Spätestens seit Fukushima befindet sich die deutsche Energiebranche im Wandel, und mit ihr die HR-Politik in den Unternehmen. Dass es nicht weitergeht wie bisher, weiß jeder. Wohin der Weg führt, niemand.
Felicitas von Kyaw hat auf ihrer Etage einen prima Kaffeeraum. Nach bester schwedischer Tradition trifft man sich hier, trinkt Kaffee und redet über die laufenden Projekte. Nun ist es Montagmorgen, und die Vice President of Human Resources der Vattenfall Group muss einräumen, dass im Kaffeeraum der Kaffee alle ist und man sich nun doch in ihr Büro setzen werde. Der Unterschied in der Gesprächsatmosphäre ist zu vernachlässigen, von Kyaw findet es trotzdem ein bisschen schade. Symbolisiert doch der Kaffeeraum bestens, für was sie sich im Unternehmen einsetzt: Eine neue Arbeitskultur, flache Hierarchien, weniger Formalitäten. Felicitas von Kyaw bricht gerne mit alten Strukturen, und damit ist sie bei Vattenfall ganz gut aufgehoben, einem der großen vier Konzerne in einer Branche mit enormen Herausforderungen, dem Energiesektor. „Ich bin hier auch so etwas wie der Chief Happiness Officer“, sagt sie. Man könnte auch sagen, sie hält die Besatzung eines Schiffes bei Laune, von dem niemand weiß, wohin genau es fährt.
Die Energiebranche, die stand vor gar nicht allzu langer Zeit für viel Kohle. Vorne, ins Kraftwerk, steckte man Kohle, wahlweise Gas oder Atomkraft – und hinten kam sehr viel Kohle raus. Diese Lizenz zum Gelddrucken prägt auch heute noch zum Teil das Image der großen Energieriesen. Dabei geht es Vattenfall und den Mitbewerbern EnBW, E.ON und RWE längst nicht mehr so gut, im Gegenteil, eine Hiobsbotschaft über Personalabbau und Gewinneinbrüche scheint in der Branche die nächste zu jagen. Ursächlich sind dafür vor allem die Öffnungen des Strommarktes 1999 und des Gasmarktes ab 2004, und die durch Fukushima besiegelte Energiewende, die für AKW-Betreiber wirklich alles änderte. Die Zeiten, in denen Kunden ihren Energieanbieter durch göttlich-kommunale Gnade zugeteilt bekamen, sind lange vorbei. Inzwischen freut man sich in der Branche über schwarze Nullen, stellt ein Kraftwerk nach dem nächsten ab und fahndet nach Lösungen, wie sich Frau von Kyaw gerade auf die Suche nach einen Kaffee gemacht hat.
Seit fünf Jahren ist die 46-Jährige bei Vattenfall, zuerst als Corporate Vice President Organisational Development & Change Management. Heute fungiert sie als Head of HR bei dem Energiekonzern, der zu hundert Prozent dem schwedischen Staat gehört. Von Kyaw pendelt jede Woche zwischen den Standorten Berlin, Amsterdam und Stockholm, gelegentlich stehen auch Paris und Helsinki auf dem Plan. 3.500 vollzeitäquivalente Stellen gibt es im europäischen Unternehmensbereich Customers & Solutions, für den von Kyaw zuständig ist. Die strukturellen Veränderungen sind hier genauso spürbar wie im gesamten Unternehmen. 2014 musste Vattenfall ankündigen, mehr als jeden zehnten Arbeitsplatz abzubauen, im vergangenen Jahr wurden weitere Kürzungen angekündigt. „Wir befinden uns in einem extremen Umbruch“, sagt von Kyaw. „Den Veränderungsprozess zu begleiten und den Dialog darüber zu führen, ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit.“
Viel könne man dabei von den Schweden lernen, sagt sie, und sie meint nicht nur den Kaffeeraum. Anders als in Deutschland pflege man in Skandinavien eher eine Schritt-für-Schritt-Arbeitsweise. „Einen Plan zu schreiben, der dann für ein Jahr oder länger unumstößlich trägt“, sagt sie, „das fliegt heute nicht mehr“. Von Kyaw setzt deshalb in ihrem Unternehmensbereich seit vergangenem Jahr unter anderem auf Scrum-Teams, eine Technik aus dem Softwarebereich. Kleine Teams mit ungefähr zehn Personen aus verschiedenen Unternehmensbereichen, zum Beispiel Marketing und Vertrieb, werden dabei mit Aufgaben betraut, die die Mitglieder dann in regelmäßigen Meetings besprechen, um dem Vorstand schließlich Lösungsansätze präsentieren zu können. Wie gewinnt man Kunden über zielgruppenspezifische Micro-Kampagnen im digitalen Umfeld? Solche Fragen zum Beispiel könnten in Scrum-Teams viel effizienter als bisher bearbeitet werden, sagt von Kyaw. In den Niederlanden würden inzwischen fast alle Kampagnen auf diesem Wege entworfen.
Ebenfalls recht jung ist die Digital Sales Academy, die es für Mitarbeiter seit zwei Jahren gibt. Der digitale Vertrieb, schätzt von Kyaw, werde die zentrale Rolle für alle Energieanbieter spielen. „Die Marktmacht dreht sich gerade um, und zwar auch durch die digitalen Möglichkeiten, mit denen Kunden ihre Anbieter finden.“ Die Akademie, eine Mischung aus Präsenzveranstaltungen und Webinaren, beschäftigt sich derzeit vor allem mit Fragen zum digitalen Vertrieb, auch zu Big Data. „Wenn wir wissen, dass darin die Zukunft liegt, dann müssen wir unsere Mitarbeiter auch befähigen, mitzugehen.“ Im Kern gehe es, wie bei fast allen HR-Maßnahmen im Bereich Customers & Solutions, um die Frage: „Wie verstehe ich, was der Kunde wünscht und wie kann ich mein Angebot darauf ausrichten?“
Etablierte Denkmuster durchbrechen
Was Felicitas von Kyaw bei Vattenfall in die Wege leitet, ist bei fast allen Anbietern auf dem Energiemarkt zu beobachten. Seien es nun die vier Großkonzerne oder die rund 900 Stadtwerke, die es in der Bundesrepublik gibt. Die Callidus Personalberatung in Frankfurt ist spezialisiert auf die Energiebranche, Geschäftsführer Ron-Arne Sydow hat schon mehr als hundert Klienten beraten, wie sie ihr Unternehmen und das Personal konkurrenzfähig machen können. Die großen Konzerne, sagt Sydow, „haben sich in den vergangenen Jahren viel Expertise eingekauft und sich damit in der Personalarbeit deutlich weiterentwickelt“. Auch für Sydow ist die Digitalisierung das fruchtbare Feld, das Energieanbieter beackern müssten. „Gerade bei diesem Thema wird aber deutlich, wie schwierig es für die Branche ist, die etablierten Denkmuster zu durchbrechen und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.“
Oft werde die Rolle einer innovativen Personalarbeit einfach nicht erkannt, vor allem in den kleineren Stadtwerken. Und das gehe häufig einher mit einzelnen Mitarbeitern, die nur schwer für Veränderungen zu begeistern seien. „Die durchschnittliche Betriebszugehörigkeit liegt bei 20 Jahren“, sagt Sydow, strukturelle Änderungen hätten es da oft schwer. Zum Beispiel, wenn ein Mitarbeiter, der immer nur Störungsmeldungen von Stromkunden annehmen musste, jetzt auch die von Gaskunden bearbeiten soll. Und das sind nur die Mühen der Ebene. „Die Herausforderungen sind sehr komplex, und eine Lösung hat noch keiner gefunden“, meint Sydow. „Da geht es in der Personalarbeit nicht so sehr um Skills, sondern um eine grundsätzliche Lern- und Veränderungsbereitschaft.“
Vattenfall hat dafür unter anderem die erfahrene Change Managerin und HR-Expertin von Kyaw geholt, beim Konkurrenten RWE hat man gleich eine eigene Firma gegründet. RWE ist nach E.ON der zweitgrößte deutsche Energiekonzern, mit knapp 60.000 Menschen arbeiten hier doppelt so viele wie bei Vattenfall. Auch RWE musste in den vergangenen Jahren enorm Stellen abbauen, und wird es wohl auch weiter tun. Im vergangenen Jahr wurde deswegen die eigenständige Gesellschaft Switch gegründet, eine GmbH, die sämtliche Stellentransfers im Konzern organisiert. „Und verbessert“, wie Switch-Geschäftsführer Henning Rentz betont. Switch müsse keine Rücksicht auf Befindlichkeiten innerhalb der verschiedenen Bereiche des Konzerns nehmen. „Wir denken nicht in Konzerngesellschaften oder Silos. Unser Herzblut stecken wir in den Fachbereich und den einzelnen Mitarbeiter.“ Jeder solle die Stelle bekommen, „die für ihn und für alle am besten ist“.
Aufgabe von Switch ist es, Mitarbeiter an Standorten, die geschlossen oder verkleinert werden, bestenfalls in einem anderen Konzernbereich unterzubringen – oder auch den Wechsel in ein anderes Unternehmen zu begleiten. Kürzlich habe man zum Beispiel 30 Fahrer, so viele Chauffeure nämlich sind in diesen Zeiten kaum noch opportun, im Konzern weitervermittelt. „Wir konnten sämtliche Mitarbeiter im Unternehmen unterbringen“, sagt Rentz nicht ohne Stolz.
Doch Jobgarantien gibt es auch bei RWE schon lange nicht mehr, und Rentz liegt viel daran, dass man das auch sage. „Man darf den Leuten nichts vormachen. Wichtig sind Offenheit und Ehrlichkeit.“ Der Wandel, dem der Energiesektor gerade unterliege, sei „an Dramatik kaum zu überbieten“, entsprechend müssten sich Mitarbeiter auch anpassen. Switch bietet unter anderem temporäre Einsätze und Hospitationsprogramme für RWE-Mitarbeiter in anderen Unternehmensbereichen an, auch Coachings. „Man muss fair sein, wenn es um die möglichen Chancen geht“, sagt er. Einfach nur Personal von A nach B zu verschieben, sei kein Konzept. Und manchmal sei eben „auch eine externe Einstellung unumgänglich, wenn intern keine geeigneten Kandidaten mobilisiert werden können“.
Der Wandel bringt auch Chancen
Dramatische Umbrüche erfordern ein Umdenken aller, betont dann auch Felicitas von Kyaw bei Vattenfall. „Ich sehe die Verantwortung bei uns allen, uns weiter zu entwickeln“, sagt sie. „Die Chancen, die der Wandel ohne Zweifel auch bedeutet, muss jeder selbst nutzen, wir machen dafür die Angebote.“ Auch die HR-Instrumente würden synchron angepasst. „Wir sind am Beginn der Reise, auf der wir uns immer wieder hinterfragen müssen.“ In diesem Jahr legt von Kyaw neben den digitalen Kompetenzen einen Schwerpunkt auf das Thema Organizational Health, sagt sie. Mitarbeiter sollen dabei „befähigt werden, für sich selbst zu sorgen“. Von Kyaw wisse, welcher Druck auf der Branche laste und dass das für Mitarbeiter Stress bedeuten könne. Die Zeiten werden härter. „Und einen routinierten Regelbetrieb gibt es eben nicht mehr.