Der Freiheitsliebende

Future of Work

Cédric Waldburger ist jemand, der Freiraum über alles schätzt. Auf Materielles legt er keinen Wert. Das Porträt eines Multimillionärs, der als Minimalist lebt

Präzise wie ein Schweizer Uhrwerk empfängt der Züricher Unternehmer und Investor Cédric Waldburger zum Gespräch – bereits fünf Minuten vor dem Termin ist er im virtuellen Gesprächsraum. Sein Set-up wirkt wie die professionelle Liveschalte eines Fernsehsenders: ein hochauflösendes Kamerabild mit Tiefenunschärfe, das Gesicht ausgeleuchtet und das Firmenlogo stets eingeblendet. Was in dem hellen Arbeitszimmer noch auffällt: weiße Wände ohne Bilder so weit es der Kamerawinkel erfasst. Lediglich der Farbakzent eines violetten Lichts im Hintergrund gibt dem Raum Atmosphäre. Für jemanden, dessen gesamte Besitztümer in einen Rucksack passen, spielt Dekoration keine Rolle. Dabei könnte sich der 32-Jährige teure Kunstwerke für die Wände seiner Wohnung leisten. Ein von ihm mitgegründetes Unternehmen ist Medienberichten zufolge mit zwei Milliarden Dollar bewertet. Dennoch haben materielle Dinge für ihn keinen Wert. Er ist Minimalist.

Sein erstes Unternehmen gründete Waldburger im Alter von 14 Jahren aus einem Hobby heraus. Gemeinsam mit einem Freund hat er Logos und Websites entworfen. Daraus ist 2002 eine Agentur entstanden. Waldburger hält das Agenturgeschäft für einen guten Einstieg in das Unternehmertum. Der Grund: Dort ergibt sich vieles Learning by Doing. Die Gründer konnten Stolpersteine überwinden, ohne dass die Firma einen Schaden davongetragen hat. Im Jahr 2018 verkaufte er die Agentur gewinnbringend. Heute gilt er als Start-up-Investor mit Hang zum Fintech- und Finance-­Bereich. Bisher hat er bei mehr als 20 Unternehmensgründungen eine Rolle gespielt: Mal sind sie aus seiner Idee heraus entstanden, mal hat er sie als Investor mitfinanziert.

Aktuell verbringt Waldburger 100 Prozent seiner Zeit damit, in Firmen zu investieren. Das geschieht über sein Venture-Capital-Unternehmen Tomahawk.VC. Mit der Risikokapitalgesellschaft investiert er sein Geld sowie das von drei weiteren Investoren zeitlich begrenzt in junge Wachstumsunternehmen. Nach Risiko hört es sich allerdings nicht an, wenn er davon erzählt, dass seine Firma mit rund 30 Millionen in andere Unternehmen investiert ist. Von Sorge um Kapitalverlust keine Spur. Ganz im Gegenteil: Der Unternehmer strahlt Ruhe und Selbstsicherheit aus. Er scheint sich sicher zu sein, die richtigen Kapitalanlagen ausgewählt zu haben. Finale Investitionsentscheidungen hat Waldburger sonst immer durch ein persönliches Treffen besiegelt. Seit Beginn der Pandemie finden diese virtuell statt. Doch Video-Meetings lassen nur einen begrenzten Eindruck des Gegenübers zu. Gespräche wie beim Abendessen, bei denen er auch die Person hinter dem Business kennenlernt, bleiben seither aus. Für ihn eine Situation, an die er sich anfangs gewöhnen musste.

Gemeinsam sucht das neunköpfige Team von Tomahawak.VC nach Firmen, in die es investieren möchte. Dabei handelt es sich meist um Technologie-Start-ups. „Mich treiben Unternehmen an, die einen positiven Impact auf das Leben von zahlreichen Menschen haben“, sagt Waldburger. Die Finanzbewertungen seiner Unternehmen beeindrucken ihn hingegen kaum. Solche Bewertungen ermöglichen zwar gewisse Ressourcen, aber das wirklich Spannende sei, wenn die Technologie zur Anwendung komme und das Leben anderer bereichere. Für die Investmentfirma strebt der studierte Elektrotechniker Wachstum an, jedoch langsam und Schritt für Schritt. Man könne nicht von heute auf morgen das Investitionsvolumen auf 100 Millionen steigern. Das würde den Fokus und die Prozesse verändern.

Der Weg zum Minimalismus

Reportagen porträtieren den gebürtigen Schweizer meistens am Flughafen, wenn er einen seiner zahlreichen Zwischenstopps einlegt. Der Geschäftsmann bereiste jahrelang die Welt, hielt sich an Orten selten länger als drei Nächte auf. Bei einem dieser Zwischenstopps im Jahr 2016 fasste er den Entschluss, seine Wohnung auszulösen. Es war ein Septemberabend, an dem er spät von New York nach Zürich gekommen war. Am nächsten Morgen stand ein Weiterflug nach Amsterdam an. Auf der Fahrt zum Flughafen wurde ihm bewusst, dass er den Umweg über Zürich und fünf Stunden zusätzliche Reisezeit nur in Kauf genommen hatte, um seine Wohnung auch mal ein oder zwei Nächte im Monat zu nutzen. Schließlich bezahle er sie. Er erkannte: „Ich möchte Sachen besitzen, aber nicht von ihnen besessen sein.“ Noch auf der Fahrt hat er seinen Vermieter informiert und die Wohnung gekündigt.

Seit mehr als sieben Jahren verfolgt er die Idee, möglichst wenige materielle Dinge zu besitzen. Je geringer der materielle Besitz, desto mehr ist sein Kopf frei für Dinge und Personen, die ihm wichtig sind. Waldburger gibt nicht nur das übliche Hab und Gut eines Hausstands auf, sondern auch Erinnerungsstücke oder Geschenke von geliebten Menschen. Sich von allen Sachen zu trennen, ist für viele ein schwieriger Prozess, aber ihm nicht sonderlich schwergefallen. Gegenstände mit einer emotionalen Bedeutung hat er als Foto oder Scan digitalisiert. Das gibt ihm ein besseres Gefühl. Einen Moment, in dem er etwas vermisst oder bereut, einen Gegenstand weggeben zu haben, kennt er nicht.

Als einen ausschlaggebenden Moment in seinem Leben nennt er den Job bei einer Investmentbank in London im Jahr 2012. Diesen nahm er aus Lust auf eine neue Erfahrung an. Schon am ersten Arbeitstag stand für ihn fest, dass er dort nicht glücklich werden würde. In dem großen Konzern hat er erlebt, wie Menschen nur den Ressourcen hinterherlaufen, ohne sich zu fragen, was sie eigentlich wirklich machen wollen und was sie glücklich macht. Ihn hat das an den Punkt gebracht, sich selbst zu fragen: Was macht mich eigentlich glücklich? Die Antwort darauf hat er längst gefunden. Seine Leidenschaft ist es, an einem Prozess zu lernen, Firmen zu gründen und diese systemfähig zu machen. Er strebt danach, positive Veränderung in der Welt herbeizuführen.

Auf seinen Reisen kam irgendwann der Gedanke auf, wie viele Sachen er überhaupt besitzt. Der Beginn seiner Excel-Tabelle, die er heute noch führt. Immer mit der Frage im Hinterkopf, wie weit sich Besitz ohne das Gefühl von Einschränkungen reduzieren lässt. Am Anfang umfasste die Liste rund 650 Sachen. Es dauerte etwa drei Monate, sie zu vervollständigen. Schließlich reduzierte er erst auf 130 Gegenstände, ohne Wohnung dann auf 64. Alle 90 Tage prüft er seine Liste, ob er eine Sache in den letzten 90 Tagen genutzt hat oder sie in den nächsten 90 Tagen brauchen wird. Lauten beide Antworten nein, gibt es für ihn keinen Grund, den Gegenstand zu behalten. Dabei sei Minimalismus nicht das Ziel, sondern eher eine Nebenwirkung. Er möchte einfach mehr Zeit mit Start-ups verbringen, flexibel sein und reisen – dafür braucht es weniger Besitz.

Cédric Waldburger und seine 64 Gegenstände
Von einem Hausstand mit rund 650 Sachen hatte Cédric Waldburger seinen Besitz vor einigen Jahren auf 64 Gegenstände reduziert. © Cédric Waldburger / cedricwaldburger.com

Die Bedeutung von Status

Waldburger besitzt nur schwarze Sachen. Seinen einzigen farblichen Gegenstand hält er mit einem Lachen in die Kamera – einen roten Reisepass. Für manche mag es eine Stilfrage sein, für ihn hat die Entscheidung zum Schwarz praktische Gründe. Er möchte sinnlose Entscheidungen aus seinem Leben eliminieren. Dazu zählt er die Wahl der Kleiderfarbe, aber ebenso die seiner Getränke. Seit Jahren trinkt er nur Wasser. Keine lästige Entscheidungsfindung darüber, ob es lieber Tee, Saft oder Kaffee sein darf. Es sei eine bewusste Entscheidung, den Fokus auf etwas zu richten. Er reduziert in bestimmten Lebensbereichen, um in anderen mehr geben zu können. So hält er Minimalismus für ein wichtiges Tool für Unternehmerinnen und Unternehmer, die sich allesamt die Frage stellen sollten: Worauf fokussiere ich mich, wenn die Ressourcen begrenzt sind? Für ihn ein Schlüssel zum Erfolg.

Er selbst wirkt sehr fokussiert. Im Video-Meeting ist sein Blick stets in die Kamera gerichtet und er ist offen für jede Frage. Es hat den Anschein, als seien Gespräche wie diese für ihn ein Kinderspiel, dennoch ist er vollkommen präsent. Dieses Pressegespräch um zwölf Uhr mittags ist eines der ersten Meetings an diesem Tag. Seinen Arbeitstag splittet Waldburger in zwei Teile: von morgens bis mittags arbeitet er an langfristigen Projekten, die seine volle Konzentration benötigen, am Nachmittag folgen Aufgaben, die an ihn herangetragen werden – also beispielsweise Interviews, Meetings oder E-Mails. Das hilft ihm, jeden Tag bei den wichtigen Projekten Fortschritte zu machen. Was ihm und vor allem seinem Remote-Team noch hilft, ist eine umfangreiche Prozessdokumentation. Er nennt es das Cédric-Operating-Manual und schmunzelt. Im Dokument finden sich auf 700 Seiten Beschreibungen, wie sein Team am besten mit ihm umzugehen hat. Es beinhaltet Anleitungen zu E-Mail-Antwortvorlagen über Buchungen von Flügen bis hin zu Investmentkriterien.

Waldburger bedeuten Titel und Status nichts. Ob er den Titel CEO, Experte oder Sachbearbeiter trage, spiele keine Rolle. „Freiheit steht über allem für mich, weil sie mich glücklich macht.“ Was nicht bedeute, dass er keine Verpflichtungen eingehe. Freude zieht er aus Gesprächen und Momenten mit Menschen, die ihm lieb sind, weniger aus materiellen Dingen. Ein Luxus, den Walburger sich leistet, sind Erlebnisse und Reisen. So hat er vergangenes Jahr eine Nacht in einer mobilen Plattform an einer Felswand verbracht, einer sogenannten Portaledge. Meistens sind es aber Reisen, für die er sein Geld ausgibt. Reisen und das Kennenlernen anderer Kulturen schaffe schließlich am ehesten Verständnis dafür, dass die Welt größer ist als das eigene Quartier oder Land. In Zukunft will er wieder mehr Zeit im Ausland verbringen – im Idealfall möchte er alle drei bis sechs Monate an einem anderen Ort leben. Am liebsten mal sechs Monate irgendwo am Strand, mal drei auf einer Selbstversorgungsfarm, dann vielleicht eine Zeit lang in reduzierten Verhältnissen, um danach in Manhattan mitten in der Stadt zu sein. Diese Vielfalt in der Welt zu sehen, ist aus seiner Sicht die beste Ausbildung.

Der Mut für Neues

Im Jahr 2019 hat er wieder eine Wohnung in Zürich bezogen. Die möchte er auch fürs Reisen nicht aufgegeben, sondern als Basis nutzen, um von dort aus in die Welt auszuschwärmen. Die Entscheidung für eine Wohnung ist eine pragmatische: Sein Geschäft hat sich geändert, sodass er wieder häufiger in Zürich ist. Jede Woche mehrere Nächte im Hotel zu schlafen, ergibt für ihn wenig Sinn. Die Wohnung ist eher spärlich eingerichtet, für ihn aber praktisch. Er mag leere Räume, seine Frau mag sie ebenso. Sie habe ihn bereits als Minimalisten kennengelernt. Bei ihrer ersten gemeinsamen Reise vor vielen Jahre stellte er die Bedingung, nur Handgepäck zu nutzen. „Das Leben ist zu kurz, um am Gepäckband zu stehen“, findet er. Das sei eine Herausforderung für sie gewesen. Mittlerweile sei sie jedoch auch Fan davon, weniger zu besitzen.

Die Wohnung dient nicht nur als Basis für zukünftige Reisen, sondern ebenso als Zuhause für die junge Familie. Im Herbst letzten Jahres sind Waldburger und seine Frau Eltern geworden. Spricht er über seine Tochter, strahlt sein Gesicht. Die Geburt seiner Tochter hat sein Leben verändert und er ist froh, sie jeden Tag zu erleben und gerade nicht auf Geschäftsreise zu müssen. Klar ist auch, dass mit dem Nachwuchs mehr Besitz ansteht. An seiner Grundidee hat sich dadurch aber nichts verändert: Er trennt weiterhin das Wesentliche vom Ballast. Einen Kinderwagen haben sie beispielsweise erst Monate nach der Geburt angeschafft und nicht schon Wochen vorher. Geschenke von Verwandten und Bekannten lassen sich nicht vermeiden, auch wenn Waldburger es mag, lieber Zeit zusammen zu verbringen, anstatt einander Materielles zu schenken.

Neben Business- und Investment-Tipps trägt Waldburger auf seinem Youtube-Kanal auch die Botschaft des Minimalismus in die Welt. Dort gewährt er Einblicke in sein Leben. Dabei soll niemand genau seinem Weg folgen. Vielmehr möchte er andere dazu anregen, Experimente zu wagen und den Mut für Neues aufzubringen. Denn um glücklich zu sein, brauche es manchmal tiefgreifende und auch unbequeme Entscheidungen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Status. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sven Lechtleitner, Foto: Privat

Sven Lechtleitner

Journalist
Sven Lechtleitner ist freier Wirtschaftsjournalist. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule in Berlin absolviert. Von November 2020 bis Juli 2022 war er Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager.

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