Für Unternehmen wird die Fähigkeit zu Innovationen immer mehr zum entscheidenden Kriterium für die eigene Zukunftssicherung im Zuge der digitalen Transfromation. Doch Innovationskraft lässt sich nicht verordnen. Was also tun? Ein Anstoß.
Die Digitalisierung ist in aller Munde: Kaum noch eine Konferenz mit anderem Inhalt, kaum ein Unternehmensleitbild, dass sie nicht verkündet, kaum ein Wirtschaftsmagazin ohne entsprechenden Schwerpunkt. Es ist in den Köpfen der Manager und Unternehmenslenker angekommen, dass wir uns inmitten einer fulminanten Veränderung befinden, in der sich die Logiken und Geschäftsmodelle radikal ändern. Die heutige Zeit ist vergleichbar mit anderen Phasen, in denen Erfindungen wie der Buchdrucks die Nutzbarmachung der Elektrizität und die Entwicklung des Verbrennungsmotors zu großformatigen Veränderungen von Gesellschaft und Wirtschaft geführt haben.
Die neu entfachte Sensibilität der Wirtschaft für die anhaltende derzeitige Veränderungsphase ist deshalb so hoch, weil mit diesen Veränderungen immer auch eine Neujustierung der Macht und der Marktplayer einhergeht. Es entsteht aktuell eine Klarheit darüber, dass Ereignisse wie das komplette Verschwinden der Firma Kodak vom Markt, die Pleite der Firma Nokia und auch die Erfolge von Firmen wie Google, Uber oder Tesla eben keine Zufälle waren. Man könnte sagen, dass den Firmen im Moment klar wird, dass der rote Faden hinter diesen Erfolgen oder Misserfolgen die Nutzung oder Missachtung der Möglichkeiten der Digitalisierung ist.
Jede Firma möchte auch in Zukunft noch mitspielen – und im Moment wird gespürt, dass das nicht mehr selbstverständlich sein wird, weil die Karten gerade neu gemischt werden. Es wird abhängen von der Fähigkeit, die sich laufend erweiternde auf der Digitalisierung basierende Technologie nutzbar zu machen. Sie mit dem eigenen Geschäftsmodell zu kombinieren oder gar ganz neue Geschäftsmodelle zu erfinden. Auch ist es nicht für jede Branche zu jedem Zeitpunkt gleich relevant. Nahm der Einfluss der Digitalisierung seinen Anfang in der Entstehung der Computerindustrie, kam danach die Fotografie-& Film- sowie die Medienbranche in den Fokus, so befindet sich derzeit mit Sicherheit die Automobil-Branche im Auge dieses Hurrikans. Andere Branchen wie die Pharmaindustrie sind durch langfristige Entwicklungszyklen und lange Patentlaufzeiten noch später „dran“. Aber eines ist sicher: Die Digitalisierung wird alle Branchen durchlaufen und es wird immer stürmisch, weil disruptiv sein.
Was muss ein Unternehmen also mitbringen, um diesen Sturm zu überleben? Innovationsfähigkeit. Das ist aus meiner Sicht die Schlüsselkompetenz, um die sich ergebenden Chancen zu nutzen und den Fortbestand des eigenen Unternehmens zu sichern.
Wie entstehen Innovationen?
Um beurteilen zu können, wie innovationsfähig ein Unternehmen in dieser Hinsicht ist, muss man verstehen, dass Innovationen nicht zentral gesteuert werden können. Innovationen entstehen immer dann zufällig an den Rändern von Organisationen, wenn Mitarbeiter sich mit den Produkten, den Kunden oder den Wettbewerbern beschäftigen. Sie entstehen als kreative Leistung in den Köpfen der Mitarbeiter – und zwar aller Mitarbeiter, und nicht nur derjenigen in einer etwaigen Abteilung Digitalisierung, IT oder Innovation. Die Innovationsimpulse, die heute nötig sind, kommen auch nicht aus einem internen Verbesserungswesen hervor! Es geht gerade nicht mehr um die kleinschrittige Verbesserung des Bestehenden – sondern um radikale Neuerungen, die sogar das eigene Geschäftsmodell kannibalisieren können!
Machen wir es plakativ, in dem wir uns eine Branche und ihre derzeitigen Innovationstreiber anschauen: Die Automobilbranche sieht sich derzeit drei zentralen, einflussnehmenden Entwicklungen gegenüber. Da ist zum Einen das autonome Fahren, zum anderen die digitale Konnektivität des Autos selber und die Elektromobilität. Alle diese Entwicklungen sind eine konkrete Bedrohung für das bisherige und gewachsene Geschäftsmodell des Verbrennungsmotors und der individuellen Mobilität. Es geht hier also ums Ganze – und das in einem Marktumfeld, in dem Tesla bereits ein vollständig auf Elektromotoren basierendes Portfolio im Markt hat und Google Cars in Taiwan bereits selbstfahrende Autos breitflächig einsetzt.
Diese großen Veränderungen führen deshalb auch immer zu einer Aufbruchstimmung, denn sie kreieren zwar für die Platzhirsche Bedrohungen, aber für die Neugründungen Chancen! Dadurch entsteht ein kreatives Umfeld, nachdem auch die Generation Y – auch Digital Natives genannt – bei der Auswahl ihres Arbeitsplatzes sucht. Erfahrungsgemäß führt ein Umfeld, in dem Mitarbeiter ihre Gedanken zur Weiterentwicklung der Firma offen und mutig einbringen können, auch zu einer hohen Mitarbeiterzufriedenheit. Und leider gilt der Umkehrschluss eben auch: Eine niedrige Mitarbeiterzufriedenheit geht meistens mit einer inneren Distanz der Mitarbeiter zum Unternehmensgeschehen einher. Voller Tatendrang mit hoher Eigenverantwortung und mit Herzblut die Dinge voranbringen wird in solchen Kulturen zur Seltenheit.
Ein absolutes Warnzeichen muss deshalb die Umfrage der Meinungsforschungsfirma Gallup aus dem Jahr 2015 sein, die belegt, dass nur noch magere 16 Prozent der Mitarbeiter in Deutschland hoch motiviert sind. 84 Prozent sind es nicht – hier schlummert das kreative und tatkräftige Potenzial, mit dem die Unternehmen die Digitalisierung meistern können. Für mich ist die zentrale und existenzielle Frage für die Unternehmen heute deshalb die, ob die Strukturen eines Unternehmens durchlässig für die innovativen Ideen ihrer Mitarbeiter sind? Auch die Kultur einer Firma – definiert als das Ergebnis der Summe der Verhaltensweisen von Führungskräften und Mitarbeitern – spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Wie sind Unternehmen heute organisiert?
Man kann die Art, wie Unternehmen heute organisiert sind als „Pyramidale Hierarchie“ bezeichnen. Zwar wird diese in Aufgaben und Prozesse fragmentierte Organisationsform als gegeben hingenommen. Sie hat jedoch einen Ursprung und eine Ursache, und das ist nicht irrelevant, um ihre Wirkungsweise zu verstehen: Die pyramidale Hierarchie entstammt der Kriegsführung und wurde erst im 18. Jahrhundert auf die Landwirtschaft übertragen. Die Aufgabe in der Landwirtschaft war damals Tagelöhnergruppen zu effizienten Arbeitskolonnen zu formen. Hierzu wurde die Stelle eines Vorarbeiters geschaffen, der über Kontroll- und Sanktionsmechanismen verfügte. Mit anderen Worten hatten die Arbeiter schlicht Angst vor der Macht des Vorarbeiters, gehorchten deshalb und ließen ihn auch alle wesentlichen Entscheidungen treffen. In den letzten 15 Jahren ist dieser Organisationsform mit ihrer Fragmentierung an Aufgaben, Hierarchieebenen und Prozessen perfektioniert worden. Ganze Heerscharen von Unternehmensberatern lebten gut von der Durchführung so genannter Effizienzsteigerungsprojekte. Herausgekommen ist zugegebenermaßen eine Effizienzkultur, die gleich einer gut geölten Maschine hohe Produktqualität erzeugt und die bestehenden Produkte weiter entwickelt.
Es scheint als sei mit der Digitalisierung der Zenit dieser Organisationsform als alleiniger Wahrheit erreicht. Heute geht es für die Unternehmen aber vielmehr darum, mündige Wissensarbeiter zu kreativen Höchstleistungen jenseits bestehender Geschäftsmodelle zu bringen, um zu überleben.
Dabei wirkt die Angst vor Sanktionen als Hemmnis für eigenverantwortliches Handeln und Kreativität. Dem versuchen die Unternehmen seit Jahren mit diversen Führungsausbildungen Herr zu werden. Jedoch ist eine diese Angst transzendierende Führung zum großen Teil ein Talent, welches aus Anlagen, früher Prägung im Elternhaus und entsprechenden Vorbildern und Erfahrungen geformt wird. Es geht also weniger um das Erlernen von Tools als um eine innere Haltung und Persönlichkeitsstruktur, die kaum strukturiert erlernt werden kann. Und weil genau das in vielen marktführenden Firmen wie beispielsweise Samsung, Zappos, Favi oder Buurtzorg sehr bewusst ist, schaut man sehr kritisch auf diesen „Hidden negative Factor“ der pyramidalen Hierarchie.
Zwei Wege zur Innovationsfähigkeit
Streng genommen kristallisieren sich gerade zwei Wege heraus, wie durch Aufbau- und Ablaufstrukturen in den Unternehmen Innovationsfähigkeit erreicht werden kann. Der eine Weg bietet sich für Unternehmen an, die eine längere Tradition der „pyramidalen Hierarchie“ haben. In diesen Unternehmen ist es wichtig, die existierende Effizienzkultur beizubehalten, um die existierenden Umsatzströme nicht alternativlos zu gefährden. Vielmehr geht es in diesem System darum eine zweite Kultur und Struktur zu erschaffen – nennen wir sie die Innovationskultur. Möchte man diesen Weg beschreiten, so ist es wichtig, dass zunächst das Topmanagement versteht, welches Führungsverhalten, welche Freiheitsgrade, welche Vorgehensweisen und welche Persönlichkeitstypen an Mitarbeitern dazu geeignet sind, ein innovatives Umfeld zu gestalten.
Führungskräfte, die in einem solchen Umfeld erfolgreich sein wollen, benötigen eine Haltung des Empowerment und des Vertrauens in die Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter. Die zentrale Führungsaufgabe ist es, für ein Umfeld zu sorgen, das es den Mitarbeitern möglich macht, von sonstigen Partikularinteressen unberührt tatsächlich kreativ zu arbeiten. Die „empowerte“ Führungskraft dient so ihren Mitarbeitern. Vielen heutigen Führungskräften steht dabei jedoch deutlich ihr Ego und eigenes Machtinteresse im Weg. Innerhalb eines solchen Umfeldes sind dann Vorgehensweisen wie Design Thinking, agiles Projektmanagement und Rapid Prototyping empfehlenswert, mit deren Hilfe innovative Teams schnell Fortschritte machen.
Ein prominentes Beispiel dieses zweigleisigen Vorgehens ist die Erfolgsgeschichte der Firma Samsung. Samsung hat vor zehn Jahren ganz bewusst auf der C-Level-Ebene einen Chief Innovation Officer (CIO) installiert, um der Innovationskultur und Vorgehensweise ebensoviel Raum zu geben, wie es die Effizienzkultur durch den COO hat. Dieser CIO führt circa 1.000 Mitarbeiter, die netzwerkartig über die Firma verteilt sind. Das Netzwerk ist antihierarchisch und gibt Raum für innovatives Denken und Ausprobieren. Über den CIO werden die Ideen in den Vorstand eingebracht und somit ein Haupthindernis umgangen, das normalerweise für die meisten Tode guter Ideen zuständig ist: Die Partikularinteressen, Einzelziele und Ansichten der Mächtigen in der bestehenden Effizienzkultur.
Der zweite Weg hin zu einer Innovationskultur wird vor allem von neugegründeten Firmen beschritten, und manchmal auch als „letzte Alternative“ von solchen, die vor der Insolvenz stehen. Es ist der vollständige Verzicht auf jegliche hierarchische Führung und Führungskräfte.
Mitnichten entsteht so ein vielleicht von dem einen oder anderen gemutmaßtes basisdemokratisches Miteinander. Denn es gibt ein festes Regelwerk an Rollen und Entscheidungswegen. Oft steht im Zentrum eines solchen Unternehmens ein Collaboration-Tool, dass den Austausch und Wissenstransfer der Mitarbeiter untereinander regelt. Der Verzicht auf Führungskräfte führt nicht nur zu einer enormen finanziellen Entlastung, sondern erhöht auch die Mitarbeitermotivation enorm. Die Mitarbeiter haben das Gefühl, dass es tatsächlich ihre Verantwortung ist, wie das Unternehmen sich entwickelt. Und sie fühlen sich erstaunlicherweise selten damit überfordert, sondern tatsächlich mit ihren Fähigkeiten richtig eingesetzt. Dadurch das keine Führungskraft für Entscheidungen, Neuerungen oder Entwicklungen verantwortlich gemacht werden kann, hört auch das heute oft zu beobachtende Klagen in den Kaffeeküchen völlig auf. Die Energie der Mitarbeiter fließt in die Weiterentwicklung des Unternehmens, in das Lösen von Herausforderungen.
Ein gutes Beispiel für ein solches Unternehmen ist die Firma Buurtzorg in den Niederlanden, die es in dem vollständig gesättigten, effizienzgetrimmten Markt der Alten- und Krankenpflege in den zehn Jahren seit ihrer Gründung auf 9.500 Mitarbeiter gebracht hat. Dabei erzielt sie trotz starken Wachstums eine durchschnittliche Rendite von 7 Prozent und hat heute einen Marktanteil von 50 Prozent. Buurtzorg ist das fünfte Mal in Folge zum besten Arbeitgeber Hollands gewählt worden und kommt ohne eine einzige Führungskraft aus! Derzeit versuchen 47 Länder dieses Modell nachzuahmen. Eine große Wirtschaftsberatung, die das Unternehmen untersucht hat, kam zu dem Fazit: „Es ist absolut erstaunlich was da gelingt. Wir wissen nicht wie, aber sie sind besser, schneller, erfolgreicher und beliebter als alle Konkurrenten. Und das ohne Führung.“ In diesem Fazit können Sie erkennen, wie ungewöhnlich dieser Weg noch gesehen wird, denn es wird nicht erkannt, dass gerade weil keine Führung da ist, dieser Erfolg möglich ist.
Erste Schritte
Beide oben beschriebenen Wege – Samsung und Buurtzorg – zeigen auf, wie es gelingen kann, die Kreativität der Mitarbeiter tatsächlich zu aktivieren. Oft werde ich gefragt, wie denn der erste Schritt aussehen müsste, wenn eine Firma sich in Richtung Innovationsfähigkeit weiterentwickeln möchte.
Letzten Endes ist das ganz einfach: Das Topmanagement der Firma muss sich die Frage stellen, inwieweit die Strukturen der eigenen Firma das übergreifend innovative Denken ihrer Mitarbeiter unterstützen. Und das Topmanagement muss verstehen, dass es selber die wichtigste Instanz in diesem Veränderungsprozess hin zu einer Haltung des Empowerment und der Ermutigung ist. Das lässt sich nicht einfach an seine Führungskräfte oder den HR-Bereich delegieren. Ein Österreicher würde es so ausdrücken: „Die Treppe kehrt man von oben.“