Wie misst man Intelligenz?

Intelligenztests

Holger Hampf hat ein sehr genaues Bild davon, was für Persönlichkeiten er für sein Team braucht: „Wir suchen Menschen mit einer besonders stark ausgeprägten logisch-rationalen, aber auch ästhetischen und kreativen Intelligenz.“

Hampf ist Chef von Designworks, einer global arbeitenden Design- und Kreativberatungstochter des BMW-Konzerns. 150 kreative Köpfe entwerfen an den Standorten in München, Shanghai und Los Angeles im Auftrag der BMW Group und anderer Unternehmen Designstrategien für die Welt von morgen oder sogar von übermorgen. „Unsere Mitarbeitenden müssen in der Lage sein, im Detail über mögliche Zukunftsszenarien nachzudenken“, sagt Hampf. „Sie brauchen ein Verständnis für das große Ganze, für komplexe, globale Zusammenhänge in der Welt.“

Gleichzeitig sollen sie in der Lage sein, diese Zusammenhänge nicht nur zu verstehen – sondern sie auch in ganz konkrete Designvorschläge und Innovationsstrategien umzusetzen. „Wir suchen also nicht nach Menschen, die eine andere Zukunft nur erträumen können. Sondern nach solchen, die abstrakte Visionen auch praktisch in kreative und ästhetische Lösungsvorschläge umsetzen können.“

Wenn sich Personal- und Recruitingverantwortliche den Perfect Match ausmalen dürften, würde das heute in vielen Fällen ähnlich aussehen: Gefragt sind kluge Köpfe quer durch alle Branchen, die in der Lage sind, den Wandel zu verstehen, in dem Gesellschaft, Wirtschafts- und Arbeitswelt gerade stecken – und die dann aus diesem Verständnis heraus konkrete Veränderungen, Lösungen und Ideen für ihren jeweiligen Arbeitsbereich entwickeln. Das Problem: Diese Fähigkeiten lassen sich aus klassischen Bewerbungsunterlagen wie Lebenslauf, Zertifikaten und Arbeitsproben kaum ablesen.

Wie lösen wir Probleme?

Wie aber findet man dann heraus, ob Jobinteressierte die gewünschten kognitiven Fähigkeiten mitbringen, also: die nötige Intelligenz, um in der neuen Arbeitswelt zu bestehen? Und was bedeutet das eigentlich: Intelligenz? „Intelligenz ist letztlich nichts anderes als Problemlösungskompetenz“, sagt Jo Diercks, Eignungsdiagnostiker und Geschäftsführer des Recruiting-Dienstleisters Cyquest. Kann eine Person Probleme lösen, die sie vorher noch nicht kannte? „Wenn ich wissen will, ob ein Bewerber in seiner Rolle im Unternehmen erfolgreich sein wird, ist solch eine Aufgabenstellung der aussagekräftigste Vorhersagefaktor.“

Dabei könne die Art und Weise, wie sich diese Art der Intelligenz bei einzelnen Menschen zeige, durchaus unterschiedlich sein: „Bei dem einen ist sie eher zahlengebunden abrufbar, bei anderen drückt sie sich eher sprachlich aus oder figurativ.“ Die wichtigste Intelligenz-Zutat aber sei immer die gleiche, sagt Diercks. Die entscheidende Frage laute: Bin ich in der Lage, ein für mein Berufsfeld relevantes Problem zu verstehen – und mir dann passende Lösungswege zu schaffen und zu erschließen?

Praktischerweise lässt sich diese Fähigkeit gut prüfen und bewerten, sagt Diercks: „Unternehmen sollten sich fragen: Welche Art der Intelligenz, also welche Art der berufsbezogenen Problemlösungskompetenz, brauchen wir?“ Dann können sie entsprechende Testverfahren entwickeln und einsetzen. „Wichtig ist, dass die Bewerbenden sich dabei ernst genommen fühlen.“ Sie einfach nur irgendeinen Standard-IQ-Test absolvieren zu lassen, hält er nicht für ratsam. „Man muss also Aufgaben und Tests entwickeln, die einen ganz konkreten Bezug zur Branche und zum gesuchten Berufsfeld haben.“

Bei Designworks haben Holger Hampf und seine Recruiting-Teams ein mehrstufiges Testsystem entwickelt, um den kognitiven Fähigkeiten ihrer Bewerbenden nachzuspüren. Zuerst sichten sie die klassischen Unterlagen, wie Bewerbungsmappe und Portfolio. Perfekt polierte Resultate der kreativen Arbeit will Hampf dabei aber nicht sehen – unfertige Skizzen sind ihm lieber. „Das tiefere Eintauchen in die Arbeit und das Portfolio ist bei kreativen Berufen sehr wichtig – wir wollen jedoch nicht nur eine Skizze oder Studie sehen, sondern herausfinden, welche Denkweise dahintersteckt.“

Wichtig ist laut Hampf, zu verstehen, dass es nicht nur die eine Art von Intelligenz gibt. „Die logische Intelligenz, die oft in klassischen Intelligenztests abgefragt wird, ist eine sehr wichtige Grundlage für eigentlich alle Tätigkeiten.“ Für Recruiting-Verantwortliche seien dann aber die individuellen Ausprägungen der Intelligenz einer Person entscheidender. Er interessiert sich zum Beispiel vor allem dafür, ob ästhetische und soziale Intelligenz da seien. Die ästhetische Intelligenz, die ein Designprofi brauche, zeige sich etwa in einer besonderen Affinität zum künstlerischen Schaffensprozess. Das testet Hampf im zweiten Schritt mit Fragen wie: Spielen Sie ein Instrument? Kochen Sie gerne? Im weiteren Gespräch schaut er darauf, ob sein Gegenüber Lust hat, die kreativen Prozesse dahinter tiefer zu verstehen und daraus dann Neues zu kreieren.

Eine neue Art der Gesprächsführung

Zudem will Hampf durch diese Art der Gesprächsführung prüfen, wie schnell Bewerbende umschalten und spontan auf unerwartete Fragen auch jenseits ihres Fachgebiets reagieren können. „Gerade im Automobildesign neigen viele noch sehr dazu, nur auf die eigene Branche und das eigene Produkt zu schauen“, erklärt er. „Wir aber wollen gezielt aus unseren Erfahrungen mit anderen Branchen und Kunden lernen.“

In Kalifornien, wo Hampf bis vor Kurzem im L.A.-Studio des Unternehmens gearbeitet hat, sei es im Recruiting selbstverständlich, solch kreativen Formen der Intelligenz nachzuspüren. „Dort ist man es gewohnt, zu prüfen, ob jemand seine Intelligenz nur für die eine Sache einsetzen oder schnell die Themenfelder wechseln kann“, sagt der Designworks-Chef. Man sei in den USA offener dafür, dass Talente ihre angestammten Bereiche verlassen, und ihre Ideen mutig und offen auf andere Branchen oder Produkte anwenden. „Wir Europäer denken noch oft zu eng in Kategorien von Branchen und geraden Lebensläufen.“

Die acht Intelligenzarten

IQ-Test: Was prüfen wir da eigentlich?
Klassische Intelligenztests geben Auskunft über das intellektuelle Potenzial eines Menschen. Dazu messen sie vor allem die mathematisch-rationale Intelligenz. Auch sprachliche Fähigkeiten und eine gute räumliche Vorstellungskraft sind notwendig, um in diesen Tests hohe Ergebnisse zu erzielen. Wer dabei gut abschneidet, so die Logik, kann seine intellektuellen Kapazitäten auch auf andere Anwendungsbereiche mit Leichtigkeit übertragen. Daher helfen IQ-Tests, vorherzusagen, ob Menschen in einer schulischen oder akademischen Ausbildung, aber auch generell im Leben erfolgreich sein werden. In Recruiting-Verfahren kann es aber auch hilfreich sein, zu prüfen, wie sich die Intelligenz eines Menschen konkret ausdrückt. Ein spannender Denkansatz: Das Konzept der multiplen Intelligenzen, das der Psychologe Howard Gardner in den Achtzigerjahren entworfen hat.

  • Die bildlich-räumliche Intelligenz: Wie gut kann ich in abstrakten, mehrdimensionalen räumlichen Zusammenhängen denken?
  • Die sprachlich-linguistische Intelligenz: Wie leicht fällt es mir, auch komplizierte Zusammenhänge in der gesprochenen und geschriebenen Sprache auszudrücken?
  • Die logisch-mathematische Intelligenz: Wie gut kann ich abstrakte Probleme analysieren, logische Schlussfolgerungen ziehen und mich in mathematischen Zusammenhängen ausdrücken?
  • Die interpersonelle Intelligenz: Wie gut kann ich mich auf andere Menschen einstellen und klug mit ihnen interagieren?
  • Die intrapersonelle Intelligenz: Wie gut kann ich meine eigenen Gefühle und Gedanken steuern?
  • Die naturalistische Intelligenz: Wie leicht fällt es mir, komplexe Zusammenhänge in der Natur zu verstehen?
  • Die körperlich-kinästhetische Intelligenz: Kann ich meinen Körper mit Leichtigkeit zur Umsetzung komplizierter Abläufe einsetzen?
  • Die musikalische Intelligenz: Wie gut kann ich Rhythmen, Melodien und andere musikalische Zusammenhänge erkennen und verstehen?

Das sieht Pietro Ferro ähnlich. Er ist Head of Recruiting beim Handelskonzern Otto – und auch er steht vor der Herausforderung, dass die Profile, die gesucht sind, komplexer werden. Einzelne Studien- und Berufsabschlüsse, aber auch bisherige Berufserfahrung könnten immer weniger Auskunft darüber geben, ob künftige Talente sich auch an neue, digitale Arbeitsweisen anpassen können. Zudem suchen Recruiting-Verantwortliche immer häufiger Menschen für Rollen und Stellen, die es noch gar nicht gibt, sondern die sich gerade erst entwickeln. Entscheidend ist für Ferro daher: Wie gut kann jemand vernetzt arbeiten? Wie gut kann die Person sich mit neuen Themen und Technologien und Team-Settings auseinandersetzen?

Die Persönlichkeitsmerkmale zählen

Auch hier ist also kreative Problemlösungskompetenz gefragt. Was Designworks-Chef Hampf als verschiedene Ausprägungen von Intelligenz bezeichnet, würde Ferro allerdings eher Persönlichkeitsmerkmale nennen. „Ich denke, unsere Bewerbenden wären sonst auch irritiert“, sagt er. Die Frage, ob jemand intelligent genug für einen Job ist, könnte schnell als übergriffig oder anmaßend empfunden werden. Sich einem Intelligenztest stellen zu müssen, würde seiner Einschätzung nach die Menschen von einer Bewerbung abbringen. Um dennoch zu testen, ob jemand mit Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen zu Otto passt, setzt der Konzern seit einigen Monaten ein spezielles Online-Testverfahren ein: den LINC-Personality-Test. Wer sich für eine Stelle bei Otto interessiert, kann den Test durchlaufen – und bekommt dann gleich auch selbst eine Auswertung des eigenen Fähigkeiten- und Persönlichkeitsprofils geliefert.

Auf Basis dieser Auswertung loten Personalverantwortliche und Bewerbende dann im Gespräch aus, wo diese ihre Fähigkeiten im Unternehmen am besten einsetzen könnten. „Dann müssen wir nicht den Lebenslauf durchackern – sondern können ganz klar sagen: Schau mal, das brauchen wir für die Position. Das bringst du mit. Passt das?“, sagt Ferro. Der Online-Test komme bei vielen Bewerbenden sehr gut an. „Denn diese Analyse hilft auch dabei, sich über Stärken und Schwächen klar zu werden und an der eigenen Persönlichkeitsentwicklung zu arbeiten.“

Dabei prüft der Personality-Test durchaus auch kognitive Fähigkeiten. Er zeigt zum Beispiel: Wie viel mentale Kraft muss jemand aufwenden, um in einer bestimmten Tätigkeit erfolgreich zu sein? Bringt eine Bewerberin hohe Konzen­trationsfähigkeit und Geschick im Umgang mit Zahlen mit? Kann eine Bewerber gut mit Sprache umgehen? Bringt ein Kandidat emotionale und soziale Intelligenz ein, um eine Konfliktsituation aufzulösen? Ist eine Kandidatin auch für ungewöhnliche Ideen aufgeschlossen? „Das gibt uns ein gutes Bild davon, ob Personen bei uns erfolgreich arbeiten und wie sie Probleme und Herausforderungen lösen, die im Job auf sie zukommen würden“, sagt Ferro.

Wo hört also Intelligenz auf und wo fängt Persönlichkeit an? „Beide Begriffe sind letztlich nur Konstrukte. Sie sollen uns helfen, Menschen und die Art und Weise, wie sie im Alltag Probleme lösen, besser zu verstehen“, sagt Recrui­ting-Experte und Eignungsdiagnostiker Diercks. Ob man dann zum Beispiel von emotionaler oder sozialer Intelligenz spreche oder von sozialen Skills und Talenten, von ästhetischer Intelligenz oder kreativer Begabung, sei letztlich nicht entscheidend. „Für Personaler ist entscheidend, zu verstehen, dass eine gezielte Auswertung der kognitiven Fähigkeiten in all ihren Facetten aussagekräftiger ist als jeder Lebenslauf und jedes Zertifikat.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sarah Sommer

Sarah Sommer

Sarah Sommer ist Redakteurin bei wortwert in Köln. Sie ist spezialisiert auf komplexe Magazingeschichten und Social Media.  Sommer hat Politikwissenschaften und Volkswirtschaft studiert.

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