Neurodiversität: Die geheime Superpower

MENTAL BREAK(DOWN)

Seit ich mich aktiv erinnern kann, habe ich mich „anders“ gefühlt. Als Kind habe ich meine Kuscheltiere streng in einer Reihenfolge angeordnet und meinen Eltern gesagt, wie sie im Falle meines Todes mit in den Sarg kommen. Damals war ich drei Jahre alt. Im Alter von fünf Jahren kam dann die erste Psychotherapie. Später dann Depressionen, Zwangsstörung, atypische Magersucht, Generalisierte Angststörung (GAS), Panikattacken, chronische Schmerzen und ein Tinnitus … Für dieses „Anderssein“ gibt es inzwischen einen Begriff: Ich bin neurodivers.

Neuro-was? Eine kleine Begriffsgeschichte

Der Begriff ist im deutschen Sprachraum noch relativ neu und wird teilweise uneinheitlich gebraucht. So werden synonym auch die Bezeichnungen „Neurodivergenz“ oder „mentale Diversität“ verwendet. Ich persönlich bevorzuge für mich „neurodivers“ und damit bin ich nicht allein. „Neurodivers“ und „Neurodiversität“ werden im deutschen Sprachgebrauch besonders häufig verwendet, und wahrscheinlich wird sich das auch mittel- bis langfristig so durchsetzen. Diese Erkenntnis speist sich aus der Auswertung von 40 wissenschaftlichen Artikeln zum Thema sowie einer allgemeinen Suchanfrage über Google, zehn Expert interviews, der Kommunikation in meiner Linkedin-Gruppe Neurodiverse Frauen* , und der Arbeit für mein Buchprojekt Neurodiversität – Die neurodhidden Champions.

Für den Psychologen André Frank Zimpel bezeichnet Neurodiversität die Vielfalt menschlicher Nervensysteme, unter denen es wie bei Schneeflocken, „niemals zwei sich völlig gleichende Exemplare gibt“. Jeder Mensch verarbeitet Informationen und Eindrücke auf seine Weise. Dabei gibt es keine „richtige“ oder „normale“ Art, die Welt zu erleben und mit ihr umzugehen. Menschen mit neurologischen Unterschieden wie beispielsweise ADHS oder Autismus sollten nicht als anders, sondern als Teil der Vielfalt betrachtet werden.

Die anderen Menschen gelten als „neurotypisch“. Ursprünglich wurde dieser Begriff ausschließlich für Menschen genutzt, die nicht ausdrücklich autistisch sind. Heute hat sich die Bedeutung erweitert: Neurotypische Menschen entsprechen demnach der neurologischen und medizinischen Norm und weisen keine definierten neurologischen Unterschiede auf. Eigentlich gibt es aber niemanden, der wirklich als neurotypisch bezeichnet werden kann – denn für das menschliche Gehirn gibt es schlichtweg keine festgelegte Norm.

Während sich viele Diskurse um Neurodiversität vor allem um ADHS und Autismus drehen, gibt es auch ganzheitlichere Ansätze, die eine Vielzahl von Phänomenen beschreiben, die unter den Oberbegriff „Neurodiversität“ fallen: Neurodiverse Menschen, die aus der Mehrheit herausstechen, weisen danach besondere kognitive Merkmale auf – manchmal nur in bestimmten Lebensphasen, und nicht zwangsläufig pathologisch oder medizinisch diagnostiziert.

Unter Neurodiversität gefasst werden beispielsweise:

  • ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
  • Angststörungen
  • Aphantasia (Menschen ohne visuelles Vorstellungsvermögen)
  • Autismus
  • Bipolarität
  • Borderline
  • Chronische Krankheiten, Schmerzen und spezifische Krankheiten (zum Beispiel Endometriose)
  • Depressionen
  • Dyskalkulie (Rechenschwäche)
  • Dyslexie (Leseschwäche)
  • Dyspraxie (Koordinations- und Entwicklungsstörung)
  • Hochbegabung
  • Hochsensibilität (dazu zählen auch Reaktionen auf Chemikalien oder elektromagnetische Felder)
  • Lern- und Entwicklungsstörungen
  • Lese- und Rechtschreibstörungen (LRS)
  • Synästhesie
  • Tourette & Tics
  • Trauma und sozialer Ausschluss
  • Zwangsstörungen

Warum ist Neurodiversität wichtig?

Neurodiversität bedeutet, Unterschiede in der mentalen Verfassung von Menschen zu normalisieren und nicht in „psychisch krank“ und „psychisch gesund“ zu unterteilen. Es ist eine Frage der Einstellung, ob Unterschiede in der mentalen Verfassung als „Störung“ oder nur als spezifische Organisation des gedanklichen Systems behandelt werden. Durch das Nutzen eines neuen Begriffs (in der Linguistik auch „Reframing“ genannt) können wir uns von der pathologisierenden Sicht von medizinischen Diagnosen entfernen und eine positivere, wertschätzende Sichtweise auf „Andersartigkeit“ schaffen.

Statt Defizite zu betonen, sollten wir die Stärken neurodiverser Menschen erkennen und fördern. Diese individuellen Fähigkeiten können für Unternehmen von großem Nutzen sein – neurodiverse Menschen sind geradezu geniale Mitarbeitende! Sie haben eigene Denkweisen und Perspektiven auf Dinge und verarbeiten Informationen anders. Dadurch können sie sich auf bestimmte Fachgebiete spezialisieren oder innovative Ideen einbringen. Beispielsweise erkennen hochsensible Personen oft Details oder Stimmungen im Team, die anderen entgehen.

Neurodiversität im Büro – Klarheit und Begrenzung

Die heutige Arbeitswelt sucht besonders nach neurotypischen Menschen mit einem Fokus auf extravertierte Menschen, die „laut“ sind und Eigenschaften wie „durchsetzungsfähig“ und „aufgeschlossen“ aufweisen. Für viele Neurodiverse, unter anderem auch Introvertierte, deren Beiträge und Ideen weniger Anerkennung finden, ist das ein Problem. Dabei können sie oftmals besser zuhören, treffen Entscheidungen auf der Grundlage von mehr Informationen und fördern Kooperation statt „survival of the loudest“. Wenn die Unternehmenskultur nur auf Neurotypische ausgerichtet ist, gehen wichtige Ideen und Perspektiven verloren. Es braucht vielfältigere Angebote für unterschiedliche Persönlichkeitstypen, damit die Arbeit aller sichtbar wird und in ihren Inhalten anstatt in ihrer Lautstärke beurteilt werden kann. Davon profitieren alle, denn durch die höhere kollektive Intelligenz können gemischte Teams effektiver und produktiver arbeiten.

Doch wie kann das Büro optimal gestaltet werden, um produktive Arbeit auch zu ermöglichen? Es gibt viele Stellschrauben, um die Büroräume angemessen zu gestalten – übrigens nicht nur für neurodiverse Mitarbeitende. Wichtig sind beispielsweise:

  • ergonomische Arbeitsplatzeinrichtung: durch höhenverstellbare Schreibtische, Arbeitspulte oder besonders fancy, Bürotische mit Laufband (auch gern fürs Homeoffice, was allen Neurodiversen als Safe Space besonders wichtig ist)
  • dimmbares Licht: anpassbare Lichtquellen und Zugang zu natürlichem Licht, Arbeit mit Sichtschutz oder Pflanzen zwischen den Tischen
  • angenehme Akustik: reiz- und geräuscharme Büros (mit Zugang zu Noise-Cancelling-Kopfhörern oder Sound-Oasen (mein Tinnitus liebt zirpende Grillen!))
  • klares Bewegungsleitsystem: beispielsweise farbliche Kennzeichnung von Hauptausgängen oder deutliche Beschilderung in Gebäuden, das reduziert Stress und den Aufwand bei kognitiven Prozessen
  • gute Luftqualität: durch Luftfiltersysteme, was nicht nur die Sauerstoffaufnahme im Gehirn fördert, sondern auch bei Allergien unterstützend wirkt (Obacht: mit Raumduft sparsam umgehen und gegebenfalls austesten)
  • Raumaufteilung und Zoning: ausgewiesene Ruhezonen (Klangoasen, Massage-Sessel oder Liegemöglichkeiten) oder abgeschirmte Safe Spaces zum Telefonieren wechseln sich ab mit Community-Bereichen oder Kreativzonen zum Austauschen. (Zoning am Arbeitsplatz bezieht sich auf die Aufteilung eines Arbeitsbereichs in verschiedene Zonen oder Bereiche, um eine getrennte Steuerung von Temperatur, Beleuchtung oder anderen Umgebungsbedingungen zu ermöglichen)

(Quelle: Neurodiversity in the office. How to Create Neuroinclusive Workspaces?)

Diese ergonomisch-sensorischen Anpassungen sind das Eine. Zusätzlich braucht es aber flexible Arbeitsregelungen – für viele neurodiverse Menschen Kernelement ihrer Produktivität. Manche arbeiten besser zu bestimmten Tageszeiten, andere benötigen mehr Pausen in ihrem Tagesverlauf. Dies kann auch eine schweigende Mittagspause sein, weshalb große Konzerne wie BASF bereits Schweigetische oder Silent Zones in der Zen-Tradition in ihrer Kantine eingeführt haben.

Neurodiversität und Recruiting – a good match!

Auch HR-Abteilungen können aktiv zur Inklusion von Neurodiversität im Unternehmen beitragen: So können sie Mitarbeitende und Führungskräfte mithilfe von Schulungen und Workshops für Neurodiversität sensibilisieren und dadurch das gegenseitige Verständnis fördern.

Im Recruiting und Onboarding wiederum können Talente mit neurodiversen Merkmalen gezielt angesprochen werden, indem HR-Abteilungen Stellenausschreibungen umformulieren und unterschiedliche Auswahlverfahren anbieten. Aber nicht für alle passt das klassische Vorstellungsgespräch. Warum nicht mal ein Vorstellungsvideo? Detailorientierung, Out-of-the-Box-Denken und Resilienz sind Kompetenzen, die neurodiverse Menschen mitbringen und die manchmal untergehen. Muster zu erkennen oder Fehler zu beheben (das sogenannte Debugging), weshalb Menschen im Autismus-Spektrum in der IT geschätzt sind, kann auch in anderen Bereichen hilfreich sein. Zum Beispiel im Lektorat oder bei der Prüfung von DNA-Sequenzen. Es ist immer wichtig, die individuellen Lebensläufe und Erfahrungen der Bewerbenden zu berücksichtigen: People first also! Menschen sind einzigartig, genau wie ihre Bedürfnisse, ihr Selbstverständnis und auch ihre Sicht auf Neurodiversität. Führungskräfte stoßen dabei mit klassischen Führungsstilen oft an ihre Grenzen. Denn Stereotype rund um Neurodiversität halten sich hartnäckig und behindern Personalentscheidungen. Die Folge davon sind homogene neurotypische Gruppen und mangelnde Aufstiegschancen für clevere Köpfe.

Derzeit wird Neurodiversität in der medialen Aufmerksamkeit der HR-Fachwelt mehr und mehr als wirtschaftlicher Faktor erkannt. Es bleibt abzuwarten, ob Personalverantwortliche und Führungskräfte bereit dafür sind, ausgetretene Pfade zu verlassen und sich neurointegrativ weiterzuentwickeln – bis zum Punkt Leadership. Darüber werde ich gern in der nächsten Kolumne berichten.

Interessierte sind herzlich eingeladen, der Gruppe Neurodiverse Frauen* auf Linkedin beizutreten. Frauen* meint dabei alle, LGBTQIA+ eingeschlossen.

In dieser Gruppe können sich neurodiverse Frauen* treffen, netzwerken und Wissen teilen: über ihr Sosein in der Welt, Mental Health, Lebensentwürfe, Arbeitsleben, Berufsbeziehungen mit neurotypischen Menschen, Trigger, Skills und vieles mehr.

Warum gerade diese Gender-Einschränkung? In der Ausprägung von Neurodiversität und der (medizinischen) Forschung existieren einige Gender-Unterschiede und Lücken. Zum Beispiel äußert sich Autismus bei Frauen* teilweise anders und sie betreiben mehr „Masking“, sind also sozial weniger „auffällig“ und werden daher erst spät oder gar nicht diagnostiziert. Die Diagnose-Fragebögen enthalten einen male & child bias, das heißt, es werden Eigenschaften abgefragt, die vor allem bei Männern und Kindern beobachtet wurden.

Weitere Kolumnenbeiträge zu diesem Thema:

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Simone Burel, Geschäftsführerin der LUB GmbH - Linguistische Unternehmensberatung

Simone Burel

Dr. Simone Burel ist Geschäftsführerin der LUB – Linguistische Unternehmensberatung, promovierte Sprachwissenschaftlerin und (Fachbuch-)Autorin. Ihre Arbeiten zu Sprache, Gender Diversity & Unternehmenskommunikation wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit der neuen Marke Diversity Company spezialisieren Burel und ihr Team sich auf einen neuen Schwerpunkt: Diversität in all ihren Dimensionen – neben den sechs klassischen Diversity-Dimensionen beschäftigen sie sich mit den unsichtbaren Faktoren soziale Herkunft und mentale Diversität. Das Thema Mental Health beschäftigt sie intern als Führungskräfte wie auch extern bei Kundinnen und Kunden

Weitere Artikel