Dieser Vortrag muss perfekt werden. Ich habe mich bis auf das kleinste Detail vorbereitet, dabei sollte ich das alles bereits wissen. Ich habe den Vortrag schon x-Mal gehalten und niemand anderes kennt sich bei dem Thema besser aus als ich. Aber was ist, wenn Rechtschreibfehler auf den Slides sind? Mein Mikro wieder an den Ohrringen klappert, wie letztes Mal? Oder doch eine kritische Frage kommen könnte, die ich nicht beantworten kann. Ich hasse Vorträge mit so vielen Menschenaugen, die mich bewerten werden…
Das Impostor-Syndrom: mehr als nur Selbstzweifel
Mein Eindruck ist, dass gerade im Bereich der Wissenschaft und in der Untergruppe der Frauen und LGBTQIA+ überdurchschnittlich viele Menschen vom Impostor-Syndrom (zu Deutsch auch: Hochstapler-Syndrom oder Hochstapler-Phänomen) betroffen sind.
Betroffene haben ständig den Eindruck, dass sie fehl am Platz sind und jederzeit aufgrund ihrer vermeintlichen Unfähigkeit entlarvt werden könnten. Diese extremen Selbstzweifel äußern sich insbesondere in Bereichen, in denen Leistung im Vordergrund steht. Sie machen aber zum Teil auch vor dem Privatleben keinen Halt. Häufig liegt dabei ein negatives Selbstkonzept zugrunde, aufgrund dessen Erfolge und Fähigkeiten nicht als solche wahrgenommen werden. Gleichzeitig kann Wertschätzung durch andere, zum Beispiel in Form von Komplimenten, nicht oder nur schwer angenommen werden.
Für das Impostor-Syndrom liegen die Ursachen unter anderem in der Kindheit. Eine Ursache könnte sein, dass Eltern ihrem Kind nicht genügend Selbstvertrauen (in der Psychologie spricht man auch von Urvertrauen) vermittelt haben und als Heranwachsende gelernt haben, Anerkennung nur durch Leistung zu erhalten. Ein weiterer Ansatz ist, dass Menschen, denen in der Kindheit vermittelt wurde, dass sie alles schaffen, nun mit der realen Welt nicht umgehen können. Es besteht auch die Annahme, dass Personen aus einem nicht-akademischen Umfeld stärker damit zu kämpfen haben, da sie, wenn sie nun einen akademischen Weg einschlagen, bestimmte Riten nicht kennen und sich daher fehl am Platz fühlen.
Während mangelndes Selbstvertrauen zwar ein elementarer Bestandteil des Impostor-Syndroms ist, geht dieses Phänomen aber noch tiefer. Personen ohne Selbstbewusstsein fühlen sich zwar häufig angegriffen, können aber diese Unsicherheiten überwinden, sich Mühe geben und ihre Erfolge feiern. Betroffene mit Impostor-Syndrom zweifeln jedoch zusätzlich an ihrer Daseinsberechtigung. Sie arbeiten genauso viel und haben die gleichen Erfolge, können diese aber nicht anerkennen – sie empfinden auch keine Erleichterung oder Stolz. Sie leben in ständiger Anspannung, dass nun der Moment gekommen ist, in dem ihre angebliche Inkompetenz entlarvt wird und sie somit einer großen Anzahl an Problemen gegenüberstehen.
Wer ist denn alles vom Impostor-Syndrom betroffen?
Die Wissenschaftler Jaruwan Sakulku und James Alexander haben 2011 herausgefunden, dass ca. 70 Prozent aller Menschen in ihrem Leben mindestens einmal vom Impostor-Syndrom betroffen sind. Insbesondere junge Menschen und Personen, die erst ins Berufsleben eintreten, leiden unter dem Phänomen. Sie finden sich häufig in Konkurrenzsituationen mit Studentinnen und Kollegen wieder und vergleichen sich.
Erstmals benannten die Wissenschaftlerinnen Pauline R. Clance und Suzanne A. Imes bereits im Jahr 1978 das Impostor-Syndrom und zeigten hierbei einen Zusammenhang zu dem Verhalten von marginalisierten Gruppen im Arbeitsleben auf – der Fokus lag auf Frauen im Berufsleben. Sie tendieren dazu, ihre Erfolge eher auf äußere Gegebenheiten, wie Glück und zufällige Fügungen, zu schieben. Stereotype in Bezug auf Mutterschaft und Karriere (dass beides gemacht werden soll, aber auch keine Seite vernachlässigt werden soll), aber ebenso Schönheit (dass insbesondere Frauen sich schön und gepflegt darstellen sollen, und wenn dies nicht zutrifft, sie dann negativ wahrgenommen werden), begünstigen dieses Syndrom. Dies ist sicherlich auch 45 Jahre später nach wie vor der Fall.
„Diese Darstellung von Selbstkompetenz ist bei Männern meist besser ausgeprägt als bei Frauen, wodurch sie automatisch auch als führungskompetenter eingestuft werden.“ Das hielt ich bereits 2020 in meinem Buch Quick Guide Female Leadership fest. Beim Impostor-Syndrom spiegelt sich das wider: Frauen unterschätzen häufig ihre Kompetenzen und stehen negativem Feedback ängstlicher gegenüber, werden jedoch auch leichter dadurch angespornt. Männer hingegen resignieren, um dem hohen Erwartungsdruck der Gesellschaft zu entkommen. Schlussendlich kommt es aber auf die Persönlichkeit an. Vor allem leistungsstarke und erfolgreiche Menschen sind betroffen, da bei ihnen Perfektionismus und Leistungsorientiertheit im Vordergrund stehen.
Arbeiten mit dem Impostor-Syndrom
Bereits während des Bildungsweges können massive Selbstzweifel dazu führen, dass sich Betroffene fachlich doppelt absichern wollen. Um ihre Glaubwürdigkeit sicherzustellen, absolvieren sie oftmals mehrere Abschlüsse oder ergänzen ihre Erstausbildung um ein weiteres Studium.
Im Arbeitsleben selbst unterscheidet sich die Arbeitsweise von Personen mit Impostor-Syndrom in zwei gegensätzlichen Aspekten. Einerseits ist sie geprägt von Fleiß und Genauigkeit, damit jegliche Fehlerquellen ausgeschlossen werden können. Nichts wird dem Zufall überlassen und jeglicher Erfolg wird der peniblen Arbeitsweise zugeschrieben und bestätigt diese. Weiterhin sind Betroffene aber überzeugt, dass sie trotzdem besser hätten arbeiten können und die Ergebnisse unzureichend sind.
Andererseits führt die allgegenwärtige Angst vor dem Versagen zu pathologischem Aufschiebeverhalten: der Prokrastination. Personen halten sich eher zurück, damit sie nicht auffallen. Wenn es zum Scheitern kommt, wird dies als Bestätigung der eigenen Unfähigkeit aufgenommen. Es kann auch zur Selbstsabotage kommen, wo sich betroffene Personen selbst Hürden stellen, um einen Grund für das Scheitern nennen zu können. Zwischen diesen Verhaltensweisen kann gewechselt werden. Versagensängste und das Gefühl, nicht genug zu sein, bleiben jedoch immer das Ergebnis.
Außerdem denken Betroffene, dass sie nicht nach einer Gehaltserhöhung oder einer Beförderung fragen können, da sie ihre jetzige Position auch nicht als verdient ansehen. Das Chartered Management Institute hat 2013 auch einen Zusammenhang zwischen niedrigem Selbstbewusstsein/ Impostor-Syndrom bei Frauen und ihrem geringen Vorkommen in Führungspositionen festgestellt.
Unterstützung in einem guten Arbeitsumfeld
Tipps für Arbeitgeber:
- Mitarbeitende sollten weder unter- noch überfordert werden.
- Regelmäßige Gespräche, in denen über die individuellen Bedürfnisse gesprochen werden, sind wichtig. Anschließend müssen diese auch berücksichtigt werden.
- Individuelle Stärken sollten fortlaufend eruiert und gefördert werden.
- Aufrichtiges Lob und Wertschätzung wirken motivierend – nicht nur oberflächlich, sondern auch inhaltlich: Was genau war gut?
- Der Ton macht die Musik: Anstelle von „Viel Glück“ sollte der Wortlaut „Viel Erfolg“ verwendet werden. Damit werden Erfolge auf Leistungen zurückgeführt und nicht auf Glück oder Zufall.
Der Einfluss auf die mentale Gesundheit
Auch wenn viele – vielleicht sogar die Mehrheit der Menschen nach Perfektionismus streben, darf hierbei nicht vergessen werden, dass das Syndrom negative Auswirkungen auf die mentale Gesundheit hat. Perfektionismus verdeutlicht sich in der Angst, dass die eigene Unfähigkeit entdeckt wird. Die Überkompensation steigert die eigene Erwartung und kann wiederum in eine gefährliche Spirale führen, welche im Burnout endet. Prokrastination und Selbstsabotage äußern sich darin, dass die eigenen Kompetenzen angezweifelt werden und die betroffenen Personen sich nicht mehr anstrengen und daraufhin scheitern. Damit holen sie sich die Bestätigung der eigenen Unfähigkeit.
Das Impostor-Syndrom macht auch vor zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen es eigentlich nicht um Leistung gehen sollte, keinen Halt. So kann das Gefühl entstehen, in der Partnerschaft nicht genug zu sein, und auch im privaten Umfeld zu Selbstsabotage führen.
Es können verschieden Maßnahmen angewandt werden, um sich aus dem Impostor-Syndrom herauszuarbeiten:
- Das Erkennen, Bekennen und Umformulieren der Erwartungen, Erfolge und Leistungen soll helfen, eigene Fähigkeiten und Erfolge als solche wahrzunehmen.
- Die verschobene Selbstwahrnehmung sollte als solche wahrgenommen werden.
- Ein Tagebuch zu führen, kann dabei helfen, Klarheit und Ruhe zu bekommen und eigenen Gedanken zu hinterfragen.
- Das Anpassen der Erwartungen und das Lernen von Anderen soll dabei unterstützen, dass sich weniger mit Gleichgesinnten verglichen wird und die Erwartungen eher als eine Lernmöglichkeit angesehen werden.
- Mir hat es aber auch geholfen, zur Psychotherapie zu gehen, wenn die eigenhändigen Bewältigungsstrategien nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt haben. Therapie ist nichts Schlechtes. Sie hilft vielen Menschen dabei, dass sie eine Vielzahl an Problemen und Einschränkungen thematisieren und ihr Leben angenehmer gestalten können.
Mein Fazit: Ich hinterfrage häufig meine eigenen Kompetenzen: Soll ich hier sein, kann ich etwas beitragen oder werden alle sowieso sehen, dass ich hier falsch bin? Diese Angst äußert sich bei mir subtil in vielen anderen psychischen Aspekten, mit denen ich täglich zu tun habe. Aber ich weiß auch, dass ich Expertin für meine Nische in der Unternehmensberatung bin und eine Menge Expertise aufbringen kann. Auch vor meinem Team macht das Impostor-Syndrom nicht Halt. Die Selbstwahrnehmung meiner Mitarbeitenden und die Fremdwahrnehmung durch mich unterscheiden sich teilweise so stark, dass es in der Zusammenarbeit zu Schwierigkeiten kommen kann – denn ich traue meinen Mitarbeitenden viel mehr zu als sie sich selbst. Den richtigen Umgang damit zu finden, ist nicht leicht, da es kein perfektes Konzept gibt, das sich auf alle anwenden lässt.
Hier zeigt sich abermals, wie unterschiedlich Menschen und ihre Bedürfnisse sind und wie sehr sich der Aspekt der mentalen Diversität im Berufs- und Privatleben äußert. Da das Impostor-Syndrom häufig bei jungen Erwachsenen und Berufsanfängern und ‑einsteigerinnen vorzufinden ist, achte ich bei diesen Personengruppen auf potenzielle Anzeichen, um dann über geeignete Coping-Strategien zu reden. Ein Großteil der Menschen leidet unter diesem Phänomen irgendwann im Laufe ihres Lebens. Das ist kein Eingeständnis von fehlerhaftem Verhalten oder ein Zeichen, dass etwas mit den Menschen nicht stimmt. Es ist ein Phänomen, welches aus dem Erwartungsdruck der modernen, individualistisch-kapitalistischen Gesellschaft hervortritt. Und daran können wir arbeiten.