Mit Recruiting Games neue Talente gewinnen

Gamification

Ein Bewerbungsgespräch in lockerer Runde in einem Großraumbüro, bis plötzlich ein roter Drache durch die virtuelle Wand bricht. Er tönt: „I hate everything new“ und „You need to buy more fax machines“. Zügig wird erklärt: Das ist der sagenumwobene Smok Wawelski, der mit seinen veralteten Ansichten jeglichen Fortschritt verhindern will. Jetzt liegt es allein in der Hand der Spielenden, die Scheinargumente des Drachens zum Klimawandel, zur Zusammenarbeit und zur Digitalisierung zu entkräften und ihn so zu besiegen. Wer das schafft, gelangt anschließend zur Karriereseite.

Mit diesem eher ungewöhnlichen Szenario wollte die Transportmanagement-Plattform Transporeon mit Hauptsitz in Ulm im Juni vergangenen Jahres gezielt erfahrene IT-Talente für ihren Krakauer Standort gewinnen. „Diese Zielgruppe ist hoch umkämpft“, erklärt Arndt Ahlers, Director Global Talent Acquisition bei Transporeon. „Wir wollten mit Cracow Vice herausstechen. Denn viele Menschen wissen vielleicht nicht, dass wir ein potenzieller attraktiver Arbeitgeber sein können.“ Um das Recruiting-Spiel lief eine dreimonatige Werbekampagne, sowohl online als auch über die Bildschirme der Krakauer Straßenbahnen. Das Unternehmen habe zuvor ein genaues Profil ihrer Zielgruppe erstellt: Die gesuchten Entwicklerinnen und Developer mögen Games und Herausforderungen, sind häufig online und weisen eine ausgeprägte Neugier auf. Das Recruiting Game sollte alle diese Punkte vereinen.

Mit Online-Spielen auf Talentsuche

Recruiting Games sind Spiele zur Berufsorientierung und bieten eine unterhaltsame Form des Self-Assessments. So ermöglichen sie den Teilnehmenden, vor einer Bewerbung abzuschätzen, ob sie zum vorgestellten Job oder Arbeitgeber passen. Durch ihren Erlebnischarakter grenzen sie sich jedoch von anderen spielerisch-simulativen Elementen des sogenannten Recrutainments ab, wie Lars Jansen, Joachim Diercks und Kristof Kupka in ihrem Buch Recrutainment (2023) herausstellen. Schon seit einigen Jahren sind Recruiting Games für Unternehmen fester Bestandteil in Personalauswahl und Employer Branding. Bereits seit 2007 vermittelt beispielsweise die Stadt Hamburg mit C!You – start-learning@hamburg spielerisch Einblicke in die Arbeit der städtischen Verwaltung und informiert über verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten. Die Hotelkette Marriott gab mit dem Facebook-Spiel MyMarriott die Möglichkeit, eine virtuelle Hotelküche aufzubauen vom Wareneinkauf bis zur Weiterbildung des Kochpersonals. Ein Beispiel, das hierzulande wohl kaum denkbar wäre: In den Vereinigten Staaten nutzte die Armee von 2002 bis 2022 den Egoshooter America’s Army, um neue Streitkräfte zu rekrutieren.

Recruiting-Game Cracow Vice von Transporeon
© Transporeon GmbH

Im Point-and-Click Adventure Cracow Vice kämpfen die Spielenden gegen den Drachen Smok Wawelski. Statt eines tosenden Flammenmeers begegnet ihnen jedoch eine andere furchterregende Waffe: Scheinargumente gegen Digitalisierung und Klimaschutz. Nur mit einem Argumentationsbooster lässt sich das Ungeheuer bezwingen.

Recruiting-Spiele sind bisher nur selten Bestandteil wissenschaftlicher Untersuchungen. Im Jahr 2016 veröffentlichte die Universität Bamberg die Studie Techniksprung in der Rekrutierung. Daraus geht hervor, dass nur die wenigsten Unternehmen Online-Spiele für ihr Recruiting verwenden. So haben weniger als 2,5 Prozent der teilnehmenden Unternehmen angegeben, Recruiting Games auf ihrer Karrierewebsite oder auf sozialen Netzwerken anzubieten. Auch Pläne für einen künftigen Einsatz dieser Spiele fielen eher verhalten aus: 3,6 Prozent der Top-1.000-Unternehmen Deutschlands planten Recruiting Games zu implementieren. Rund 30 Prozent der befragten Stellensuchenden befanden, dass Online-Spiele eine gute Rückmeldung für die Eignung einer ausgeschriebenen Stellung gaben. Doch seit 2016 ist einiges passiert.

Virtuelle Einblicke ­gewähren

„Seit zwei Jahren gibt es eine massiv spürbare Nachfrage nach diesen Online-Tools“, sagt Joachim Diercks, Gründer und Geschäftsführer von Cyquest. Seit über zwanzig Jahren bietet er mit seinem Unternehmen die Konzeption und Durchführung von Recrutainment-Anwendungen an, darunter Recruiting Games. Die Gründe für die gesteigerte Nachfrage liegen nach seiner Einschätzung vor allem an der zunehmenden Orientierungslosigkeit der Jugendlichen, deutlich verstärkt durch die Auswirkungen der Coronapandemie. Zahlreiche Angebote zur Berufsorientierung, wie Ausbildungsmessen und Betriebspraktika, seien weggefallen. Aber auch der Fachkräftemangel trage dazu bei, dass Unternehmen mit ihren Ausbildungsangeboten sichtbarer werden möchten. Die Studie Azubi-Recruiting Trends 2022 zeichnet ein ähnliches Bild auf Seiten der Bewerbenden. Jugendliche wünschten sich demnach mehr Möglichkeiten zur Berufsorientierung, über 70 Prozent der Befragten erhoffen sich einen besseren Einblick in Berufe durch ein größeres Angebot an virtuellen Online-Tools. „Re­­cruiting Games sind dabei Self-Assess­ments im wahrsten Sinne. Sie zeigen zukünftige Aufgaben und fragen die Bewerbenden: Sind das Aufgaben, auf die du Lust hast? Sind das Aufgaben, die du kannst?“

Nur nichts vorspielen

Für die Erstellung von Recruiting Games rät Diercks den Unternehmen Mut zur Wahrheit. „Das Spiel sollte den potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern keine falschen Tatsachen vorgaukeln. Eine echte Hilfestellung bieten Recrui­ting Games nur, wenn sie Erlebnisse vermitteln, die auch der Realität entnommen sind und eine gewisse Jobnähe aufweisen.“ Also lieber nicht das Großraumbüro verstecken oder unliebsame Aufgaben unter den Tisch fallen lassen, die essenzieller Bestandteil des Arbeitsalltags sind. Früher oder später kämen diese eh ans Licht.

Im Berufsalltag müssen Mitarbeitende bei Transporeon glücklicherweise nicht gegen Drachen kämpfen. Vielmehr sei das Recruiting Game darauf ausgelegt gewesen, den Cultural Fit, also die gemeinsamen Wertvorstellungen zwischen Unternehmen und potenziellen Bewerbenden zu überprüfen. „Die im Spiel gezeigten Büros sind allerdings stark an unsere echten Büroräumlichkeiten in Krakau angelehnt“, erzählt Ahlers. „Und auch die polnische Volkssage um den Drachen Smok Wawelski gibt es wirklich, wir haben sie nur etwas für das Spiel angepasst.“

Spielerisch neue Talente gewinnen

Auf einen möglichst realitätsnahen Einblick in die Tätigkeitsfelder der zukünftigen Auszubildenden setzt die Targobank. Mit dem Recruiting Game wolle das Unternehmen besonders die Generation Z ansprechen. In dem Azubi-Game in nostalgischer 2-D-Pixel-Grafik müssen Spielende der Kundschaft passende Kontomodelle heraussuchen oder ganz simpel zur Begrüßung ein Getränk anbieten. Der Kundenkontakt ist ein Kernelement der Ausbildung und künftigen Tätigkeit. „Anstatt den potenziellen Auszubildenden ihre zukünftigen Aufgaben zu erklären, wollten wir sie das selbst erleben lassen“, erklärt Nicole Soesanto, Senior Spezialistin für das Azubi-Marketing. Sind alle Aufgaben des virtuellen Schnuppertages absolviert, öffnet sich ein Dialogfeld. Interessierte gelangen so zu den Stellenanzeigen, dem Karriereportal oder zu einer Terminübersicht, über die ein Info-Gespräch mit anderen Auszubildenden gebucht werden kann. Es gibt aber auch die ein oder andere versteckte Überraschung zu entdecken. „Das Spiel ist nur ein erweitertes Angebot, das Unternehmen sowie die Ausbildung besser kennenzulernen und ist kein verpflichtender Teil des Recruiting-Prozesses.“ Das Azubi-Game läuft seit März dieses Jahres. Noch sei es zu früh, das Projekt umfassend zu bewerten. Doch erste Erkenntnisse gibt es schon: Durchschnittlich verbrächten Spielende rund fünf Minuten pro Spielsession und kehrten mehrfach zurück. Aus der Bank selbst und über Telefoninterviews mit Bewerberinnen und Bewerbern kamen erste positive Rückmeldungen.

Recruiting Game für Azubis von der Targobank
© Targobank

Im Azubi-Game der Targobank führt der Azubi Tim die Spielenden durch einen virtuellen Schnuppertag einer Bankfiliale. Verschiedene Aufgaben stehen an: Kunden an Gesprächstermine erinnern oder bei der Bedienung des Bankautomaten helfen. Nach getaner Arbeit gibt es ein Stück 2-D-Kuchen und den Link zum Karriereportal.

Spiele bringen Aufmerksamkeit

Transporeon konnte mit ihrem Drachenkampf nach Abschluss der Kampagne rund 150 Bewerbungen generieren. Würde das Unternehmen aus heutiger Sicht etwas anders machen? „Wir würden vermutlich eine niedrigere Schwierigkeitsstufe wählen, da waren wir ziemlich ambitioniert. Vergleichsweise wenige Nutzer haben gewonnen“, sagt Ahlers. Und noch eines gibt er zu bedenken: „Wie viele Stellen wir durch das Spiel besetzen konnten und wie weit die Personen im Recruiting-Prozess jeweils gekommen sind, ist unklar.“ Das hätte gesondert getrackt werden müssen, was technisch nicht möglich war. „Uns ging es im Endeffekt aber nicht ausschließlich darum, durch das Spiel alle vakanten Positionen zu besetzen. Vielmehr wollten wir die Aufmerksamkeit unserer Zielgruppe wecken. Und das ist uns gelungen.“

Um spielerische Elemente in den Recruiting-Prozess einzubinden, brauche es aber nicht zwingend eine Materialschlacht, erklärt Diercks. Arbeitgeber könnten so auch auf rollenspielartige Aufgabenstellungen zurückgreifen. „Bewerberinnen könnte eine typische Situation aus dem Berufsalltag geschildert werden, wie etwa eine Kundin eines Reisebüros, die plötzlich umbuchen möchte. Wie werden sie damit umgehen? Im Grunde ist das nichts anderes als eine realistische Jobvorschau und eine Art Spiel.“

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Spielen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Charleen Rethmeyer

Charleen Rethmeyer

Charleen Rethmeyer ist Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager. Dort absolvierte sie zuvor ebenfalls ihr Volontariat. Die Berlinerin hat einen Bachelorabschluss in Deutsche Literatur sowie Kunst- und Bildgeschichte und arbeitete mehrere Jahre freiberuflich für mehrere Berliner Verlage. Sie schreibt mit Vorliebe Features und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Zukunft der Arbeitswelt.

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