor allem im Schriftlichen“, sagt Löhken. Diesen Umstand können Vorgesetzte und Arbeitgeber gezielt nutzen, etwa bei der Gestaltung von Meetings oder im Wissensmanagement.
Neue Perspektiven einbringen
Im Gegensatz zum Gespräch können Introvertierte ihre Gedanken beim Schreiben besser strukturieren. „Wenn ich die Wahl habe, eine E-Mail zu schreiben oder anzurufen, ziehe ich immer die E-Mail vor“, meint Löhken. Introvertierte könnten sich so mehr Zeit nehmen, um genau zu überlegen, was sie mitteilen wollen, und äußere Reize reduzieren. Auch für die Vorbereitung von Meetings könne es hilfreich sein, Fragen vorab schriftlich einzureichen. Bei der Wissenssicherung würden digitale Werkzeuge eine wichtige Rolle spielen. Mit Wiki-Software oder Produktivitätsplattformen können Introvertierte ihre Stärken in der schriftlichen Kommunikation ausspielen.
Doch nicht überall lässt sich der Arbeitsalltag ins Schriftliche verlagern. Bei aufkommenden Diskussionen etwa. „Doch auch hier müssen sich Introvertierte nicht von der Schnelligkeit des Schlagabtauschs überwältigen lassen“, rät Löhken. Anstatt passiv zuzuhören und keinen Anschluss in der Diskussion zu finden, könnten introvertierte Mitarbeitende sich auf übergeordnete Fragen fokussieren. Besonders wenn sie merken, dass andere sich in Diskussionen verrennen, können sie durch das aufmerksame Zuhören kritische Leitfragen und übergeordnete Probleme adressieren sowie Standpunkte zusammenfassen. So lassen sich Konflikte zielführend lenken. „Manchmal fürchten sich Introvertierte davor, in den Vordergrund zu treten. Sie haben etwa Sorge, dass andere das als Angeberei auslegen würden“, sagt Löhken. „Dabei ist es wichtig, seine Leistung im Unternehmen sichtbar zu machen.“ Dann könne es helfen, den Fokus auf den eigenen nützlichen Beitrag zur Gruppe zu lenken. „Indem ich mein Wissen zur Verfügung stelle, bringe ich das Team weiter. Diese Perspektive kann helfen, Zurückhaltung zu überwinden.“
Die meisten Führungskräfte wissen, dass ihre extrovertierten und introvertierten Teammitglieder unterschiedliche Stärken haben. Dennoch werden Introvertierte manchmal zu Unrecht unterschätzt, vor allem wenn es um die Vernetzung im Unternehmen geht. „Viele introvertierte Mitarbeitende sind für ihr Team ein Fels in der Brandung und im Unternehmen gut vernetzt. Manchen Führungskräften falle dies aber zunächst nicht auf, da Introvertierte eher im Hintergrund agieren“, teilt Sylvia Löhken ihre Erfahrungen als Beraterin. Auch leise Kolleginnen und Kollegen seien intern gut vernetzt, pflegen eher effektiv Eins-zu-eins-Verbindungen oder Kontakte in Kleingruppen. Zudem gelten sie als integre und vertrauenswürdige Persönlichkeiten. „Introvertierte Menschen schätzen Sicherheit und geben daher oft auch anderen Menschen gern dieses Gefühl.“
Die eigene Stimme finden
Und nicht nur am Arbeitsplatz selbst ist es von Vorteil, gut vernetzt zu sein. Ein gepflegtes Profil in Business-Netzwerken rundet für viele die berufliche Persona erst richtig ab. Ein Ausgangspunkt, um neue Kontakte zu knüpfen. Und wer kann es sich überhaupt leisten, heutzutage nicht sichtbar zu sein?
Als introvertierte Person in sozialen Netzwerken sichtbar und aktiv zu sein, ist für Amelie Schürer kein Widerspruch. Sie arbeitet als Entrepreneur in Residence bei HR Heroes und leitet das gleichnamige Netzwerk. Dieses entstand aus der Erkenntnis, dass es – ähnlich ihrer eigenen Berufsbiografie – viele Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger im Personalmanagement gibt, aber wenig Austauschmöglichkeiten. „Damals hätte ich mir diesen Austausch sehr gewünscht“, sagt sie im Gespräch. „Ich merke, dass ich als Introvertierte ein sehr feines Gespür für die Emotionen anderer Menschen habe und mir das beim Netzwerken hilft.“
Online-Veranstaltungen und soziale Netzwerke kommen ihrer Meinung nach introvertierten Menschen sehr entgegen. „Manche Netzwerkveranstaltungen finden ausschließlich offline statt. Da gibt es dann wiederkehrende Frühstücks- oder Abendformate. Aber manche möchten nach der Arbeit lieber daheim für sich sein und ihre Ruhe haben.“ Digitale Netzwerke könnten diese Lücke füllen. Sich digital zu einem Event dazuzuschalten oder noch Nachrichten oder Kommentare auf Social Media zu verfassen, fällt in solchen Situationen leichter. Das liegt auch daran, dass Introvertierte dort weniger bis keinen Zeitdruck beim Verfassen von Nachrichten oder Kommentaren verspüren. Sie bestimmen das Tempo und die Anzahl der Interaktionen selbst.
Amelie Schürer folgen auf dem Business-Netzwerk Linkedin mittlerweile rund 4.300 Personen (Stand Januar 2024). Sie erinnert sich noch gut an ihre Anfänge in den sozialen Medien. „Am Anfang dachte ich, sehr laut sein zu müssen, weil nur diese Menschen auf Social Media sichtbar sind.“ Bis dort die eigene Stimme gefunden wird, kann es etwas dauern. Für Social Media hatte Schürer sich bewusst jede Woche Zeit eingeplant, digitale Kaffees getrunken oder Veranstaltungen besucht. Dort habe sie schon einmal überraschte Rückmeldungen erhalten, dass sie ja introvertiert sei – aber dennoch so sichtbar. „Da habe ich gemerkt, dass es offenbar eine Diskrepanz in der Wahrnehmung gibt. Dabei schließt sich nicht aus, dass ich introvertiert bin und trotzdem sichtbar sein möchte.“ Mittlerweile wüssten die meisten Menschen, dass Schürer eher introvertiert ist. Zumal sie auf Linkedin ganz offen dazu postet. Von einigen Usern erreichen sie Stimmen, dass sie für ihre Online-Präsenz eine extrovertierte Version ihrer Selbst präsentieren – oder zumindest so wahrgenommen werden. Schürer selbst verspürt dieses Bedürfnis nicht mehr. „Am Ende zahlt es sich vor allem aus, zur eigenen Persönlichkeit zu stehen und authentisch zu sein.“
Sicherheit durch Vorbereitung
Grundsätzlich unterscheiden sich die generellen Netzwerkstrategien von extrovertierten und introvertierten Menschen nicht – nur die Umsetzung variiert. Das erklärt Lisa Weihrauch, Coachin für introvertiertes Networking. Die promovierte Psychologin untersuchte in ihrer Doktorarbeit, welche Faktoren – außer der Persönlichkeit – einen Einfluss auf den Erfolg beim Netzwerken haben, wie zum Beispiel die Selbstwirksamkeit. Dabei ist der Introvertierten bewusst geworden, wie ihre eigenen Netzwerkmethoden aussehen.
Am Anfang des Netzwerkaufbaus sollte das berufliche Ziel geklärt werden. Zu Beginn steht die Überlegung, welche mittel- und langfristigen Ziele verfolgt werden sollen. Es folgen Fragen wie: Wie sieht das eigene Netzwerk momentan aus? Welche Kontakte bringen mich beruflich weiter? Wie viel Zeit benötige ich für Netzwerkaufbau und -pflege? Und wo finde ich meine relevanten Kontakte? „Personen sollten auch reflektieren, was ihre Expertise ist und wie sie damit anderen Menschen helfen können“, erläutert Weihrauch. Gewinnbringendes Netzwerken ist keine Einbahnstraße. Zudem könne es vielen Menschen helfen, all diese Punkte schriftlich festzuhalten. Vorbereitung gebe Sicherheit, so können Introvertierte im Gespräch flexibler agieren. Denn während es für Extrovertierte kein Problem sei, auf Veranstaltungen andere Menschen anzusprechen, könne dies für Introvertierte ein echter Stressfaktor sein. „Netzwerken wird durch Übung leichter.“ Angehende Netzwerkerinnen und Netzwerker können ausprobieren, bei welchen Veranstaltungsgrößen oder -arten sie sich am wohlsten fühlen.
Letztlich lasse sich nicht sagen, wer die erfolgreichsten Netzwerkerinnen und Netzwerker sind – ob nun die Extrovertierten oder die Introvertierten. Das hält Sylvia Löhken fest. „Allerdings fällt auf, dass einige der herausragendsten Netzwerkerinnen und Netzwerker, wie zum Beispiel Mark Zuckerberg, introvertiert sind. Das zeigt, dass ganz verschiedene Ansätze zu großem Erfolg führen können.“
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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Miteinander. Das Heft können Sie hier bestellen.