Deutschland macht die Grenzen dicht“, hieß es im Frühjahr 2020 in der Bild und auf diversen anderen Nachrichtenportalen. Die Schlagzeile klingt seltsam und anachronistisch. Wir, hier im Herzen Europas, haben uns schon lange gewöhnt an den Schengenraum. Seit über 25 Jahren steht uns darin grenzenloses Reisen offen, ohne lange Schlangen, Bürokratie, lästige Kontrollen. Laut dem Europäischen Parlament überqueren jeden Tag rund 3,5 Millionen Menschen eine der EU-Binnengrenzen. Dann kam Corona – und warf uns gefühlt in längst überwundene Zeiten zurück: Staaten riegelten sich ab. Doch nicht nur an den Grenzübergängen taten sich plötzlich Hürden auf. Auch im eigenen Leben gab es teils gänzlich neue Einschränkungen. Büro zu, Kinder permanent daheim, Freizeiteinrichtungen: geschlossen. War eine Grenze überwunden, lauerte die nächste, wenngleich pandemiebedingt nachvollziehbar.
Begrenzt zu sein – das mutet beinahe klaustrophobisch an. Auf den ersten Blick ist es die Antipode zu Freiheit, Durchlässigkeit und Kreativität. In anderer Betonung verwenden wir den Begriff indessen positiv: „Du musst lernen, dich abzugrenzen“ ist ein beliebter Ratschlag für diejenigen, die sich selbst allzu sehr überfrachten und von anderen einnehmen lassen. Wer ihn befolgt, gewinnt Freiheit, statt sie einzubüßen. Dorothea Sommermeyer ist mit beiden Beiklängen von Grenzen vertraut. Sie ist Volljuristin und Chefin des HR-Managements der Team-Gruppe mit Hauptsitz in Schleswig-Holstein. In dem Unternehmen aus dem Bau- und Energiesektor mit knapp 5.000 Beschäftigten verantwortet sie ein breites Themenfeld von Arbeitsrecht über Employer Branding bis hin zur Personalentwicklung. Dass sie sich heute offeneren, strategischen Themen widmen kann als während ihrer früheren Tätigkeit als Anwältin, empfindet sie als befreiend. „Ich hatte keine Lust mehr, mich den ganzen Tag mit Paragrafen zu beschäftigen, das war mir zu schwarzweiß“, sagt sie. Heute hat sie mit Arbeitsrechtsthemen innerhalb des Unternehmens in geringerer Dosis zu tun. Hinzu kommt eine Veränderung, der ihrer persönlichen Grenzziehung entgegenkam. Zu Beginn des Jahres fusionierte ihr vormaliger Arbeitgeber, das Agrarhandelsunternehmen Hauptgenossenschaft Nord, mit der Team SE. Zuvor war Sommermeyer für alle Facetten des Personalmanagements zuständig gewesen. Bei der Zusammenlegung beider Unternehmen zu einem Konzern gab es nun neben ihr und ihrem Team eine weitere vollständige Personalabteilung, einen anderen HR-Chef. Ein Umstand, der durchaus zu Machtkämpfen hätte führen können.
Persönliche Grenzen setzen
Im Gespräch mit dem Kollegen stellte sich aber schnell heraus, dass die beiden Führungskräfte mit ihren Steckenpferden eine Symbiose bilden: Sommermeyer wollte den stark regulatorisch eingegrenzten Verwaltungspart am liebsten loswerden, sich stärker der gestalterischen Personalarbeit widmen. Der Kollege sah seine Stärke genau im anderen Feld: Abrechnung und Administration. Also willigte der Vorstand in ihren unkonventionellen Vorschlag ein, zwei Leitungsfunktionen und separate HR-Teams mit abgegrenzten Zuständigkeiten zu akzeptieren. „Ein echter Glücksfall für mich“, sagt Sommermeyer. Das stärkenbetonende Eingrenzen ihres Arbeitsfelds hat sie freier gemacht, den regulatorischen Bereich konnte sie weitgehend abstreifen. Nur im Umgang mit mancher rechtlichen Bestimmung werden für Sommermeyer die Grenzen der HR-Freiheit schnell sichtbar. Zum Beispiel beim Kündigungsschutz: „Es ist gut und richtig, dass in Deutschland in Sachen Kündigungsschutz mehr Sicherheit gewährleistet wird als zum Beispiel in den USA.“ Die Schattenseite sei jedoch: Ein dysfunktionales Arbeitsverhältnis gegen Abfindung aufzulösen, sei für Arbeitgeber kaum möglich. „Da müssen wir teils hilflos zusehen, wenn Einzelne immer am Rande des rechtlich Möglichen surfen“, kritisiert die Juristin.
Grenzen lauern allerdings auch anderswo. In der BPM-Berufsfeldstudie aus dem vergangenen Jahr gaben 48 Prozent der Befragten an, ihre HR- oder People-and-Culture-Einheit könne ihre Ziele im Gesamtunternehmen durchsetzen. Nur knapp die Hälfte? Das ist ausbaufähig. Noch immer beklagen sich viele HR-Führungskräfte darüber, dass sie im Klein-Klein verweilen, statt sich auf der Vorstandsebene strategisch einbringen zu dürfen. Volker Stein, Professor für Personalmanagement und Organisation an der Universität Siegen, rät zu mehr Selbstbewusstsein. Es sei schwieriger geworden, kompetentes Personal zu finden und zu binden. „Professionelles und eng mit der Strategie verzahntes Personalmanagement ist für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen essenziell“, sagt er. „Wir sollten uns fragen, warum manche Geschäftsführung der IT-Leitung mehr strategische Innovationskraft bescheinigt als der HR-Leitung.“ Man müsse sich als Personalmanagement den Hut schnappen und selbst aufziehen, so sein Rat. „Und wenn der Vorstand das nicht zulässt, muss ich mich fragen, ob ich in einem solchen Unternehmen bleiben möchte.“
Landesgrenzen überwinden
Immerhin: Die Pandemie hat manche alten Strukturen gesprengt. In deren Frühphase galt es, technologische Grenzen zu überwinden, das noch weithin verbreitete Korsett Präsenzkultur wurde aufgeschnürt. Plötzlich saßen Teams verstreut, HR musste von jetzt auf gleich Prozesse orchestrieren, für die es keine Generalprobe gegeben hat. Nationale Abschottungen wurden derweil zum Hindernis: Ab März 2020 schrumpfte die Zahl der internationalen Entsendungen beträchtlich, Konzerne mussten ihre grenzüberschreitenden Einsätze auf ein Minimum zurückfahren, Hidden Champions, deren Führungskräfte zuvor hin- und hergependelt waren, wurden von ihren Auslandsstandorten abgeschnitten. Gleichzeitig rückten internationale Teams im virtuellen Raum enger zusammen. Stein hat dabei einen spannenden Effekt beobachtet: „Früher funktionierte die Organisation internationaler Teams klassisch Top-down: Führung und Personalmanagement haben den regelmäßigen Austausch quasi angeordnet“, sagt er. „Das hat sich umgedreht und funktioniert jetzt eher Bottom-up: Zwischen Menschen, die im Unternehmen ähnliche Themen verfolgen, entspinnen sich ganz natürlich Netzwerke.“ Die Pandemie hat dieser Entwicklung auch durch die selbstverständlich gewordene Nutzung von Slack, Zoom, Teams und Co. einen zusätzlichen Schub verpasst. Die Basis wächst weiter zusammen, das viel beschworene Mantra „Vernetzt euch!“ ist teils überflüssig geworden. Dank der verbreiteten Tools sind manche internationalen Belegschaften trotz aller Grenzen enger zusammengerückt, stimmen sich unterm Radar ab, bevor sie Ideen an die Leitungsebene weitergeben. Das Phänomen wird sich eher noch weiter verstärken, glaubt Stein. „Der Schritt zurück in die reine Präsenzkultur und zu ständigen Geschäftsreisen sowie Auslandsaufenthalten wird für Unternehmen, deren Geschäftsmodelle einen Verzicht darauf zulassen, kaum möglich sein“, sagt der Experte. „Auch angesichts des zunehmenden Fokus auf den CO2-Fußabdruck.“ Zudem deuten erste Studien an: Der Produktivität hat die flexiblere Art des Arbeitens keinen Abbruch getan, eher im Gegenteil.
Gesetzliche Grenzen von HR
Mentale Grenzen sprengen
Hinzu kommt: Unser Arbeitsmarkt ist immer stärker angewiesen auf Arbeitskräfte von überall. Manche IT-Dienstleister suchen Digitalfachleute längst nicht mehr nur innerhalb Deutschlands, sondern beschäftigen auch Profis, die etwa zu Hause in Lissabon oder Tallinn bleiben möchten. Der Recruiting-Radius erweitert sich. Und so auch die Perspektive auf die grenzenlose Zusammenarbeit. Stein beobachtet, dass sich hierzu die Grundeinstellung neu justiert. „Bislang wurde zu sehr auf Differenzen geachtet, wenn es um das interkulturelle Aufeinandertreffen und die Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg ging. Es wurde geprüft, wo es durch kulturelle Verschiedenheit zu Problemen und Konflikten kommen könnte – etwa die deutsche Strenge und italienische Lockerheit“, sagt Stein. Heute betonten wir eher das Konstruktive, den Mehrwert von Diversität: „Es geht jetzt um die Frage: Wie können wir kulturelle Synergien nutzen, um Innovationen zu schaffen?“
Diesen Schatz zu heben, gehört auch zum Aufgabenfeld von HR: andere Länder, andere Arbeitsmentalitäten, andere rechtliche Regelungen. Die Liste der Herausforderungen wird immer länger. Um nicht in jedem Teilgebiet Profi werden zu müssen, kann es sinnvoll sein, Arbeitsfelder voneinander abzugrenzen und aufzuteilen, statt sich am generalistischen Anspruch aufzureiben. So wie im Fall von Dorothea Sommermeyer von der Team-Gruppe. Sie genießt die Freiheit, die ihr Job bietet. „Dafür ist jetzt der Kollege zuständig“, gehört heute zu ihren Lieblingssätzen, wenn sie intern Anrufe entgegennimmt. Und ihrem Kollegen geht es da ganz ähnlich.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Grenzen. Das Heft können Sie hier bestellen.