Das AGG soll Diskriminierung verhindern. Dieses hehre Ziel stellt HR-Abteilungen aber durchaus vor Herausforderungen. Besonders auf Schadensersatz ausgerichtete Scheinbewerbungen sind ein Problem. Hierzu hat sich nun der EuGH (28.7.2016 C-423/15) geäußert.
Das Inkrafttreten des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) jährte sich am 14. August 2016 zum zehnten Mal. Das AGG schützt Stellenbewerber gegen Benachteiligungen aus Gründen der Rasse, der ethnischen Herkunft, dem Geschlecht, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität. Bald nach Inkrafttreten des AGG kamen „findige“ Zeitgenossen auf die Idee, sich den vom AGG bezweckten Diskriminierungsschutz auf besondere Art und Weise zunutze zu machen: Sie bewerben sich nicht mit der aufrichtigen Intention, eine Stelle tatsächlich zu erhalten, sondern gerade umgekehrt mit der Intention, abgelehnt zu werden, um alsdann auf Grundlage der Vorschrift des § 15 AGG Entschädigung einzuklagen. Nahezu pünktlich zum 10-jährigen des AGG hat der EuGH nun auf Vorlage des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entschieden, dass diese sogenannten „AGG-Hopper“ rechtsmissbräuchlich handeln und sich nicht auf den Schutz der Gleichbehandlungsrahmen- sowie der Arbeitnehmer-Gleichbehandlungsrichtlinie der EU berufen können.
Der Sachverhalt
Der 1973 geborene Kläger, seit 2001 Volljurist (2. Staatsexamen ausreichend), bewarb sich 2009 auf eine von der R+V Allgemeine Versicherung AG ausgeschriebene Trainee-Stelle für Hochschulabsolventen unter anderem der Fachrichtung Jura. Neben einem sehr guten, allenfalls ein Jahr zurückliegenden Hochschulabschluss war berufsorientierte Praxiserfahrung sowie bei Juristen eine arbeitsrechtliche Ausrichtung oder medizinische Kenntnisse vorausgesetzt. In seine Bewerbung schrieb er, als früherer leitender Angestellter einer Rechtsschutzversicherung über Führungserfahrung zu verfügen. Als solcher und als Rechtsanwalt sei er selbständiges Arbeiten ebenso gewohnt wie Verantwortung zu übernehmen. Aktuell besuche er einen Fachanwaltskurs für Arbeitsrecht und betreue ein umfangreiches medizinrechtliches Mandat.
Die R+V lehnte die Bewerbung mangels Einsatzmöglichkeit ab. Nachdem der Kläger fristgerecht eine Entschädigung in Höhe von 14.000 Euro wegen Altersdiskriminierung geltend gemacht hatte, lud ihn die R+V zu einem Vorstellungsgespräch bei ihrem Personalleiter ein; die Absage sei automatisch generiert worden und habe so nicht ihren Intentionen entsprochen. Der Kläger lehnte die Einladung ab und schlug vor, nach Erfüllung des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs über seine Zukunft bei R+V zu sprechen. Später verlangte er zusätzlich eine Entschädigung wegen Geschlechterdiskriminierung in Höhe von 3.500 Euro, da trotz paritätischer Verteilung der Bewerber auf die Geschlechter sämtliche Stellen mit Frauen besetzt worden seien. Seine Klage blieb beim Arbeitsgericht Wiesbaden und beim Landesarbeitsgericht Hessen erfolglos. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) sah ihn nicht als „Bewerber“ im Sinne des AGG an; aufgrund der von ihm betonten Führungserfahrung komme er als Trainee nicht in Frage; zudem habe er die Einladung zum Vorstellungsgespräch ausgeschlagen. Da das EU-Recht jedoch nicht den „Bewerber“ als solchen schütze, sondern den „Zugang zur Beschäftigung oder zu abhängiger… Erwerbstätigkeit“, legte das BAG den Fall dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Klärung vor, ob auch der nur formale Bewerber vom Schutz der Richtlinien erfasst sei, und, gegebenenfalls, ob ein solches Verhalten als Rechtsmissbrauch bewertet werden könne.
Die Entscheidung
Nach diesem Urteil des EuGH kann sich niemand auf den Schutz der Richtlinien berufen, der den formalen Status eines Bewerbers nur um der Entschädigung willen anstrebt. Das folge schon aus dem Wortlaut der Richtlinientitel. Auch von ihrem Schutzzweck her seien nur Fälle betroffen, in denen Bewerber ernsthaft um die Anstellung bestrebt sind. Eine weitergehende Auslegung liefe dem Zweck zuwider, Gleichbehandlung zu sichern und Diskriminierungen vorzubeugen. Mangels tatsächlicher Beschäftigungsabsicht entstehe solchen Personen auch kein materieller oder immaterieller Schaden.
Rechtsmissbräuchliches Verhalten setze voraus, dass subjektiv aufgrund objektiver Anhaltspunkte ein unzulässiger Vorteil (hier ein Entschädigungsanspruch), erstrebt werde. Das festzustellen, sei Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts, soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werde.
Praxishinweis
Einerseits ist es begrüßenswert, dass der EuGH Scheinbewerbungen grundsätzlich einen Riegel vorschiebt. Andererseits lassen sich seinem Urteil keine konkreten Anhaltspunkte dafür nehmen, wann eine solche Scheinbewerbung vorliegt. Für den Praktiker empfiehlt es sich deshalb erstens, sich weiter an den Anhaltspunkten zu orientieren, die sie aus der Rechtsprechung des BAG und der Landesarbeitsgerichte ergeben. Das können zum Beispiel offensichtliche Über- oder Minderqualifikationen sein, massenhafte Bewerbungen auf benachteiligende Stellenausschreibungen und entsprechend viele Rechtsstreitigkeiten, die erhebliche finanzielle Verschlechterung im Vergleich zum bestehenden Arbeitsverhältnis, das Ausschlagen von Vorstellungsgesprächen, offensichtlich unvollständige Bewerbungsunterlagen und sonstig auffällig ablehnendes Verhalten im gesamten Bewerbungsverfahren, etwa ein bewusst abschreckendes Bewerbungsschreiben.
Zweitens – und vor allem – muss sich der Personalpraktiker stets bewusst sein, dass es den (einen) Anhaltspunkt nicht gibt und sich eine Scheinbewerbung im konkreten Fall letztlich nur durch detailliertes Vorbringen all jener Umstände erkennen und beurteilen lässt, aus denen sich der fehlende Wille ergibt, die ausgeschriebene Stelle gar nicht antreten zu wollen. Das bedingt insbesondere eine sachkundige und sorgfältige Auseinandersetzung mit der einzelnen Bewerbung.