Als Mönch lebte Rainard Dörpinghaus ein Vierteljahrhundert im Kloster. Dann kamen der Bruch und die Trennung. Von einem, der auszog, ein neues Leben zu lernen
Rainard Dörpinghaus ist ein Mann mit zwei Leben. Einer, der Jahrzehnte in einem Kloster lebte, als Mönch in einer Abtei. Ein Mann, dessen Alltag aus Beten und Arbeiten bestand. Einer, der als Seelsorger auch in der Nacht Lebensmüden neue Lebenslust gab. Bis er selbst die Lust am Leben verlor. Aus Einsamkeit, Verzweiflung und Überarbeitung, vielleicht auch aus dem bleiernem Gefühl heraus, dass der einmal eingeschlagene Weg, der doch für immer sein sollte, nicht mehr der richtige ist.
Ein Mensch in der Krise hat zwei Möglichkeiten. Er kann die Decke über den Kopf ziehen und hoffen, dass alles schnell wieder vorbei ist. Oder er bietet der Zäsur die Stirn und stellt sich dem härtesten Gegner seiner Verzweiflung. Sich selbst.
Bevor einer diesen Mut fasst, hat er mitunter schon eine Menge erlebt. Manchmal sogar ein ganzes Leben. Und wie das so ist mit dem Leben, beginnt es oft harmlos. In Rainard Dörpinghaus Fall mit einer behüteten Kindheit in der westfälischen Kleinstadt Bad Oeynhausen, einem Kurort unweit der Weser. Sein Vater, ein Zahntechniker, führt einen kleinen Betrieb. Die Mutter arbeitet als Sekretärin und Buchhalterin. „Wir lebten buchstäblich von der Hand in den Mund und das sehr glücklich“, sagt Dörpinghaus. Er geht, wie auch seine zwei Brüder, auf ein katholisches Internat. In seiner Freizeit lernt er Orgel spielen. Die Religion, ihre Riten, die Orgel, all das wird zum festen Bestandteil seines Lebens. Nach dem Abitur studiert er Kirchenmusik in Detmold. Doch die beruflichen Aussichten sind trüb, gute Stellen rar.
Nicht jeder in diesem jungen Alter käme dann auf die Idee, Pfarrer zu werden. Dörpinghaus schon. Er beschließt von nun an sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen. Und so steht ihm eine erste Trennung bevor: die von seiner Freundin. „Gott steckt an jedem Lebensweg kleine Fähnchen. Es liegt an dir, sie zu beachten und ihnen zu folgen“, gibt sie ihm beim Abschied mit auf den Weg. „Eine gleichgültige Trennung habe ich nie erlebt. Eine Trennung ist immer emotional“, sagt Dörpinghaus. Schnell und sprunghaft wird in diesem Moment sein Redefluss. Als wollte er rasch weiter. Das Leben ist zu kurz für lange Pausen.
Richard Dörpinghaus, Foto: Laurin Schmid
Wer Pfarrer werden will, muss studieren. Dörpinghaus geht nach Paderborn und wählt seine Fächer: Theologie, Philosophie und Psychologie. Nach dem Vordiplom macht er sich auf den Weg nach Wien. Er besucht Gast-Vorlesungen des berühmten Victor Frankl, neben Sigmund Freud und Alfred Adler einer der drei großen Wiener Psychotherapeuten. „Frankls bestimmendes Thema ist der Wille zum Sinn als Grundmotivation des Lebens.“ Die Sinnfrage treibt auch Dörpinghaus um. Trotz seiner Entscheidung für das Pfarramt fragt er sich immer wieder: „Willst du lieber Vater oder Pater sein?“
Seine Antwort findet er unweit der Autobahnausfahrt 111, auf der A3 Richtung Wien. Von der Autobahn aus sieht er ein Kloster. Die Benediktinerabtei Niederaltaich liegt mitten im Bayrischen, zwischen Straubing und Passau, direkt an der Donau, unweit der Isarmündung. Dörpinghaus nimmt von nun an häufiger die Ausfahrt zum Kloster. Mal bleibt er nur für ein oder zwei Nächte, dann wieder ein paar Tage, um für seine Prüfungen zu lernen. Auch gestresste Manager fliehen in die temporäre klösterliche Abgeschiedenheit.
„Viele kommen ins Kloster, weil sie eine Krise zu verarbeiten haben“, sagt Dörpinghaus. Er glaubt, dass er gerade hier, zwischen den tausend Jahre alten Gemäuern des Klosters die große Welt finden wird. Und so wird aus dem Bürger Rainard Dörpinghaus der Bruder Maurus. Von nun an bestimmt der klösterliche Takt seinen Tag: Viermal täglich das Stundengebet, die Mahlzeiten werden schweigend eingenommen. Er trägt jetzt den Habit, das Ordensgewand der Benediktiner. „Das Wort kommt vom lateinischen ‚habitare secum‘, bei sich selbst wohnen.“ Bei sich selbst will er auch wohnen. Da ist diese Sehnsucht nach innerer Ruhe und Gelassenheit.
„Dennoch gibt es viel Leben im Kloster. Was es kaum gibt, ist Ablenkung“, sagt er. Benedikts Regel beginnt mit dem Wort: „Asculta! Höre! Man muss still sein, um etwas zu erfahren. Man muss bei sich bleiben, um etwas zu lernen.“ Dörpinghaus spricht jetzt noch schneller und springt noch wagemutiger von Sprichwort zu Sprichwort, von Anekdote zu Anekdote, von Einsicht zu Einsicht. Sein rasantes Redetempo lässt sich kaum mit der inneren Einkehr und äußeren Stille eines Klosters übereinbringen.
Es macht sich eine Zerrissenheit bemerkbar, die sich wohl auch damals schon zeigt. „Meine Klosterzelle war nicht so asketisch wie die anderer Brüder.“ Bis oben hin „vollgestopft mit Büchern“ sei sie gewesen. In einem kleinen Büro widmet er sich seinen Studien; die Zelle soll nicht gleichzeitig der Arbeitsplatz sein. „Das ist ja auch sinnvoll, die Trennung von Leben und Arbeiten. Sonst weiß man irgendwann nicht mehr, was das eine und was das andere ist.“
Wo die meisten Menschen die große Abgeschiedenheit vermuten, sieht er das ganze Panorama der Welt. Er entdeckt es in seinen Büchern, findet es in den Gesprächen mit Besuchern des Klosters und schließlich auch in den Reisen, die er unternimmt. Reisen nach Rom, wo er auch noch Orientalistik studiert, oder nach Jerusalem, wo er als Studentenseelsorger an der Hebrew University arbeitet.
Seine Arbeit als Seelsorger verleiht ihm Sinn, lässt ihn teilhaben am Leben Anderer. Er wird in Krisen gerufen, am Tag und in der Nacht. Er hilft Eltern, die ihr Kind verloren haben und greift Managern unter die Arme, die den Sinn des Lebens nicht mehr finden können. Dörpinghaus bringt andere auf neue Wege. Er will Mut machen, zeigen, dass das Leben lebenswert ist. Selbst in seinen dunkelsten Stunden. Er ist viel unterwegs, hält Workshops oder arbeitet auch mal als theologisch-pädagogischer Berater bei den Salzburger Festspielen. Tritt ein Sänger als Mönch verkleidet auf der Bühne auf, überprüft Dörpinghaus, ob die Kordeln an der Robe zeitgemäß sind, das Gewand in den historischen Kontext passt und der Abtsmime seiner Rolle gerecht wird. Als Pater Maurus lernt er Künstler kennen, Intendanten und Schauspieler.
Die Geselligkeit der Außenwelt steht in krassem Gegensatz zum Leben in der Abtei. Beide Welten konkurrieren miteinander. Er beginnt, sich im Kloster zunehmend „wie ein Ausstellungsstück“ zu fühlen. Die beiden Identitäten, die des klösterlichen Paters und die des einstigen Bürgers Dörpinghaus, ringen um das Vorrecht.
Leben und leben lassen
Dann zwingt ihn das Schicksal in sein zweites Leben: Als Dörpinghaus die Nachricht von der schweren Erkrankung seines Vaters erreicht, manifestiert sich die innere wie äußere Distanz zur Klosterwelt. Er pendelt von nun an zwischen alter und neuer Heimat. Über 600 Kilometer liegen zwischen Bad Oeynhausen und Niederaltaich. Zwei Jahre später stirbt sein Vater. Dann wird seine Mutter krank. Und irgendwann kann auch Dörpinghaus nicht mehr. Er bricht zusammen. Verzweiflung, Suizidgedanken, Depression.
Erst in einer Klinik kommt er wieder zu Kräften. Ein einziges Mal ruft ein Mitbruder aus dem Kloster an. Er will wissen, welches Reinigungsmittel am besten sei. Wie es Dörpinghaus geht, fragt er nicht. Keiner fragt. Da merkt er, dass für ihn die einst vollzogene Trennung und mit ihr die gewählte Einsamkeit nicht mehr aufrecht zu halten sind. Es heißt: „Das Kloster ist für immer, bis man mit den Füßen rausgetragen wird“, sagt Dörpinghaus.
Und trennt sich. Von einem Leben, das ein Vierteljahrhundert seines war. Das ihm auch Halt, Schutz und eine sorgenfreie Existenz gegeben hat. „Ich brauchte mich um nichts zu kümmern. Ich wurde versorgt, es standen uns mehrere Autos zur Verfügung, wir brauchten keine Wäsche waschen, nicht putzen oder kochen. Im Grunde ein sehr sicheres Leben.“ Er will trotzdem weg. Den goldenen Käfig verlassen, ein zweites Mal Laufen lernen.
Schnell wird ihm klar, wohin seine Reise geht. Berlin soll es sein. Sein neuer Lebensmittelpunkt, der Ort seines Neuanfangs. Als Mönch ist er einmal in seinem Ordensgewand durch die Berliner Straßen gelaufen. Gekümmert hat das niemanden. „Da liegt so eine Leichtigkeit in der Berliner Luft, das Leben wird lockerer genommen. Leben und leben lassen.“ Die Stadt, in der irgendwie alle auf der Suche sind, soll auch seine Stadt werden. Doch der Schnitt könnte größer kaum sein. Und er kostet Kraft.
„Eine Trennung bedeutet Verlust und Gewinn. Ich muss mich von Gewohnheiten, Einsichten, Sicherheiten verabschieden. Ich verliere eine ganze Menge. Und ich musste alles neu regeln: meine Altersvorsorge, meine Krankenversicherung… .“ Dörpinghaus überlegt, was er nun mit dem neuen Leben anfangen will. Er war ja immer gern Seelsorger, hat Menschen in Krisen beraten. „Man wechselt leichter den Job als den Beruf. Beruf kommt von Berufung. Er ist das, was mir entspricht. Und eigentlich bin ich ja schon immer Begleiter und Berater gewesen.“
Gewinn durch Verlust
Dörpinghaus macht sich selbstständig, besucht Veranstaltungen an der Industrie- und Handelskammer und beginnt eine Ausbildung zum Coach und Berater. Schließlich gründet er sein eigenes Coaching-Studio. Als beratender Mönch hat Dörpinghaus über die Jahre ein Netzwerk aufgebaut. Schüler, die er als Seelsorger betreut hat, suchen heute noch den Kontakt zu ihm. Unternehmen werden auf ihn aufmerksam und holen ihn für Führungstrainings. Er begleitet Angestellte, die eine Firma verlassen, bei der Suche nach einer neuen Anstellung. Zu ihm kommen Menschen, die eine Trennung anstreben oder durchleben, sei es vom Lebenspartner oder Arbeitgeber. Dörpinghaus rät ihnen, inne zu halten und sich zu fragen: Was ist eigentlich passiert? Was hätte ich von einer Trennung, was vom Bleiben? Verliert jemand seinen Job versucht er den Blick auf die andere Seite der Medaille zu lenken: „Sehen Sie auch mal den Aspekt: Endlich haben Sie die Gelegenheit das zu machen, was Sie vielleicht schon immer machen wollten.“
Dörpinghaus empfiehlt, was ihm selbst geholfen hat. Wahrnehmen, akzeptieren, entscheiden und herausfinden: Was bleibt von einem übrig nach der Trennung? Was ist da noch, das man nutzen kann? Viele Menschen „leiden, weil sie den Verlust nicht wahrhaben wollen. Aber oft ist es notwendig, dass man sich trennt und löst, um eine neue Einheit zu finden. Es ist die Entscheidung für einen Neuanfang.“ Er sieht an einer Trennung weniger das Vergehen und mehr das Werden, das Zukünftige: „Think positive.“ Das, was man selbst gegeben hat, kann ein anderer mitnehmen. „Und andersherum ist es genauso. Dankbarkeit für das, was in der Vergangenheit gut war, kann sehr helfen eine Trennung zu überwinden.“
Mönch Maurus gibt heute als Herr Dörpinghaus wieder Workshops in Klöstern. „So haben wir beide etwas gewonnen, das Kloster und ich.“ Der Endgültigkeit eines einmal eingeschlagenen Lebenswegs hat Dörpinghaus den Mut zur Veränderung entgegengesetzt. Auf die grassierende Krisenverhinderungs-Homöopathie hat er mit einer klaren Entscheidung reagiert. Wird Identität als lebenslanger Prozess begriffen und die Trennung als anthropologische Konstante, lassen sich auch in diesem ewigen Kreislauf durch das Treffen von „Ent-Scheidungen“ neue Energien mobilisieren. Energien, die Hoffnung zurückgeben, Freiheit ermöglichen und aus einem Mönch einen Berater machen.