Ganzheitliches Recruiting mit dem Lebenswelten-Modell

Organisationsmodell

Das Recruiting steht derzeit mächtig unter Druck: Es gibt mehr offene Stellen denn je, gleichzeitig versagen bewährte Recruiting-Maßnahmen in Zeiten des Personalmangels ihren Dienst. Die Arbeitswelt gerät aus den Fugen. In dieser turbulenten und kaum zu durchschauenden Gemengelage verwenden HR-Abteilungen ihre gesamte Energie auf operatives Recruiting und den Einsatz von Tools, etwa Facebook-Ads, Image-Videos oder Mitarbeitende-werben-Mitarbeitende-Programme. Doch neben deren erfolgversprechender Verwendung und dem Entwickeln strategischer Maßnahmen existiert ein weiterer, meist vernachlässigter Erfolgsgarant: die Recruiting-Organisation.

Mithilfe eines systematisch organisierten Recruitings lassen sich nachhaltige Strukturen schaffen, die Recruiting-Organisationen zu Performance und Erfolg verhelfen können. Wer das Recruiting auf mehrere Säulen stützt, schafft Resilienz, macht die Prozesse also krisensicher. Jedoch braucht es, um eine resiliente Organisation zu entwickeln, ein grundlegendes HR-Organisationsmodell.

Soziokratie und Holokratie

Agile Organisationen setzten in aller Regel auf Soziokratie oder Holokratie. Sie werden oft in einem Atemzug genannt, da sie beide das Ziel verfolgen, Menschen in Entscheidungsprozesse einzubeziehen und durch agile Strukturen mehr Produktivität, Schnelligkeit sowie eine höhere Zufriedenheit in der Belegschaft herzustellen.

Die Soziokratie ist der ältere der beiden Ansätze. Sie transformiert Organisationen ganzheitlich und schreibt dafür sieben Grundwerte, darunter Gleichstellung, Transparenz und Verantwortlichkeit, und vier Basisprinzipen,
etwa Konsent und Kreisorganisation, vor, die auf eine effiziente Unternehmensführung und auf eine integrative Entscheidungsfindung einzahlen. Die Holokratie setzt hier an und verschlankt weiterführend das Regelwerk und die strukturellen Vorgaben der Soziokratie. Dadurch soll die Organisation vor allem dazu in der Lage sein, schneller reagieren zu können.

Beide Modelle sind universell anwendbar und eignen sich auch für einen Einsatz in Recruiting-Organisationen. Doch Vorsicht: Sie zielen jeweils darauf ab, dass alle Beteiligten gleichermaßen mitentscheiden dürfen. In nach wie vor meist hierarchisch organisierten Unternehmen kann dieser Anspruch an der Realität scheitern. Will man sie also umsetzen, müsste man zuerst das Mittelmanagement absetzen und Führungskräfte entmachten. Nur so bekämen die Beschäftigten in der betrieblichen Gewaltenteilung mehr Gewicht.

Das Drei-Säulen-Modell

Das bekannteste und am meisten verbreitete Betriebsmodell in HR-Organisationen ist das Drei-Säulen-Modell des amerikanischen Managementberaters Dave Ulrich. Verkürzt gesagt trennt es HR in drei Bereiche: administrative Vorgänge in der Shared Services Organisation, die Business-Partner-Organisation als Stakeholder-Schnittstelle und die Center of Expertise als Fachwissen-Pool. Es hat in seinen ersten konzeptionellen Ausprägungen das Recruiting den transaktionalen – also den administrativ prozessual geprägten – Dienstleistungen zugordnet. Dies führt auch heute noch dazu, dass das operative Recruiting hauptsächlich in Shared-Services-Center-Organisationen stattfindet. Dagegen wird naturgemäß die Recruiting-Strategie, das HR-Marketing sowie das Employer Branding innerhalb der transformationalen Dienstleistungen, den Centern of Expertise, verortet.

Moderne Recruiting-Organisationen bringen das Drei-Säulen-Modell nun aber an seine Grenzen. Denn hier müssen alle Bereiche berücksichtigt werden, eine klare Zuordnung zu einer der Säulen ist nicht mehr möglich, wenn es gleichermaßen auf Strategie und operative Aufgaben ankommt. So werden die Shared-Services-Center-Recruiting-Organisationen mittlerweile mit qualitativeren Services zur Personalgewinnung ausgestattet. Das bedeutet, dass die Shared Services Center auch strategische Aufgaben übernehmen, um die notwendige Recruiting-Performance sicherzustellen und um vorhandene organisatorische Defizite auszugleichen, die durch die Trennung der beiden Bereiche entstehen. Solche Pannen können sein: Es gab keine Absprachen untereinander, Recruiting-Kampagnen und tatsächliche Maßnahmenpakete sind nicht aufeinander abgestimmt.

Flexibilität und Agilität

Der Wandel und die Gestaltung von Arbeit und ihren Räumen greift in die Organisation von Unternehmen und damit auch in die Gestaltung von Recruiting-Organisationen ein. Die bisherigen Organisationsmodelle passen nicht mehr, durch New Work entstehen neue. Die zielen vor allem auf eine Flexibilisierung der gesamten HR-Produktpalette ab und streben eine integrative Beteiligung aller HR-Stakeholder an.

Davon ausgehend müssen Recruiting-Verantwortliche abwägen, wie und in welcher Wertschöpfungstiefe diese Organisationskonzepte praktikabel und umsetzbar sind. Ein Schlagwort wie „Agilität“ kann zum Beispiel als handlungsanleitender Überbegriff kaum hilfreich sein. Stattdessen braucht es eher den Blick auf konkrete agile Methoden und Frameworks oder die Art und Weise, wie Zusammenarbeit und Arbeitsflüsse flexibel gesteuert werden können.

Um die Umsetzung agiler Szenarien sicherzustellen, ist es jedoch wichtig, dass die flexiblen Organisationsmodelle Bestandteil unternehmensweiter Arbeitszyklen werden. Arbeitet beispielsweise die Recruiting-Abteilung agil, organisiert also ihren Arbeitsfluss über ein Kanban Board und spricht von Backlog und Backlog Items und so weiter, während der Rest der Organisation dies nicht tut, dann entstehen hier bereits sprachliche Barrieren. Denn dann wird das Recruiting mit Nachrichten wie „Ja, lieber Fachbereich, wir nehmen dein Problem mit ins Backlog und beim nächsten Planning kommt es in den Sprint“ wahrscheinlich beim Gegenüber Fragezeichen ernten. Auch strukturell bestehen gravierende Unterschiede: Agile Teams organisieren sich selbst. Das Ergebnis ist das Ziel, der Weg ist dem Team überlassen. In klassischen Projektorganisationen ist es aber genau andersherum: Es wird ein Projektplan aufgestellt, der minutiös abgearbeitet werden muss. Es treffen also zwei Welten aufeinander.

Das Recruiting-Lebenswelten-Modell

Die Unternehmensorganisation gibt Strukturen und Regelwerke für das gesamte Unternehmen vor – und die Recruiting-Organisation wird daran angepasst. Wollen wir diese so gestalten, dass sie strukturell zur Recruiting-Dienstleistung passen, muss sich der Denkansatz grundsätzlich ändern und von den internen sowie externen Recruiting-Bedarfen ausgehend die passenden organisationalen Rahmenbedingungen bereitstellen.

Dieses neue, organisationale Recruiting Framework schließt vor allem die bestehenden strukturellen Lücken zwischen Employer Branding, HR-Marketing sowie Recruiting. Diese Disziplinen müssen in eine ambidextre handlungsfähige Form gebracht werden. „Ambidext“ heißt „beidhändig“ und bezeichnet die Fähigkeit von Unternehmen, gleichzeitig effizient und flexibel zu sein. Eine Organisation ist also auf der einen Seite kreativ und innovativ und auf der anderen Seite beherrscht sie die administrativen Prozesse. Aus dieser neu formierten Recruiting-Dienstleistung resultieren Aufgaben, die maßgebend für eine Neuorganisation der Personalgewinnung wichtig sind. Im Kern ergeben sich daraus drei Handlungsebenen:

Die Recruiting-Managementebene macht sich die steuernden sowie die strukturierenden Aufgabenstellungen zu eigen. Vornehmlich ist sie für die Zusammenführung der strategischen Ziele aller drei Disziplinen im Recruiting und für die gesamte Recruiting-Perfomance der Organisation verantwortlich. Die Recruiting-Managementebene vertritt darüber hinaus die Recruiting-Organisation in Richtung Topmanagement.

Auf der Recruiting-Konzeptebene werden die strategischen Vorgaben übersetzt und daraus operativ einsetzbare Handlungskonzepte erarbeitet. Maßgebend für diese Ebene sind vor allem HR-Marketingkonzepte, die mit dem strategisch operativen Recruiting verzahnt werden. Zudem nimmt die Konzeptebene als Drehscheibe von Informationen Rückmeldungen aus der Methodenebene auf und verarbeitet sie entsprechend.

Das operative Recruiting findet auf der Recruiting-Methodenebene statt, die in diesem Sinne auch als operatives Herzstück der Recruiting-Organisation gilt. Sämtliche operativen Konzepte entfalten hier ihre Wirkung und werden durch Methoden und Tools wie Interviewtechnik, Auswahlinstrumente, Auftragsmanagement (CRM) oder Active Sourcing ergänzt, die auf der Recruiting-Methodenebene entwickelt wurden. Die Recruiting Lebenswelt, die als Rahmen für das Modell verstanden werden kann, betrachtet das Recruiting ganzheitlich und bezieht alle operativen sowie strategische Aufgabenstellungen und die Fülle an Umweltbedingungen mit ein. Sie beschreibt ebenso die Arbeits- und Wirkungsbereiche der Recruiting-Verantwortlichen und fasst Employer Branding, HR-Marketing und Recruiting zusammen.

Fazit

Die Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt sind enorm. Recruiting-Organisationen kommen nicht mehr drumherum, sich methodisch mit ihrer Organisation und ihren Strukturen zu beschäftigen. Die wissenschaftlichen Nachweise, dass Organisationsstrukturen maßgeblich Einfluss auf den Erfolg von Organisationen besitzen, sind längst erbracht. Es geht also nicht mehr um die Frage, ob, sondern nur noch wann sich Recruiting systematisch organisiert.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Grenzen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Michael Witt, Recruiting und HR-Marketing Consultant

Michael Witt

Michael Witt ist Recruiting und HR-Marketing Consultant, Witt Consult, Stuttgart. Er kann auf eine langjährige Berufserfahrung in leitenden Recruiting- und Personalmarketing-Funktionen verweisen. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet. Zudem ist er Gründer des Recruiterslam und der HR Tec Night, Blogger, Podcaster und Buchautor. Witt unterstützt Unternehmen bei der Modellierung ihrer Recruiting- und Personalmarketingorganisation. www.lebensweltrecruiting.com

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