Vom Konzern bis zum Mittelständler hoffen immer mehr Unternehmen, dass sie mit agilen Führungsmethoden so schnell und innovativ wie IT-Startups werden können, die derzeit viele Branchen und Märkte auf den Kopf stellen. Aber wie funktioniert agiles Führen eigentlich? Was müssen Führungskräfte in Zukunft können?
Ab sofort, liebe Führungskräfte, gebt ihr bitte Eure Entscheidungsgewalt an eure Teams ab. Statt euren Leuten zu sagen, was sie zu tun haben, unterstützt ihr sie als Coaches dabei, alle wichtigen Entscheidungen selbst zu treffen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Statt mächtiger Taktgeber seid ihr in Zukunft Dienstleister für eure Teams und dafür zuständig, ihnen alle Hürden für ihren Erfolg aus dem Weg zu räumen und optimale Rahmenbedingungen für ihren Erfolg zu schaffen. Klassische Abteilungen und Hierarchien gibt es hier in Zukunft nicht mehr. Euer gewohnter Status als Abteilungs- oder Bereichsleiter ist dahin – oh, und eure bisherigen Titel gibt es übrigens auch nicht mehr. Wenn ihr euch gut macht und die neuen Führungsmethoden schnell erlernt, könnt ihr in Zukunft aber noch als Product Owner den Wertschöpfungsprozess eures Teams steuern, entscheiden, welche Anforderungen in welcher Reihenfolge abgearbeitet werden und die Feedback-Schleifen mit Kunden koordinieren. Oder als Scrum Master darauf achten, dass alle im Team die neuen agilen Methoden richtig umsetzen.
So lautet – ein wenig zugespitzt – die Botschaft an Führungskräfte, wenn ein Unternehmen beschließt, seine Organisationsstruktur ganz oder in Teilen auf agiles Management umzustellen. Kein Wunder, dass viele etablierte Führungskräfte das als Kampfansage empfinden. Dabei ist Agilität eigentlich gerade das Management-Buzzword der Stunde: Eigentlich ein Begriff und Konzept aus der Software-Entwicklung, steht Agilität inzwischen für den Anspruch von Unternehmen, eine maximale Anpassungsfähigkeit an Marktveränderungen in einer immer schnelllebigeren Wirtschaftswelt zu gewährleisten. Vom Großkonzern bis zum Mittelständler haben sich Unternehmen quer durch alle Branchen auf die Fahnen geschrieben, dass sie agiler werden wollen, also: beweglicher, reaktionsschneller. Näher dran an Kundenbedürfnissen und aktuellen Marktentwicklungen.
Führungsprozesse, die kaskadenartig über viele Hierarchieebenen oder in komplexen Matrixorganisationen ablaufen, scheinen nicht mehr zeitgemäß zu sein. Werdet wie Startups, lautet daher das Motto: Schafft Hierarchien und Abteilungs-Silos ab, baut stattdessen dezentrale, reaktionsschnelle, cross-funktionale Teams auf, bringt euren Leuten neue Organisationsmethoden und Instrumente wie Scrum, Kanban und Kaizen bei. Und verteilt die Führungsaufgaben und das für ihre Erfüllung nötige Wissen – möglichst breit gestreut – im Unternehmen, statt sie in einzelnen Personen zu bündeln.
Was das hippe Modewort für sie konkret bedeutet, wird vielen Führungskräften erst klar, wenn es tatsächlich an die Umsetzung geht. „Viele Manager denken erst einmal: Na gut, ich sage jetzt halt meinen Teams, sie sollen agiler werden, und schicke sie in ein paar Scrum-Seminare“, berichtet André Häusling, Geschäftsführer der Beratung HR Pioneers, die Unternehmen bei der Umstellung auf agile Organisationsstrukturen und Führungsmethoden berät. „Aber wenn ein Unternehmen wirklich agil werden will, geht die Veränderung darüber weit hinaus.“ Führungskräfte werden in einem agilen Unternehmen zwar nicht komplett überflüssig, sagt Häusling. Eine agile Organisation sei keine, die auf gute Führung verzichten könne. Im Gegenteil: Es gebe viele neue, anspruchsvolle Führungsaufgaben. „Aber die Jobbeschreibung der Führungskräfte ändert sich komplett, ebenso wie die meisten ihrer Führungsinstrumente. Und, ja: Die Erfahrung zeigt, dass nicht jede Führungskraft das mitmachen kann und will.“
Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Auch beim IT-Dienstleister Whatever Mobile in Hamburg hat es bei der Umstellung auf agiles Management Opfer in der Führungsetage gegeben. Innerhalb von rund fünf Jahren hat das 50-Mitarbeiter-Unternehmen eine Abteilung nach der anderen konsequent „durchagilisiert“, berichtet Marleen Saborowski, deren aktuelle Position im Unternehmen am ehesten mit der einer Personalmanagerin oder Personalreferentin in einem konventionell organisierten Unternehmen zu vergleichen wäre. „Klassische Jobtitel gibt es inzwischen nicht mehr“, erklärt sie. „Alle sind gleich und arbeiten in immer wieder neu zusammengestellten Produktteams auf Augenhöhe zusammen.“
Früher sei das anders gewesen: „Obwohl Whatever Mobile ein recht junges Unternehmen ist, waren wir bis zu diesem Zeitpunkt ein sehr klassisch patriarchalisch geführtes Unternehmen mit strengen Hierarchien“, berichtet Saborowski. Nachdem die Geschäftsführung zu dem Schluss gekommen war, dass das Unternehmen mit einer solchen traditionellen Organisationsstruktur in der schnelllebigen IT-Branche in naher Zukunft nicht mehr wettbewerbsfähig sein würde, stellte Whatever Mobile mit aller Konsequenz auf agiles Management um. „Das hat dazu geführt, dass wir die Umstellung sehr schnell sehr erfolgreich geschafft haben“, analysiert Jennifer Rolle, die als Agile Coach die Mitarbeiter und Teams bei ihrer Entwicklung methodisch begleitet und dafür sorgt, dass die Teams gut zusammenarbeiten können. „Allerdings lag die Mitarbeiter-Fluktuation in den vergangenen Jahren bei rund 50 Prozent.“ Bei den Führungskräften lag die Quote noch deutlich höher: „Nahezu alle Führungskräfte unterhalb der Geschäftsführungsebene haben nach und nach das Unternehmen verlassen“, sagt sie.
Agiles Management und agiles Arbeiten seien sicherlich nicht für jeden ein passendes Modell, räumt Jennifer Rolle ein. „Für Mitarbeiter ist bei der Umstellung die größte Hürde, dass sie auf einmal sehr viel mehr Verantwortung für ihr eigenes Tun und das ihrer Kollegen übernehmen, dass sie bis zu einem gewissen Grad Generalisten statt Fachexperten sein müssen. Und dass sie sich ständig mit anderen abstimmen und gemeinsam Entscheidungen treffen müssen“, erklärt sie. Am härtesten aber treffe die Umstellung ohne Zweifel die Manager. „Das ist ja auch verständlich. Der Statusverlust wiegt schwer“, sagt Rolle. „Wenn man sich etwas über Jahre hart erarbeitet hat, ist es nicht leicht, davon zu lassen.“
Für viele Führungskräfte sei dann der Wechsel zu einem klassischer geführten Konkurrenten der einfachere Weg. Saborowski und Rolle sehen auch Vorteile in den auf diese Weise weitgehend neu zusammengesetzten Teams: „Die Führungskräfte und Mitarbeiter, die wir jetzt an Bord haben, stehen absolut hinter dem agilen Prinzip, begeistern sich dafür und treiben die Veränderung von sich aus weiter voran.“ Letztlich sei die hohe Fluktuation ein Kollateralschaden, der dem Umstand geschuldet ist, dass die Organisation so schnell und sehr konsequent umgebaut wurde.
„Tatsächlich gehen nur wenige Unternehmen so weit, die agilen Prinzipien konsequent in der gesamten Organisation umzusetzen“, sagt Boris Gloger, Experte für die Einführung agiler Methoden wie Scrum. „Sie experimentieren meist erst einmal in einzelnen Teams oder Bereichen mit den neuen Methoden, Instrumenten und Strukturen und schauen, was umsetzbar ist.“ Das sei auch sinnvoll, denn: „Agilität ist ja kein Selbstzweck. Unternehmen müssen sich fragen: Wo brauche ich wie viel Agilität? Welche neuen Kompetenzen brauche ich im Unternehmen, wenn wir agiler werden wollen?“ Vor allem die Führungskräfte müssten Gelegenheit bekommen, sich mit den neuen Führungsrollen und -methoden in der Praxis auseinanderzusetzen. „Wenn man Führungskräften, vor allem im mittleren Management, beschreibt, wie agile Organisationen funktionieren, ist das für sie oft erst einmal ein Schock“, sagt Gloger.
Agiles Management bedeute, dass sich Führungskräfte nicht mehr auf reine Führungsaufgaben beschränken, sich nicht mehr nur in Führungskräfte-Meetings bewegen, sondern selbst wieder Teil der Fach-Teams werden. „Mitmachen, da sein, verfügbar sein: Das kennen, können und wollen viele Manager heute gar nicht mehr. Sie sind es gewohnt, sich zu 90 Prozent in den abgeschotteten Zirkeln der Führungseliten zu bewegen und fachliche Aufgaben zu delegieren“, sagt Gloger. „Um Berührungsängste mit dem neuen Konzept abzubauen, müssen sie die Chance bekommen zu erleben, wie es sich in der Praxis anfühlt, agile Teams zu führen, welche neue Dynamik da entsteht. Und dass es nicht nur effizient ist, sondern auch Spaß macht, so zu arbeiten.“
Prinzip der kleinen Schritte
Beim Kölner Energieanbieter Yello Strom hat man sich für einen solchen behutsamen Weg der Umstellung entschieden. Schon vor rund vier Jahren begannen einige IT-Teams, sich mit agilen Methoden auseinanderzusetzen und erste Erfahrungen mit agilem Management zu sammeln. „Im Herbst 2015 fiel dann die Entscheidung, das agile Modell auf die gesamte Organisation auszudehnen“, berichtet Karola Wegner, Personalentwicklerin des Unternehmens.
Gemeinsam mit allen Führungskräften und erfahrenen Agilitäts-Experten entwickelte die Personalabteilung ein Konzept, wie die Umstellung gelingen könnte. „Wir haben dabei bewusst entschieden, dass wir keine radikale Umstellung wollen“, sagt Wegner. „Das Unternehmen muss nicht von heute auf morgen auf einen Schlag komplett agil arbeiten.“ Statt die etablierten Abteilungsgrenzen sofort aufzulösen und die Mitarbeiter in kleine, agile Teams zu stecken, habe man zunächst das Unternehmen in zwei neue Bereiche aufgeteilt, die jeweils für unterschiedliche Kundengruppen arbeiten. „Jede dieser beiden Gruppen soll nun für sich selbst herausfinden, wann und wo es Sinn macht, weitere kleine, agile Teams zu bilden“, erklärt Wegner.
Dazu wurden in den einzelnen Bereichen zunächst agile Management-Tools wie die sogenannten Kanban-Boards eingeführt: „Das sind im Grunde große Whiteboards, auf denen abteilungsübergreifend erkennbar wird, welche Aufgaben gerade anstehen, wer woran arbeitet, wie der Arbeitsfluss zum Kunden hin läuft“, erklärt die Personalentwicklerin. Diese neue Transparenz sei der erste Schritt, um Denkblockaden aufzulösen: „Wir wollen langsam raus aus dem Abteilungsdenken, hin zu mehr selbstverantwortlichem Arbeiten und Denken in Wertschöpfungsketten.“ Eilig habe man es dabei nicht: „Wir setzen, ganz im Einklang mit den agilen Grundgedanken, auf ein Prinzip der kleinen Schritte, auf viele Feedback-Schleifen und Selbstreflexion“, erklärt sie. „Wir haben dabei keine festen Zielvorgaben gesetzt, wann wir wie agil sein wollen.“
Das sei auch aus Personalentwicklungs-Sicht wichtig: „Wir wollen Mitarbeitern und Führungskräften in diesem Veränderungsprozess eine gewisse Sicherheit und Beständigkeit bieten.“ Die Führungskräfte müssten nun lernen, dass zukünftig jeder von ihnen ein „kleiner Personaler“ sei: „Eine klassische Abteilung für Personalentwicklung wird im agilen Management-System eigentlich überflüssig“, sagt Wegner. „Die Verantwortung dafür, dass sich Mitarbeiter und Teams persönlich und fachlich weiterentwickeln können, verteilt sich viel stärker im Unternehmen.“
Die Führungskräfte werden also nicht überflüssig, sondern übernehmen während des Veränderungsprozesses weiterhin wichtige Führungsaufgaben: Sie begleiten und unterstützen ihre Teams durch Einzelgespräche und in Team-Meetings dabei, die nötigen Prinzipien und Instrumente für den Wandel zum agilen Unternehmen zu erlernen – und ermutigen sie, eigenverantwortlich zu arbeiten. „Die Führungskräfte haben den Wandel von Anfang an unterstützt und mit getragen, weil sie sehen, dass Agilität uns als Unternehmen tatsächlich besser und erfolgreicher machen kann und wird“, betont Wegner. „Und dass sie genug Zeit haben werden, den Wandel umzusetzen.“