Wie entkomme ich der Stressfalle?

MENTAL BREAK(DOWN)

Gestresste Eltern, Burnout-gefährdete Mitarbeitende und überforderte Jugendliche – wo ich auch hingucke, die Gesellschaft scheint unter dem Druck der vielen Anforderungen und hohen Erwartungen zusammenzubrechen. Aber ist Stress immer schlecht? Wie unterscheide ich zwischen produktivem und destruktivem Stress? Und was kann ich gegen Letzteren tun, um nicht in der Klinik zu landen?

Wenn ich über eine grüne Ampel laufe und sehe, wie ein Auto ungebremst auf mich zurast, passiert so Einiges in meinem Körper: Atmung und Herzschlag werden schneller, die Pupillen größer. Kurz: Mein Körper bereitet sich auf die Flucht vor, denn es droht Gefahr. Was ich in meinem Körper spüre, ist Stress. Und ich merke: Eigentlich ist Stress nicht immer etwas Schlechtes. Er kann aufmerksamer und leistungsfähiger machen, wenn es drauf ankommt. Stress kann aber auch nahezu lähmen, wenn er chronisch wird.

Wer fühlt sich hier gestresst?

Ab und zu gestresst fühlen sich zwei Drittel der Deutschen – und das ist auch nicht weiter problematisch. Aber nicht zuletzt seit Corona gilt: Die Stress-Tendenz ist steigend. „Der subjektiv empfundene Stress hat in den vergangenen Jahren noch mal signifikant zugenommen“, sagt der Vorsitzende der Techniker Krankenkasse (TK) Jens Baas. Im Vergleich zu 2013 waren im Jahr 2021 laut der TK-Studie 30 Prozent mehr Menschen „häufig gestresst“. Insbesondere Familien mit Kindern im Haushalt fühlten sich dabei in Zeiten der Pandemie deutlich stärker belastet. Angesichts von Homeoffice und parallelem Homeschooling ist dies keine Überraschung. Neben dem schwer bezifferbaren individuellen Leid der Betroffenen entsteht dadurch ein ganz deutlicher volkswirtschaftlicher Schaden: Über 8 Milliarden Euro kostet uns der ganze „Spaß“. Das entspricht dem Jahreshaushalt von Mecklenburg-Vorpommern!

Ist Stress gleich Stress?

Natürlich nicht. Stress ist, wenn unser Körper durch innere und oder äußere Reize so beansprucht wird, dass er Energiereserven für Kampf- oder Fluchtreaktionen freisetzt (fight oder flight). Weil der Körper dann durch die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol in Alarmbereitschaft versetzt wird, empfinden wir Stress auch als so anstrengend.

Der produktive Eustress aktiviert und motiviert uns – wir können dadurch rationaler denken, sind aufmerksamer und emotional ausgeglichener: Zum Beispiel, wenn ich gut vorbereitet in dem Auswahlgespräch für meinen Traumjob sitze und dabei feststelle, dass die Recruiterin eine alte Freundin aus dem Studium ist.

Der destruktive Distress hingegen reduziert unsere Aufmerksamkeit, macht uns apathisch oder kann uns sogar in Panik versetzen: Zum Beispiel, wenn ich schlecht vorbereitet in dem Auswahlgespräch für meinen Traumjob sitze und dabei feststelle, dass die Recruiterin eine alte Freundin meines Mitbewerbers ist.

Auswirkungen von Stress

Stress-Risiken

1. Stress steht in Verbindung mit…

… sechs der häufigsten vermeidbaren Todesursachen, also mit Herz-Kreislauferkrankungen, Unfällen, Krebs, Lebererkrankungen, Lungenerkrankungen und Suiziden.
… eingeschränkter geistiger Leistungsfähigkeit, Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen.
… Aggressionen und Konflikten in Beziehungen.

Stress-Chancen

2. Stress steht in Verbindung mit…

… verbesserter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit … verbesserter Immunfunktion, Erholungsfähigkeit und Muskelaufbau.
… verstärktem Engagement bei der Arbeit & verstärkter Motivation.
… hormoneller Verbesserung der Merk- und Lernfähigkeit des Gehirns.
… Persönlichkeitsentwicklung in Form von sogenanntem stress-related growth (deutsch: posttraumatisches Wachstum).

Quelle: Douma, Y. (2020). Was wir in der Corona-Krise aus der Geschichte der Stressforschung lernen können. Barmer. Zuletzt abgerufen am 6. November 2023.

Was stresst uns denn so?

Kommt drauf an! Prinzipiell gibt es zwei Sorten von Stressoren: mentale und soziale. Mentale Stressoren machen wir uns selbst. Hier geht es um die individuelle Bewertung von Situationen, Hindernissen oder Problemen. Was eine Person als lähmenden Zeitdruck empfindet, motiviert die andere zu kreativen Höchstleistungen. Soziale Stressoren bereiten uns die anderen. Ganz nach Jean-Paul Sartres Motto: „l‘enfer – c‘est les autres“ („Die Hölle, das sind die Anderen“). Während ein extravertierter Mensch bei mangelnder Interaktion und Integration sozial eingeht, komme ich als introvertierter Mensch im gesellschaftlichen Scheinwerferlicht ordentlich ins Schwitzen. Und gerade, weil die Wirkung von Stressoren so individuell ist, muss jeder Mensch für sich herausfinden, welche das sind und welcher Umgang der passende ist.

Wie lässt sich Stress vermeiden?

Gar nicht – das war eine Fangfrage. Stress haben wir immer, sowohl Eu- als auch Distress. Bei Distress geht es also darum, den aufkommenden Stress zu managen. Die evolutionsbiologischen Möglichkeiten – Flucht oder Kampf – haben im Arbeitsalltag aber wenig Erfolgschancen. Spannenderweise hat sich herausgestellt, dass sich die Stressforschung bisher allzu sehr auf die typischen Stressreaktionen von Männern fokussiert hat. Eine tendenziell eher weibliche Stressreaktion – von der wir für die Arbeitswelt viel lernen können – ist die Tend-and-befriend-Reaktion. Denn wären unsere Vorfahren bei jedem Problem weggerannt oder in den offenen Konflikt gegangen, hätten wir wohl kaum überlebt. Durch das „Kümmern und Anschließen“ konnten sich insbesondere die Menschen in Gefahrensituationen schützen, für die Flucht oder Kampf keine Option war, also vorwiegend Alte, Schwache und Frauen mit Kindern. Und das Schöne daran: Statt dem aggressiven Stresshormon Adrenalin wird bei der Tend-and-Befriend-Reaktion das „Liebeshormon“ Oxytocin freigesetzt. Dadurch werden wir nicht nur mitfühlender und sozialer, sondern auch mutiger.

Was lernen wir daraus für Distress? Sich mit einer Situation anzufreunden und sich um andere und sich selbst zu kümmern, sind wirkungsvolle Stress-Management-Methoden – die übrigens erlernt werden können. Wie sieht das praktisch aus?

1. Radikale Akzeptanz

Der meiste Stress entsteht nicht durch den Stressor selbst, sondern durch die emotionale Reaktion beziehungsweise Resistenz gegen etwas, was wir nicht kontrollieren oder verändern können, lange Supermarktschlangen beispielsweise. Ob ich mich aufrege oder nicht, da stehe ich nun erst einmal 20 Minuten mit meinem Einkaufswagen. Darüber muss ich mich nicht freuen. Aber wenn ich akzeptieren kann, just in diesem Moment nichts an der Situation ändern zu können, beruhigt das den Geist. Ich freunde mich somit mit einer Situation an, indem ich sie neutral betrachte, anstatt sie zu verurteilen.

2. Fokus auf andere(s)

Indem ich mich auf andere Menschen oder Dinge konzentriere, lenke ich mich a) vom Stressor ab, beschäftige b) den Geist anderweitig und kann c) ein positives Gefühl erzeugen. Wie? Ich könnte zum Beispiel Menschen im Park beobachten, eine Dankeschön-Notiz an eine Kollegin schreiben oder der Person im Café hinter mir das Getränk bezahlen, ohne dass sie weiß, dass es von mir stammt. Je mehr wir selbstlos für andere tun, desto besser fühlen wir uns.

3. Selbst-Beruhigung

Distress spannt an. Wenn wir entspannt sind, funktionieren wir besser, denken klarer und arbeiten effizienter. Also gönne ich mir ab und zu einen Moment der Selbst-Beruhigung. Im Büro steht leider keine Badewanne mit Kerzenschein? Kein Problem. Eine gute Alternative ist ein Foto von Menschen oder von einem Ort, an den ich schöne Erinnerungen habe. Das Foto gucke ich mir kurz an, wenn es stressig wird. Und im Herbst sammle ich gerne frische Kastanien, weil mir die Berührung ihrer glänzenden glatten Oberfläche gute Laune macht.

4. Neue spürbare Empfindungen kreieren

Raus aus der Routine – hierfür kann ich beispielsweise einen Eiswürfel aus der Büroküche holen und ihn auf der Hand schmelzen lassen. Dabei achte ich bewusst auf meine körperlichen Reaktionen. In der Mittagspause gehe ich in das Café gegenüber und trinke ein Getränk, das ich noch nicht kenne. Neue Empfindungen lenken von negativen Emotionen ab, holen uns in den Moment zurück und können auch neue, positive Gefühle auslösen. Wer hätte gedacht, dass Mate-Limo mit Bananengeschmack tatsächlich schmeckt?

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Simone Burel, Geschäftsführerin der LUB GmbH - Linguistische Unternehmensberatung

Simone Burel

Dr. Simone Burel ist Geschäftsführerin der LUB – Linguistische Unternehmensberatung, promovierte Sprachwissenschaftlerin und (Fachbuch-)Autorin. Ihre Arbeiten zu Sprache, Gender Diversity & Unternehmenskommunikation wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit der neuen Marke Diversity Company spezialisieren Burel und ihr Team sich auf einen neuen Schwerpunkt: Diversität in all ihren Dimensionen – neben den sechs klassischen Diversity-Dimensionen beschäftigen sie sich mit den unsichtbaren Faktoren soziale Herkunft und mentale Diversität. Das Thema Mental Health beschäftigt sie intern als Führungskräfte wie auch extern bei Kundinnen und Kunden

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