„Du bist doch einfach nur schüchtern“

MENTAL BREAK(DOWN)

Es ist mal wieder so ein Tag, an dem ich das Haus am liebsten gar nicht verlassen möchte. Eingekuschelt auf dem Sofa, neben mir Kater Findus, auf meinem Schoß der Laptop, so habe ich mitunter meine produktivsten Arbeitsphasen. Anstehende Aufgaben für das Team verteile ich via E-Mail – einer meiner liebsten Kommunikationskanäle. Ja, ich bin bekennende Introvert.

Introvertierte Menschen gelten als schüchtern, extrovertierte als gesellig. Die Persönlichkeitsmerkmale Introversion und Extraversion – die nach C.G. Jung zu den Big Five der Persönlichkeitsdimensionen gehören – sind mit einigen Klischees, wie den genannten Verhaltensweisen, verbunden. In diesem Text zeige ich, was wirklich hinter den Begriffen steckt, wie wir uns von den typischen Zuschreibungen lösen können und wie wir in der Arbeitswelt davon profitieren, wenn wir diese Persönlichkeitsmerkmale im eigenen Arbeiten und im Team berücksichtigen.

Was heißt „introvertiert sein” wirklich?

Introvertierte Menschen können schüchtern sein, aber schüchterne Menschen sind nicht unbedingt introvertiert. Die distanzierte und zurückhaltende Art wird jedoch häufig gleichgesetzt. Dies ist eines der gängigsten Stereotype, wenn es um Introversion geht. Dabei können Introversion und Schüchternheit klar voneinander unterschieden werden: Ersteres gilt als Persönlichkeitsmerkmal, zweiteres als erlerntes Verhalten. Introversion besagt, dass Menschen einen nach innen gerichteten Fokus auf die eigenen Gedankengänge und Stimmungen haben. Das äußerliche Auftreten ist hierbei nicht von großer Bedeutung. In großen Gruppen sind introvertierte Personen häufig in einer Beobachtungsrolle und erst in Gesprächen mit vertrauten Personen und beim Alleinsein tanken sie neue Kraft.

Extraversion ist das genaue Gegenteil. Ein kurzer sprachlicher Hintergrund-Fact: „Extraversion“ ist laut Duden die richtige (wenn auch alte) Schreibweise, während sich der Ausdruck „Extrovertiertheit“ inzwischen umgangssprachlich durchgesetzt hat. Extravertierte Menschen sind nach außen gerichtet und gehen in der Kommunikation mit anderen Menschen auf, sie werden als gesellig, gesprächig, enthusiastisch, abenteuerlustig und aktiv wahrgenommen.

Die meisten Menschen befinden sich in einem Raum zwischen Introversion und Extraversion und können sich an Situationen dementsprechend anpassen – das nennt sich Ambiversion. Im Alter von Mitte bis Ende 20 werden Menschen häufiger etwas extrovertierter. Dies wird als „soziales Investitionsprinzip“ bezeichnet.

Gesellschaft und Arbeitswelt

Unsere aktuelle Gesellschaft – und das betrifft auch die Arbeitswelt – ist auf Extraversion ausgelegt. Daher hat Extraversion einen positiven Einfluss auf viele Lebensbereiche: Im Arbeitsalltag haben diese Menschen ein selbstbewusstes Auftreten und können vor großen Gruppen sprechen. Auch im Privatleben zeigt sich dieser Einfluss. Extravertierte Menschen pflegen mehr Freundschaften, lernen leichter Menschen kennen, sind zufriedener und gesünder.

Introvertierte Personen sind durch eine große Anzahl an Menschen hingegen schnell erschöpft. Nach sozialem Kontakt haben sie das Bedürfnis, sich zurückzuziehen und Energie zu tanken. Durch eine hektische und belebte Umgebung kann es zu einer Reizüberflutung bei introvertierten Personen kommen, die sich in einer Einschränkung ihrer Handlungs- und Konzentrationsfähigkeit äußert. Bei introvertierten Menschen ist die Fähigkeit, äußere Stimulationen auszufiltern, weniger ausgeprägt als bei ambivertierten oder extravertierten Menschen. Typische Verhaltensweisen zum Schutz vor Überreizung sind zum Beispiel die Nutzung von Kopfhörern, um die Umwelt auszublenden oder Vermeidung von Augenkontakt, damit kein Gespräch mit fremden Personen erzwungen wird.

Diese Unterschiede im Umgang mit äußeren Einflüssen und in der gesellschaftlichen Bewertung dieser Verhaltensweisen deuten auf eine mögliche Benachteiligung von introvertierten Menschen, je stärker ihr Arbeitsalltag auf extravertiertes Verhalten ausgelegt ist, hin. Wenn andauernde Stimulation und ständiger Kontakt ein elementarer Teil unserer Arbeit sind, wird damit Menschen, die schwer damit zurechtkommen, vermittelt, dass sie sich selbst ändern sollten. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich anpassen und „über den eigenen Schatten springen“.

Ich mache immer wieder die Beobachtung, dass introvertierte Menschen als still und reserviert wahrgenommen werden und daher häufig im Schatten von extrovertierten Kolleginnen und Mitarbeitern stehen. Ich finde: Introvertierte Menschen sollten mehr Wertschätzung dafür bekommen, dass sie sich in einer Welt durchsetzen, die nicht für sie ausgelegt ist. Vor allem aber sollten wir grundlegende Strukturen in unserer Arbeitswelt stärker auf introvertierte Personen ausrichten.

Sind introvertierte Menschen die besseren Führungskräfte?

In Stellenanzeigen finden sich häufig die Wörter kommunikationsstark, durchsetzungsfähig und aufgeschlossen und selten die Wörter nachdenklich oder zurückhaltend. Das vermittelt den Eindruck, dass nur nach extravertierten Arbeitskräften gesucht wird. Mein Appell an Personalabteilungen ist hier, auch typische Merkmale der Introversion zu berücksichtigen und damit in Stellenausschreibungen andere Kernkompetenzen zu betonen.

Denn es zeigen sich durchaus Vorteile von Introvertiertheit im Unternehmensalltag: Introvertierte Führungskräfte fördern und unterstützen ihre Mitarbeitenden stärker, da sie  aufmerksam zuhören und empfänglicher für externe Vorschläge sind. Teams mit viel Eigeninitiative werden somit besser durch einen introvertierten Führungsstil geleitet. Ein eher passives Team braucht hingehend einen stärker extravertierten Führungsstil.

In Entscheidungsprozessen zeigt sich, dass extravertierte Menschen schneller auf Reize reagieren, während introvertierte Menschen mehr Informationen mit einbeziehen, um Probleme zu analysieren und zu lösen. Introvertierte Menschen treffen damit weniger riskante Entscheidungen.

Persönlichkeitsmerkmale und Mental Health

Aber welchen Einfluss haben Persönlichkeitsmerkmale, z.B. Intro- und Extraversion, auf die mentale Gesundheit?

Es besteht eine allgemeine Annahme, dass die Vermeidung von sozialen Kontakten (ein Merkmal von Introvertiertheit) automatisch ein Anzeichen von Depression ist. Das muss aber nicht immer stimmen. Introvertierte Personen kamen beispielsweise während des Corona-Lockdowns besser mit der Isolation und den Kontakteinschränkungen zurecht – zu einer Zeit, in der die Zahlen der diagnostizierten Depressionen gesamtgesellschaftlich stark angestiegen sind.

Dennoch scheint es Verbindungen zwischen Introvertiertheit und Depressionen zu geben. So kann eine Depression über längere Zeit die Persönlichkeit eines Menschen beeinflussen und verändern – hin zu stärkerer Introvertiertheit.

Tipps für eine inklusives Arbeitsumfeld

Um für beide Persönlichkeitstypen ein positives Arbeitsumfeld zu schaffen, sollte darauf geachtet werden, dass die Arbeitsstrukturen, das heißt Arbeitsschritte und Ergebnisse, transparent gemacht werden, um alle im Team einzuschließen. Fehlende Anreize oder Unterstützungsangebote schrecken insbesondere introvertierte Menschen ab, sodass sie manche Chancen gar nicht erst für sich entdecken.

Tipps, die sich vor allem an introvertierte Menschen richten, sind:

  • Ruhe gönnen, vor allem nach einem langen Tag
  • sich Zeit nehmen, bevor reagiert wird, um die Gedanken zu ordnen; es muss nicht immer geantwortet werden – das ist okay;
  • enge Freundschaften pflegen

Tipps für den Umgang mit introvertierten Menschen:

  • Small Talk vermeiden – für tiefgründige und sinnvolle Gespräche stehen introvertierte Menschen gerne zur Verfügung
  • Zeit geben für eine Reaktion, damit Gedanken geordnet werden können; nicht immer auf eine Antwort drängen, wenn es nicht notwendig ist – manchmal brauchen Dinge mehr Zeit
  • Home-Office und flexible Arbeitszeiten anbieten
  • Ruheräume im Büro zur Verfügung stellen – das ist nicht nur für introvertierte Menschen von Vorteil!

Mein Fazit: Introvertierte Menschen müssen sich nicht ändern – die Arbeitswelt muss es! Introversion ist ein Persönlichkeitsmerkmal und nicht etwas, das behoben oder verbessert werden muss. Arbeiten (an und mit der eigenen Persönlichkeit) hört nie auf. Das erlebe ich selbst in meinem Unternehmen und in meinen Workshops.

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Simone Burel, Geschäftsführerin der LUB GmbH - Linguistische Unternehmensberatung

Simone Burel

Dr. Simone Burel ist Geschäftsführerin der LUB – Linguistische Unternehmensberatung, promovierte Sprachwissenschaftlerin und (Fachbuch-)Autorin. Ihre Arbeiten zu Sprache, Gender Diversity & Unternehmenskommunikation wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit der neuen Marke Diversity Company spezialisieren Burel und ihr Team sich auf einen neuen Schwerpunkt: Diversität in all ihren Dimensionen – neben den sechs klassischen Diversity-Dimensionen beschäftigen sie sich mit den unsichtbaren Faktoren soziale Herkunft und mentale Diversität. Das Thema Mental Health beschäftigt sie intern als Führungskräfte wie auch extern bei Kundinnen und Kunden

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