Die Kultur der Unvollkommenheit

Fehlerkultur

Wer eine Bruchlandung hinlegt, scheitert. So lautet die Definition. Elon Musk aber feierte es als Erfolg, als letztes Jahr eine Rakete seiner Firma SpaceX nicht nur zu Bruch, sondern durch eine Explosion bei der Landung sogar in Flammen aufging. „Mars, wir kommen“, schrieb Musk anschließend auf Twitter. Das Ziel, Menschen ins All zu transportieren, sei durch den Fehler beim unbesetzten Prototyp näher gerückt: SpaceX hat Daten generiert, die es zur weiteren Entwicklung nutzt. Der Fehler ist kein Scheitern, sondern Teil des Systems.

Selten sind Fehler bei einer Entwicklung so sichtbar. Und selten werden sie so gelobt. Dabei haben viele große Erfindungen ihren Ursprung in Fehlern: Penicillin zum Beispiel oder Teflon. Penicillin wurde entdeckt, weil eine Petrischale dreckig herumstand, Teflon, weil ein Behälter mit Gas länger gefroren wurde als geplant. „Wenn wir wollen, dass Innovationen entstehen, müssen wir akzeptieren, dass Fehler passieren. Denn Innovationen brauchen Experimente, und Experimente gehen immer mit Fehlern einher“, sagt Professor Ralf Kemmer, Experte für positive Fehlerkultur an der Fachhochschule SRH Berlin.

Kemmer hat die Fuckup Nights in die Hauptstadt geholt, das war vor knapp zehn Jahren. Bei den Abenden berichten die Anwesenden vom Scheitern. In erster Linie sind es Selbstständige, selten Angestellte. „Start-ups müssen Neues schaffen, um Relevanz zu gewinnen, da gehört Versuch und Scheitern dazu“, sagt Kemmer. Wer selbstständig ist, übernimmt Verantwortung für jeden Schritt. Mitarbeitende hingegen hätten oft das Gefühl, nicht öffentlich über Fehler sprechen zu dürfen, weil sie Angst haben, ein Bild zu gefährden, das ein Unternehmen von sich präsentiert. Sie fürchten Sanktionen.

Fragen stellen statt Helden zeigen

Das Bild, dass Fehler ein Makel sind, wollen die Fuckup Nights korrigieren. „Es hat bisher nicht geklappt, Fehler in Unternehmen und der Gesellschaft zu entstigmatisieren“, sagt Kemmer. Zwar gäbe es inzwischen einen Kreis von Personen, die sich mit den Themen auseinandersetzen. Arbeitgeber aber würden es nicht konsequent genug verfolgen. Im Gegenteil: „Oft werden Fehler nur thematisiert, um über Stärken zu sprechen und etwas zu optimieren. Es geht um die Lösung und die Heldengeschichte, nicht darum, die Rüstung fallen zu lassen und zuzugeben, dass man etwas nicht weiß.“

Ratgeber empfehlen oft, Fehlern den Schrecken zu nehmen, indem man sie positiv sieht. Das heißt: Was haben wir Positives gelernt? Der Aspekt sei wichtig, aber nicht ausreichend, sagt Kemmer. Gerade, wenn es vom Management kommt: „Solange Führungskräfte denken, sie müssten die Lösung präsentieren und stark sein, wird es keine positive Fehlerkultur im Unternehmen geben. Denn mit so jemanden möchte ich nicht über meine eigenen Fehler sprechen.“

Auch wenn im Scheitern eine Chance liegt, ist die große Hürde, sich das Scheitern einzugestehen. Das mag bei Start-ups und in der Forschung anders sein, weil sie von Experimenten leben. In den meisten Unternehmen aber regiert die Kultur der Perfektion, die wenig Fehlertoleranz hat. So hat es Stefanie Faulhaber erlebt, die von ihrem eigenen Familienbetrieb sagt: „Es herrschte eine suboptimale Fehlerkultur.“

Ein neues Bewusstsein

Faulhaber ist die vierte Generation bei GUK-Falzmaschinen, aktuell sitzt sie gemeinsam mit ihren Eltern in der Geschäftsleitung. Es sei eine Generationenfrage, sich anders mit Fehlern auseinanderzusetzen, sagt sie: „In der heutigen Zeit haben wir ein anderes Bewusstsein dafür, wie Menschen aus Fehlern lernen und dass es die Erfahrung braucht, dass es nicht per se negativ ist, Fehler zu machen, sondern Menschen durch Misserfolge viel nachhaltiger und schneller lernen und sich weiterentwickeln.“

Für die Personalführung heißt das: mehr Gespräche führen, mehr Feedback geben, einen Perspektivwechsel anregen, was Mitarbeitende aus Fehlern lernen, und die Angst nehmen, dass ein Fehler als Minderleistung gilt. „Es gibt Stufen von Fehlern“, sagt Faulhaber. „Wenn jemand zu mir kommt, ist die Enttäuschung über sich selbst groß. Aber die Folgen sind oft nicht so schlimm wie befürchtet. Meine Aufgabe ist es, mit Fragen zu helfen, den Fehler und sich selbst besser einzuschätzen, damit es in Zukunft nicht wieder passiert und wir sicherstellen, dass die Arbeitsergebnisse am Ende vollständig und korrekt sind.“

So ein Perspektivwechsel kann eine Herausforderung sein. Eigenverantwortlich zu reflektieren, was sich aus Fehlern lernen lässt, verlangt mitunter ein Umdenken. „Ich muss erklären, warum ich es mache, und versuchen, mit gezielten Fragen ein Gespräch in Gang zu setzen“, sagt Faulhaber. Wer das ablehnt, könne nicht immer überzeugt, aber zumindest zum Nachdenken angeregt werden. Faulhaber: „Im Mittelpunkt steht ein Individuum und kein Schema F, das ich über alle Mitarbeitenden stülpe.“

Stefanie Faulhaber ist eine der Personen, von denen Kemmer spricht: Sie hat sich persönlich mit Fehlern auseinandergesetzt. Eine Person reicht aber nicht, um eine Kultur zu verändern, auch nicht in einem Familienbetrieb mit 220 Angestellten. Das weiß Faulhaber, die als Multi-
plikatorin alle Führungskräfte im Betrieb für das Thema sensibilisieren will. Auch Kemmer erlebt, dass Management und Personalabteilung Werte definieren, die in einzelnen Teams zusammenbrechen: „Eine positive Fehlerkultur muss immer von oben gelebt werden, aber sie muss auch im Kleinen funktionieren. Das bedeutet: Unternehmen brauchen Räume für Experimente und müssen Hürden abbauen, um Gespräche auf Augenhöhe zu ermöglichen“, sagt er.

Auch wenn sich manche Organisation mit dem Begriff „Fehlerkultur“ schmückt, bedarf es eines kompletten Programms, um die Kultur mit Leben zu füllen. Julia Bangerth hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein solches Programm umzusetzen: Sie ist Mitglied im Vorstand bei Datev, dem Softwareunternehmen und IT-Dienstleister, der als Genossenschaft vor allem Steuerberatungen hilft. Zudem verantwortet Bangerth als Chief Human Resources Officer die Personalpolitik im Konzern. „Natürlich sollen die Produkte, die wir ausliefern, keine Fehler enthalten. Der Weg dahin ist entscheidend. Aus Fehlern entsteht in der Regel ein größerer Impuls, als wenn immer alles glattläuft“, sagt sie. „Fehler sind Helfer.“

Experimentierräume

Datev hat Freiräume geschaffen und Plattformen eingerichtet, bei denen Fehler nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich gesucht werden. Es gibt Bar- und Digi-Camps, die unter dem Hashtag „DATEVlernt“ laufen. Es gibt Gesprächsrunden mit dem Management und neue Entscheidungsgremien, die zu einem offeneren Austausch einladen sollen. Im Cross Solution Center, einem „Experimentierraum“, wie Bangerth es nennt, arbeiten Mitarbeitende interdisziplinär an kleinen Teilprojekten aus der Produktentwicklung. Jedes halbe Jahr lädt das Format Open Space DATEV Mitarbeitende zu Experimenten ein. Und im Intranet berichtet ein fiktiver Mitarbeiter namens Lukas über seine Fehler und was er daraus lernt.

„Wir sprechen sehr transparent über Experimente, und nicht nur im Nachhinein, wenn wir wissen, dass sie erfolgreich waren“, sagt Bangerth. „Es ist wichtig, dass unsere Mitarbeitenden sehen, wie wir damit umgehen, wenn Fehler passieren und jemand auf Fehler hinweist. Darum machen wir das gezielt sichtbar.“ Bangerth spricht von „Iteration“, einer „unendlichen Lernschleife“, die Innovationen möglich machen soll. Interessen, Ansprüche und Wirklichkeiten ändern sich, Organisation müsse sich anpassen. Zum Lernen gehöre das Verlernen dazu, zum Beispiel, feststehende Glaubenssätze aufzugeben. Sätze wie: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Und die Ansicht, dass Fehler etwas Schlechtes sind.

Offenkundig sind Fehler notwendig. Eine Bruchlandung kann helfen, Neues zu generieren. Sie kann aber auch eine Katastrophe sein. Die Kunst besteht darin, Fehler einzuschätzen und zu korrigieren. Doch dafür müssen Unternehmen anfangen, Fehler sichtbar zu machen und wirklich offen zu diskutieren.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Risiko. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Mirjam Stegherr, Journalistin, Moderatorin und Beraterin

Mirjam Stegherr

Freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin
Mirjam Stegherr ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin.

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