OKR-Methode: Raus aus der Komfortzone

Leadership

Die Führungsmethode Objectives and Key Results (OKR) soll Mitarbeiter zu Höchstleistungen motivieren. Tatsächlich kann das Managementsystem Unternehmen auch durch die derzeitige Corona-Krise helfen – jedoch nur, wenn realistische Ziele gesteckt werden.

Wenn Felix Berghöfer in ein Unternehmen kommt, geht es ans Eingemachte: Die Spezialität des HR-Managers ist es, in unübersichtlichen und sehr schnell wachsenden Organisationen wieder für mehr Durchblick zu sorgen. Der Arbeits- und Organisationspsychologe hat in den vergangenen Jahren zunächst beim Online-Vertrieb Zalando als Head of HR Customer Care die HR-Strategie im Kundenservice neu aufgestellt und dann bei der Axel-Springer-Tochter Visual Meta in Berlin neue Personal- und Performance-Management-Strukturen aufgebaut.

Dasselbe hat er nun als Vice President People beim digitalen Fitnessanbieter Urban Sports Club vor. In seinem Werkzeugkasten stets dabei: die Management-Methode Objectives and Key Results (OKR).

US-Techkonzerne machten OKR populär

OKR ist eine gar nicht so neue Managementmethode auf Basis eines ausgefeilten Systems von Zielvereinbarungen, die von vielen prominenten und erfolgreichen Tech-Konzernen im Silicon Valley eingesetzt wird. Google, Twitter, Intel, Linkedin, Facebook, Microsoft: Sie alle nutzen Performance-Management und Zielvereinbarungen auf Basis der OKR-Methode, teils schon seit ihrer Gründung. „Tatsächlich kann das OKR-Prinzip dabei helfen, Organisationen nach vorn zu bringen und sie stärker und widerstandsfähiger zu machen“, sagt Berghöfer.

Im Kern ist OKR eine Weiterentwicklung des klassischen Management by Objectives (MbO). Man arbeitet also mit einem strategischen Unternehmensziel, das dann auf die Ebene einzelner Abteilungen, Teams und Personen heruntergebrochen wird. Ein solches Ziel im MbO-System könnte lauten: „Wir wollen dieses Jahr den Marktanteil unserer Produkte bei einer relevanten Zielgruppe erhöhen.“ Die Mitarbeiter im Personalwesen verfolgen dann, abgeleitet aus dem Unternehmensziel, das Erreichen eines entsprechenden „Key Performance Indicators“. Zum Beispiel: die Produktivität der Mitarbeiter abteilungsübergreifend so zu erhöhen, dass das Unternehmen den höheren Marktanteil realisieren kann. An die Erreichung dieser Ziele ist oft ein variabler Gehaltsbestandteil geknüpft.

OKR will das Unmögliche möglich machen

Soweit nichts Neues – HR-Manager nutzen ausgefeilte MbO-Kennzahlensysteme mit Tools wie etwa dem HR-Cockpit seit Langem. Der große Unterschied: Die in den US-amerikanischen Tech-Konzernen entwickelte OKR-Variante arbeitet mit gewollt unrealistischen Zielen. Unternehmen setzen sich im OKR-System zunächst visionäre, gerne auch recht abstrakt formulierte strategische Ziele (Objectives). Google etwa will nicht einfach nur den Umsatz erhöhen, die Produktivität verbessern oder Marktführer in einem bestimmten Segment werden, sondern vielmehr ganz unbescheiden „das Wissen der Welt organisieren“.

Auch die einzelnen Abteilungen oder Projektteams setzen sich gleich mehrere, am Gesamtziel orientierte und sehr ehrgeizige „Objectives“. Um auf diese hinzuarbeiten, legen die Teams eigenverantwortlich konkrete „Key Results“ fest, also messbare Erfolgsparameter, die einzelne Teams und Mitarbeiter erreichen sollen. Die Ziele werden unternehmensweit veröffentlicht – Mitarbeiter sollen sie im Laufe eines Quartals erreichen.

Mitarbeiter sollen alles aus sich herausholen

Dabei verlassen sich OKR-Unternehmen auf die intrinsische Motivation ihrer Mitarbeiter: Das Erreichen der Key Results ist niemals an individuelle Boni, andere variable Vergütungsbestandteile oder eine Beförderung geknüpft. Die Zielvereinbarungen sollen lediglich transparent machen, wie weit das Unternehmen auf dem Weg zu seinen Zielen fortgeschritten ist. Die Grundidee dahinter: Mitarbeiter aus der Komfortzone holen. Wer sich ehrgeizige Ziele setzt und den eigenen Beitrag dazu penibel misst, der macht es sich nicht gemütlich. Und erreicht so am Ende mehr, als er selbst für möglich gehalten hätte.

Insgesamt ist das ein sehr amerikanischer Ansatz, sagt Klaus Möller. Der Professor für Controlling und Performance Management an der Schweizer Universität St. Gallen hat sich intensiv mit der OKR-Methode in Theorie und Praxis auseinandergesetzt. Er sagt: „Das OKR-System bekommt in Europa derzeit so viel Aufmerksamkeit, weil etablierte Performance-Management-Systeme mit ihren langfristigen Zielvereinbarungen zunehmend an ihre Grenzen stoßen.“

Bei OKR fehlen operative Zwischenschritte

Bei sonst üblichen Kennzahlensystemen wie der Balanced Scorecard setzen Unternehmen sich und ihren Mitarbeitern Ziele für lange Zeiträume, von einem Jahr bis zu drei oder vier Jahren. OKR hingegen setzt quartalsweise neue Ziele – in Möllers Augen viel realistischer für die heutigen dynamischen, von Unsicherheit geprägten Rahmenbedingungen. Allerdings: „OKR ist nicht das Allheilmittel, als das es vielerorts verkauft wird.“

Vor allem die Orientierung an visionären Unternehmenszielen passe oft nicht zur eher sachorientierten, pragmatischen europäischen Unternehmenskultur. Aus der Vision direkt ein praktisch messbares Team Result abzuleiten, das falle oft schwer. „Da sagt der deutsche Mitarbeiter dann: ‚Wie jetzt – ich soll die Welt retten? In den nächsten drei Monaten?‘“, spitzt Möller den kulturellen Unterschied zu. „Es fehlen aus Sicht der Mitarbeiter ein paar operativer gedachte Ziele und Schritte dazwischen.“

Es braucht kleinere Ziele und längere Umsetzungsphasen

Personalchef Berghöfer sieht das ähnlich. Seine Erfahrung zeigt: Wer OKR zum ersten Mal einsetzt, sollte nicht übertreiben und erst einmal realistische Ziele setzen. Ein Beispiel: Das HR-Team setzt sich zum Ziel (Objective), neue Unternehmenswerte durchzusetzen. Als Indikator (Key Result) einigen sich HR-Team und Management darauf, dass am Ende des Quartals mindestens 70 Prozent der Mitarbeiter sagen sollen: Ja, ich habe die neuen Werte internalisiert und verstanden. Um das zu messen, ist eine Mitarbeiterumfrage nötig.

Ein sehr zeitaufwendiger Prozess, der aber möglichst schnell abgewickelt werden muss. Denn nach dem strikten OKR-Zeitplan muss am Ende des Quartals ein Ergebnis stehen, um wieder neue Ziele festzulegen. Wenn die Umfrage stattfindet, haben aber womöglich überhaupt erst wenige Workshops zu den neuen Unternehmenswerten stattgefunden. „Die Umfrageergebnisse würden so nur eine Pseudo-Genauigkeit liefern.“ Wenn man sich zu ambitionierte Ziele setze, an deren Umsetzung und Messgrößen niemand glaubt, bestehe die Gefahr, dass es sich um Pseudoziele handele, die keiner wirklich erreichen wolle, sagt er. „Dann ist OKR von Anfang an zum Scheitern verurteilt.“

Während längerer Aufenthalte im Silicon Valley hat er festgestellt: Auch dort gehen Unternehmen mit den OKR-Regeln eher pragmatisch um. Sie wählen längere Zeiträume, zum Beispiel vier bis sechs statt drei Monate. Sie reduzieren die Zahl der Ziele und Messgrößen für die einzelnen Teams und konzentrieren sich auf die praktikabelsten. Zudem diskutiert die Belegschaft nicht ewig mit allen über die Ziele. „Das Management gibt die Ziele vor, die Teams und Mitarbeiter überlegen, wie sie am besten zu deren Erreichung beitragen können.“ Entscheidend ist das Grundprinzip, also: gemeinsam, abteilungsübergreifend immer wieder aufs Neue festlegen, wohin es gehen soll – und wie man dorthin am besten kommt.

OKR bietet Halt in Change-Situationen

In der aktuellen Corona-Krise habe sich gezeigt, dass diese Art des denken in der Belegschaft des Urban Sports Club bereits verankert ist. „Wie schnell Ziele überholt sein können, sieht man aktuell sehr deutlich“, sagt Berghöfer. Das Team hatte sich erst Ende Februar neue OKRs gesetzt, da ging es noch um Umsatzwachstum und europaweite Marktanteile. Diese Ziele sind nun vom Tisch. Das Coronavirus hat dafür gesorgt, dass nahezu sämtliche Sportanbieter, die auf der digitalen Plattform ihre Dienste angeboten hatten, vorerst schließen mussten. „Das Tolle ist jedoch, dass jetzt alle von sich aus sagen: Wollen wir uns neue Objectives setzen, um durch die Krise zu kommen?“

Das Unternehmen sucht Orientierung in einer unübersichtlichen Zeit – und findet sie im OKR-System. Die Top-drei-Ziele für die nächsten vier Monate waren schnell klar: bestehende Kundenbeziehungen erhalten, Mitarbeiter und Umsätze schützen. Diese effizienzorientierte Kultur und den Zusammenhalt im Team, ist Berghöfer überzeugt, verdankt das Unternehmen auch der OKR-Methode.


MbO versus OKR

Management by Objectives
Das Führen mit Zielvereinbarungen ist ein Klassiker unter den Managementmethoden: Strategische Ziele des Unternehmens werden systematisch auf Abteilungsebene und auf einzelne Mitarbeiter heruntergebrochen. Ziele sollen SMART sein, also spezifisch, messbar, aktiv beeinflussbar, realistisch erreichbar und klar terminiert.

Objectives and Key Results
Die OKR-Methode greift das MbO-Prinzip auf und verändert vor allem die Art und Weise, wie die Ziele formuliert und umgesetzt werden. Unternehmen sollen ein übergreifendes Objective, also ein inspirierendes, visionäres Ziel vorgeben. Anders als bei MbO, bei dem Ziele immer realistisch und erreichbar sein sollen, ist dieses Ziel bewusst zu hoch angesetzt.

Das visionäre Ziel („Objective“) soll gezielt unbequem sein und Teams aus ihrer Komfortzone herausholen. Die Idee: So erreichen sie vielleicht nicht das eigentliche Ziel – aber am Ende doch mehr, als sie selbst für möglich gehalten haben.

Die einzelnen Mitarbeiter und Teams legen die Erfolgsparameter selbst fest, anhand derer sie ihren Fortschritt auf dem Weg zur Zielerreichung messen wollen. Diese Key Results müssen im Gegensatz zum Objective sehr konkret und gut messbar sein. Erreichen die Mitarbeiter regelmäßig mehr als 60 bis 70 Prozent ihres Zielwertes, war das Ziel nicht ehrgeizig genug.
Die Ziele werden nicht jährlich, sondern in kürzeren Zeiträumen, in der Regel drei bis vier Monate, gesetzt. Alle Ziele und Erfolgsparameter sind für alle Mitarbeiter jederzeit transparent.


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Sarah Sommer

Sarah Sommer

Sarah Sommer ist Redakteurin bei wortwert in Köln. Sie ist spezialisiert auf komplexe Magazingeschichten und Social Media.  Sommer hat Politikwissenschaften und Volkswirtschaft studiert.

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