Versager oder Tollpatsch

Leadership

Die Sicht auf Gescheiterte und das Scheitern ist ein Stück weit eine Frage der Herkunft. Das zeigt auch der Berliner „Club der polnischen Versager“, der sich als ein Statement gegen eine Kultur des Erfolgs sieht.

Zu den wohl bekanntesten Polen in Berlin gehören ausgerechnet auch einige „Versager“: Adam Gusowski, Piotr Mordel und andere Einwanderer von jenseits der Oder kamen Ende der 80er Jahre mit großen Hoffnungen nach Deutschland. Doch das erwartete „Paradies“ und den beruflichen Erfolg fanden sie hier zunächst nicht. „Ich bin sogar als Schwarzarbeiter auf dem Bau gescheitert“, erinnert sich der studierte Ingenieur Piotr Mordel.

Aus ihrer Not machten sie eine Tugend und gründeten in Berlin-Mitte den „Club der polnischen Versager“ – auch als Statement gegen eine Kultur des Erfolgs. Der provokante Name sorgte schnell für ein großes Interesse. Inzwischen sind die „Versager“ mit ihren Kino-, Theater-Abenden, Lesungen und Shows eine feste Institution im Berliner Kulturleben. Piotr Mordel hat mittlerweile als Grafiker sogar ein festes Einkommen und ist gesetzlich krankenversichert und Adam Gusowski arbeitet unter anderem beim Radio. Aber auch bei den anderen Gescheiterten der ersten Stunde ist die Bezeichnung heute nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Unter ihnen ist auch ein inzwischen sehr bekannter Maler, dessen Bilder heute in Berliner Villen hängen, für deren Besitzer er früher als Gärtner arbeitete.

„Der Name ‚Versager‘ ist natürlich ein Stück weit Koketterie“, sagt Piotr Olszówka. Der in Berlin lebende polnische Übersetzer und Philosoph kennt die Klubbetreiber gut. Schließlich startete in ihren Räumen vor zehn Jahren auch die „Show des Scheiterns“, in der Olszówka noch heute regelmäßig als Experte auftritt. Bei der Übersetzung der polnischen Ursprungsbezeichnung „Nieudacznik“ in das deutsche Wort „Versager“ habe es aber auch eine „gewaltige Verschiebung“ in der Bedeutung gegeben, sagt Olszówka. Der Begriff „Versagen“ oder auch das Scheitern habe in beiden Ländern eine ganz unterschiedliche Bedeutung, betont der Philosoph.

Im Polnischen sei ein „Nieudacznik“ eher ein sympathischer, etwas tollpatschiger Mensch, dem wenig gelinge. Slawische Kulturen seien eher von der Vorstellung geprägt, dass Erfolg etwas Schicksalhaftes sei und man nicht unbedingt Einfluss darauf haben muss. „In Polen gilt das Versagen deshalb nicht unbedingt als Katastrophe. In Deutschland ist es ein hartes Urteil, ein echter Hammer, ein gesellschaftliches Todesurteil“, sagt Olszówka. Anders als in Polen sei „Versager“ in Deutschland daher auch ein Schimpfwort.

In Japan gibt es eine starke soziale Kontrolle

Der Blick auf Versager und Gescheiterte – ist er nur eine Frage der Kultur, in der wir leben? Wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Menschen in eher problematischen Situationen weltweit ist und welche Folgen diese Unterschiede auch in der Arbeitswelt haben können, beschäftigt Wissenschaftler schon seit Jahren. Zu ihnen zählt auch der Lüneburger Wirtschaftspsychologe Michael Frese.

„Allgemein gilt für alle Menschen, dass sie ungern scheitern“, betont Frese zunächst. Doch es gebe durchaus Kulturen, in denen Scheitern als dramatischer und problematischer dargestellt werde als in anderen. Mit Kolleginnen aus den USA hat er verschiedene kulturelle Dimensionen bestimmt, die für den Umgang mit Versagern und Gescheiterten eine große Rolle spielen können.

Eine Dimension nennt Frese die „menschliche Orientierung“ in einer Gesellschaft. Gibt es ein starkes, menschliches Miteinander und werden Individuen akzeptiert, wie sie sind, werden auch ihre Fehler eher toleriert, so die These. Auch die Ausprägung des sozialen Gefüges und die soziale Kontrolle können den Wissenschaftlern zufolge entsprechende Konsequenzen haben. Gesellschaften wie Japan oder Singapur gelten als sehr stark sozial kontrolliert; Abweichungen von den Normen werden stärker beobachtet und bestraft als in „lockereren“ Gesellschaften wie den USA oder Brasilien, wo man entsprechend entspannter mit Fehlern umgehe.

Und auch der von Olszówka angedeutete Fatalismus, also der Glaube, dass das Leben von Gott, Zufällen oder dem Schicksal bestimmt wird, ist aus Sicht der Forscher ein möglicher Einflussfaktor. Russland und Indien seien besonders fatalistische Kulturen, in denen von vornherein gar nicht so viel Wert auf das Vermeiden von Fehlern gelegt werde, weil der Mensch an sich ohnehin nicht allein verantwortlich für das Geschehen gemacht werde. Anders in den wenig fatalistischen Gesellschaften Deutschland und den USA: Dort gingen Menschen eher davon aus, dass sie allein durch ihre persönliche Kontrolle für das eigene Schicksal verantwortlich seien. Scheiterten sie dabei, werde der Fehler eher auf sie zurückgeführt, erläutert der Professor.

Unsicherheit vermeiden

Im Einzelnen sei noch nicht ausreichend erforscht, wie genau sich welche Dimensionen in den einzelnen Kulturen auswirken. „Es gibt noch viele Fragezeichen“, sagt der Wissenschaftler. Eine große, länderübergreifende empirische Studie allein zum Thema „Scheitern“ gebe es noch nicht. Die wichtigste Datengrundlage, die Frese und Kollegen nutzen, ist die „Globe-Studie“, eine Befragung von 13.000 Managern aus rund 60 Ländern zu den Zusammenhängen zwischen nationaler Kultur, Unternehmenskultur und bevorzugten Führungstechniken und -stilen.

Doch trotz der vielen Fragezeichen: Bei einer Dimension geht Frese „mit Sicherheit“ davon aus, dass sie einen starken Einfluss hat. Er bezeichnet sie als Unsicherheitsvermeidung: „Unsicherheitsvermeidende Kulturen sind darauf bedacht, dass Unsicherheiten von vornherein nicht auftreten. Wenig oder nicht unsicherheitsvermeidende Kulturen sagen hingegen: Unsicherheiten gehören zum Leben dazu“, erläutert der Forscher.

Länder, in denen Unwägbarkeiten besonders gern von vornherein ausgeschlossen werden, etwa in Form von vielen Gesetzen und Regeln, seien die deutschsprachige Schweiz, Deutschland, Schweden und Singapur. Auch in der Arbeitswelt sei dies oft zu beobachten: Manager aus diesen Ländern seien vor Projekten besonders intensiv mit ihren Planungen beschäftigt. In Russland, Ungarn, Guatemala, Griechenland und Venezuela habe die Vermeidung von Unsicherheiten den vergleichsweise geringsten Stellenwert. „Die USA, Japan, Israel, Spanien und Italien liegen eher in der Mitte“, sagt Frese.

In den USA zählt die Erfahrung

Generell sei nicht alles daran schlecht, wenn in einer Kultur Unsicherheiten gern vermieden würden. Dafür spreche zum Beispiel, dass diese Länder oft auch wirtschaftlich erfolgreich seien. Doch wenn das Ausschließen von Unsicherheiten zur allgemeinen Norm erhoben werde, berge dies auch Gefahren: „Zum Beispiel wird man schräg angesehen, wenn man beruflich scheitert“, sagt der Lüneburger Professor. Das Scheitern werde Menschen in diesen Kulturen oft schnell als schlechte Vorbereitung und Organisation ihrer Vorhaben ausgelegt. Und wer als Unternehmer versage, werde schnell als gescheiterte Persönlichkeit betrachtet und nicht als jemand, der Erfahrung hat. Dabei könne man Scheitern ja auch als Lernprozess betrachten, wie in den USA: „Da sagen ganz viele Betriebe, sie wollen lieber jemanden einstellen, der schon einmal gescheitert ist.“

„In Deutschland versuchen wir aufgrund unseres Perfektionsdrangs alles und jeden zu reglementieren und stehen uns dann selbst im Weg, wenn es darum geht, irgendwelche Freiheiten zu haben“, meint Frese. Das bereite den Deutschen auch als Nation Probleme, etwa im Umgang mit schwierigen Themen wie der Eurokrise. „Wir versuchen uns, da rauszuhalten und sind dann nicht mehr proaktiv“, kritisiert er.

Der deutsche Wirtschaftsprofessor Claus Schreier lebt seit vielen Jahren in der Schweiz und arbeitet an der Hochschule Luzern als Dozent für Interkulturelles Management. Den stark ausgeprägten Drang nach Fehlervermeidung in der deutschsprachigen Schweiz und in Deutschland sieht auch er zwiespältig: „Man hält gern an Altbewährtem fest, präzisiert und optimiert gern lang existierende Strukturen und verbessert Prozesse und Routinen immer wieder – durchaus mit Erfolg“, sagt Schreier mit Blick auf die Uhren- und Automobilindustrie.

Während diese beiden Kulturen sich allerdings eher über Evolution definierten, sei es in den USA die revolutionäre Innovation. Wer innovativ sei, zeige Mut zum Risiko. „Risiken werden bewusst eingegangen, ohne diese von allen Seiten absichern zu wollen. Das Scheitern ist hier einkalkuliert, der Trial-and-Error- beziehungsweise Fail-Prozess wird als notwendige Bedingung für den Quantensprung akzeptiert.“ Nicht verwunderlich sei daher, dass Unternehmen wie Facebook, Ebay und Google gerade in den USA das Licht der Welt erblickt hätten, meint Schreier.

Der Mittelweg ist am besten

Der Drang nach Fehlerfreiheit kann auch aus seiner Sicht zum Problem werden. Für einen Schweizer Hersteller von Aufzügen etwa sei diese Haltung beispielsweise in Japan wirtschaftlich mit Schwierigkeiten verbunden gewesen. 2006 starb ein Japaner durch fehlerhafte Wartung in einem Aufzug der Firma. „Statt Scham und Mitleid zu zeigen, war es dem Hersteller damals zunächst am wichtigsten, klarzustellen, keinen Fehler gemacht zu haben, erfolgte die Wartung doch von einer Fremdfirma in Japan“, erzählt Schreier. Diese Haltung sei in Japan so schlecht angekommen, dass die Firma dort lange kaum noch Aufträge bekam. Bei einem weiteren tödlichen und erneut „unverschuldeten“ Vorfall 2012 in Japan habe der Hersteller sich sofort in aller Öffentlichkeit bei den Angehörigen entschuldigt – mit positiver Resonanz.

Der Lüneburger Forscher Frese hält weder den Drang nach Perfektion, Fehlervermeidung und Reglementierung noch das andere Extrem für sinnvoll. „Mit einem Mittelweg fahre eine Gesellschaft am besten“, ist er überzeugt. Die Hoffnung, dass sich schnell etwas an den Einstellungen in einer Gesellschaft ändern kann, hat er nicht. „Das ist ein zäher Prozess, der Jahre dauert.“

Die im „Club der Polnischen Versager“ gestartete Show des Scheiterns, die inzwischen auch in der Schweiz und Österreich zu sehen war, leistet einen kleinen Beitrag gegen den Trend, perfekt sein zu wollen. Hier können „Gescheiterte“ über ihre Erfahrungen mit schief gelaufenen Ideen, Projekten oder Unternehmen sprechen und bekommen Tipps vom Experten. „Die Show hat aber nichts mit ‚Verstehen Sie Spaß?‘ zu tun“, betont Olszówka. Natürlich habe sie auch lustige Elemente. Sie berücksichtige aber immer, dass das Scheitern eine tiefe existenzielle Erfahrung ist. „Wir scheitern täglich. Der Erfolg ist eher die Ausnahme“, sagt der Philosoph. Beinahe wäre die Show auch ins Fernsehen gekommen. „Doch da wurden die Protagonisten eher ins Lächerliche gezogen und das Projekt scheiterte.“

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Anja Sokolow

Anja Sokolow

Journalistin

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