Der Fliegenpilz ist einer der bekanntesten Giftpilze Europas. Wer ihn isst, erleidet Schwindel, Krämpfe und Übelkeit. Denn was in seinem Inneren steckt, ist toxisch. Immerhin ist er leicht zu erkennen. Das unterscheidet den Fliegenpilz von dem Gift, das Arbeitskulturen vernichtet: toxische Führung. Sie verursacht miese Stimmung, kranke Teams und mangelnde Leistung. Leider ist sie nicht so gut sichtbar. Und leider wird sie oft toleriert. Das macht sie nicht nur zu einem Problem für einzelne Teams, sondern zu einem Gift für den ganzen Betrieb.
Jessica Schramböhmer hat zehn Jahre lang in einem vergifteten Umfeld gearbeitet. Sie war stellvertretende Leiterin Finanzen in einem deutschen Rathaus, ihren direkten Vorgesetzten bezeichnet sie rückblickend als „Griesgram“. Er habe Telefongespräche belauscht, Privates unterbunden, Mitarbeitergespräche gestoppt, Arbeitsschritte kontrolliert und niemandem vertraut. „Rückblickend kann ich sagen: Alles, was man als Chef falsch machen kann, hat er in meinen Augen falsch gemacht. Als Mitarbeiterin habe ich mich fürchterlich gefühlt“, sagt sie. Lob gab es nicht, dafür Kritik. Schramböhmer dachte, das gehöre zum Job. Doch irgendwann war der Frust zu groß. Spätestens als sie anfing, über Leadership zu lesen und über New Work, wurde ihr klar: Hier stimmt etwas nicht.
Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Gallup ist Jessica Schramböhmer nicht allein: Jede und jeder Siebte hat schon einmal schlechte Vorgesetzte erlebt. Statt sie anzusprechen, gehen viele in die innere Kündigung. Auch Schramböhmer mied die Auseinandersetzung mit ihrem Chef: „Ich hatte Angst, dass er noch gemeiner wird.“ Aber sie wollte etwas verändern. Sie wandte sich an den Leiter des Amts. Zu ihm hatte sie einen guten Draht, sagt sie, außerdem konnte er in Gang setzen, Führungskräfte zu coachen. Das gab es nicht. Und wie sich herausstellte, sollte das auch nicht kommen. Der Amtsleiter hatte zwar ein offenes Ohr, aber kein Rückgrat und erkannte die Notwendigkeit nicht, etwas zu ändern. Zwei Jahre lang geduldete sich Schramböhmer, dann kündigte sie. Heute berät sie selbst Führungskräfte und Unternehmen für eine bessere Arbeitskultur.
Ein toxischer Effekt mit hohen Kosten
Ihr persönliches Schicksal wurde „ihre Berufung“ und sie kann gut davon leben. Wie sie sagt, liegt es daran, dass Unternehmen für Führungsfragen sensibler werden und erkannt haben, „dass positives Leadership erfolgreicher ist als strenge veraltete Führungsstile“. Mitarbeitende zu verlieren, kostet durchschnittlich 15.000 Euro pro Fall, hat das Unternehmen Deloitte errechnet. Der häufigste Grund für eine Kündigung sind Führungsfragen. Es gibt also einen guten Anlass, sich mit toxischer Führung zu beschäftigen.
Unternehmen wissen schon lange, welche Folgen abusive Führung habe, sagt Professorin Christina Hoon. Sie meint Führung, die Mitarbeitende nicht aufbaut, sondern zerstört. Hoon unterrichtet Wirtschaftswissenschaften und forscht zu Familienunternehmen an der Universität Bielefeld. 2020 hat sie im Rahmen einer gemeinsamen Studie Bewertungen von über 500 Arbeitgebern auf der Plattform Kununu untersucht. Das Ergebnis: Nur jede oder jeder Fünfte sieht das Führungsverhalten der direkten Vorgesetzten als negativ. Das Führungsklima aber ist bei 85 Prozent der untersuchten Unternehmen schlecht. Wenige Fälle haben eine große Wirkung.
„Unsere Studie belegt den toxischen Effekt, den schlechtes Führungsverhalten hat: Es vergiftet, wie Mitarbeitende das Unternehmen wahrnehmen“, sagt Hoon. Eine einzige schlechte Führungskraft kann dazu führen, dass die gesamte Spitze schlecht dasteht. Wer eine Chefin oder einen Boss in Kauf nimmt, der Mitarbeitende beleidigt, kontrolliert und tyrannisiert, lässt damit nicht nur eine Abteilung im Stich, sondern schnell das ganze Unternehmen. Sie habe Unternehmen erlebt, die in einer Schockstarre waren, bis eine toxische Führungskraft endlich ging, sagt Hoon: „Es ist falsch, eine Person auszuhalten, von der man weiß, dass sie kein gutes Führungsverhalten zeigt, weil sie das gesamte Führungsklima verschlechtert.“
Toxische Führung senkt die Arbeitszufriedenheit und die Unternehmensleistung. Trotzdem findet ein Aushalten statt. Als Gründe nennt Hoon, dass zum einen vielen Unternehmen der toxische Effekt nicht klar sei und ihnen zum anderen das Bewusstsein dafür fehle, was gute Führung ist. Zwar gibt es Führungsleitlinien, die bringen laut Hoon aber nichts, solange sie nur positiv formuliert sind: „Leitlinien müssen in beide Richtungen funktionieren, indem sie nicht nur sagen, was sein soll, sondern auch, was nicht sein darf. Und sie machen nur dann Sinn, wenn Personen sanktioniert werden, die gegen diese Leitlinien verstoßen.“
Sanktionen klingen hart. Genauso wie die Welt der Befehle und Kontrollen, die New Work zu überwinden sucht. Konsequenzen müsse es haben, sagt Hoon. Entscheidend sei, ob die Person, die destruktiv führt, sich dessen bewusst oder bereit sei, etwas zu ändern. Im Idealfall hilft ein Coaching. Im Extremfall bleibt nur die Kündigung. Es geht um nichts Geringeres als die Unternehmenskultur: „Kein Unternehmen kann sich eine Führungskultur oder ein konstruktives Miteinander kaufen. Das ist etwas, das sich jede Organisation über Jahre erarbeiten muss. Das Bewusstsein muss da sein, dass alle dieses kostbare Gut beschützen und handeln, wenn jemand daran kratzt.“
Die 180-Grad-Wende des Bodo Janssen
Bodo Janssen hat als kritische Führungskraft bundesweit Schlagzeilen gemacht. Er war selbst der Chef, der das Arbeitsklima vergiftete. Janssen ist Geschäftsführer der Hotelkette Upstalsboom. Die hatte er in seinen Augen erfolgreich geführt, die Zahlen stimmten, bis sein Personalleiter Mitarbeitende fragte, wie sie es sehen. Das Ergebnis war vernichtend: „Wir brauchen einen anderen Chef“, sagten sie. Anfangs konnte Janssen nicht glauben, dass sein Personal unzufrieden sei. Eine große Mitarbeiterbefragung bestätigte: Die Stimmung war mies, Janssen sei schuld. Für ihn war das ein Schock, wie er später schrieb.
Janssen ging mit der Führungsriege ins Kloster, organisierte Workshops und leitete eine 180-Grad-Wende ein. Es ging um Selbstachtsamkeit und Menschlichkeit, Gemeinsamkeit statt ein Von-oben-Herab. Alle Angestellten entwickelten Werte, die ihnen wichtig sind und wofür das Unternehmen steht. Sie formulierten ein neues Leitbild, und bis heute reflektieren sie in der „Entwicklungswerkstatt“, wie es weitergehen soll. Es gibt Meditationen und Zeit für soziales Engagement. Azubis wandern zum Nordpol und Kilimandscharo. Es sei ein Wandel „vom wirtschaftlich geprägten zum menschen- und werteorientierten Unternehmen“, heißt es offiziell, der „Upstalsboom-Weg“. Für einige Verantwortliche war der Weg zu steil.
Etwa jede fünfte Führungskraft ging während des Prozesses. Sie fühlten sich an den Pranger gestellt oder konnten mit dem Kloster nichts anfangen, das freiwillig war, aber einigen wie ein Zwang vorkam oder zu spirituell wirkte. Die meisten blieben und sahen die Chance, einen Wandel herbeizuführen, sagt Robert Jabin, heute verantwortlich für den Bereich Human Potential: „Die HR ist ein wichtiger Vermittler, um Zweifel aufzufangen oder Fragen zu klären. Wir zeigen die Chancen, die dahinterstehen. Alles, was wir dafür anbieten, ist freiwillig. Der Upstalsboom-Weg ist eine Art Buffet, an dem sich jeder bedienen kann, aber niemand bedienen muss.“
Auch Gutes kann Druck ausüben, weil sich zum Beispiel die Mitarbeitenden ausgeschlossen fühlen, die sich nicht sozial engagieren. Die Herausforderung besteht darin, sie ebenso in der Kultur willkommen zu heißen wie die, die das Buffet leer räumen und alles mitnehmen. „Wir laden alle ein, selbst die Erfahrung zu machen. Wer es nicht mag, kann es sein lassen“, sagt Jabin. Der Upstalsboom-Weg biete als Unternehmensphilosophie den Mitarbeitenden Orientierung im Tagesgeschäft sowie für sich persönlich. Die Bücher von Janssen haben einige Menschen, die in einer Sinnkrise steckten, motiviert, sich initiativ bei dem Unternehmen zu bewerben. Doch ein Selbstfindungskurs ist die neue Kultur nicht. Am Ende geht es immer noch darum, ein Unternehmen zu führen.
Über Küchenansagen und nötige Schärfe
„Es ist nicht so, dass wir mit Blumen im Haar durch die Flure hopsen und uns den ganzen Tag Komplimente machen. Wir haben auch eine Lästerkultur, schreien uns an oder müssen klare Ansagen machen“, sagt Jabin. Wenn im Restaurant zum Beispiel Hochbetrieb herrscht, heißt es in der Küche nicht „Hättest du Zeit?“, sondern „Anrichten, sofort!“. Küchen sind bekannt für ihren rauen Ton. Viele Sterneköche gelten als grausame Vorgesetzte. Die Studie von Christina Hoon hat sie zum Namensgeber für einen Unternehmenstyp gemacht, der wirtschaftlich erfolgreich ist, aber eine toxische Führungskultur hat: „Hell’s Kitchen“. Etwa fünf Prozent der untersuchten Unternehmen gehören dazu.
„Eine harte Kante zu zeigen, ist wichtig. Wenn alles zu kuschelig und kumpelig ist, tut es dem Unternehmen nicht gut. Leute nur über den Kopf zu streicheln, auch wenn Fehler passieren, das hat nichts mit guter Führung zu tun. Da müssen wir auch in der Forschung nachjustieren, weil wir aktuell viel zu positiv über Führung denken“, sagt Hoon. Strenge gehöre zum Job. Nicht in Form eines Wadenbeißers, wie ihn manche Betriebe als Konterpart einsetzen, um etwas mehr Druck reinzubringen. Das ist und bleibt eine toxische Person. Sondern in Form einer Führung, die Grenzen setzt und durchgreift, wenn es sein muss.
Die Dosis macht das Gift – und auch die Intention. Wer wohlwollend sei, könne auch mal härter kritisieren, sagt Schramböhmer. Bei ihrem Chef war davon keine Spur. Upstalsboom motiviert Mitarbeitende, auf Vorgesetzte zuzugehen, wenn etwas nicht stimmt. „Meine Erfahrung ist, dass die meisten Führungskräfte dankbar sind, wenn sie angesprochen werden und Hilfe bekommen, etwas zu tun. Gute Führung ist nichts, was genetisch vererbt wird, darum bieten wir Angebote, sie zu fördern“, sagt Jabin. Kaum jemand tritt mit dem Vorsatz ein, eine schlechte Führungskraft zu sein. Wenn doch, wenn jedes Gespräch und Angebot abgelehnt wird, ist der Fliegenpilz zumindest entlarvt.
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