Brauchen wir Kündigungs­fristen?

Debatte

Angestellte sollten die Möglichkeit haben, sofort kündigen zu können. So lautet sinngemäß eine Forderung des Stepstone-Chefs Sebastian Dettmers in einem Artikel auf Business Insider. Wenn eine Person lange bei einem Arbeitgeber ausharren muss, obwohl sie woanders wirken möchte, ginge das zulasten der Produktivität. Die Schlussfolgerung: Wir bringen in einem neuen Job bessere Leistungen als in jenem, den wir hinter uns lassen wollen. Gerade die Great Resignation – also das Gefühl vieler Menschen, ihren Job zu hinterfragen und zu neuen Ufern aufbrechen zu wollen – bestärkt den Ansatz eines unkomplizierten Jobwechsels. Laut aktuellen Studien sind viele Beschäftigte längst auf dem Sprung. Die Pandemie hat den Wunsch nach beruflicher Veränderung verstärkt, vor allem in der jungen Generation.

Kämen Menschen schneller aus ihren Arbeitsverträgen, eröffnete sich für Unternehmen ein ganz anderer Talentpool. Jobinteressierte wären kurzfristig verfügbar. Was für das Recruiting spannend klingt, birgt jedoch für die Fachabteilungen eine Schattenseite. Ohne Kündigungsfristen könnten Beschäftigte von heute auf morgen ihre Expertise woanders einbringen – sie gehen also einem Arbeitsbereich umgehend verloren – und sind häufig nicht so einfach nachzubesetzen. Betriebe, die auf der Wunschliste von Talenten weiter unten stehen, geraten zudem noch stärker unter Druck. Kündigungsfristen sorgen auf Arbeitgeberseite also für mehr Planungssicherheit. In erster Linie bieten sie aber auch Beschäftigten mehr finanzielle und soziale Absicherung. Wer möchte schon von heute auf morgen den Job verlieren?

Der Human Resources Manager hat kürzlich seine Linked­in-Community gefragt, ob Kündigungsfristen beim Jobwechsel stören und ob es mehr Flexibilität bei der gesetzlichen Regelung braucht. Die dazugehörige HRM-Umfrage unter 378 Teilnehmenden zeigt: Die Mehrheit findet die Dauer der gesetzlichen Kündigungsfristen genau richtig. Dafür haben sich 58 Prozent ausgesprochen. Als zu lange betrachten sie 28 Prozent der Befragten. Lediglich 14 Prozent finden die gesetzlichen Kündigungsfristen hierzulande zu kurz. Zwar ist die Umfrage nicht repräsentativ, sie offenbart jedoch eine Tendenz: Die Mehrheit ist mit den aktuellen Regularien einverstanden – auch in Zeiten der Great Resignation.

Pro

Ich bin ein Fan von Flexibilität. Jedoch klingt dieses „weg mit den Kündigungsfristen“ eher nach klassischem Populismus. Ich kann den Gedanken verstehen. Schließlich führt der Wegfall von Kündigungsfristen zu größerem Recrui­ting-Druck und damit mutmaßlich zu mehr Investitionen. Zu wessen Vorteil? Genau! Und Hand aufs Herz: Die Kündigungsfristen sind in der Regel maximal drei bis sechs Monate. In diesem Zeitraum muss die Person eine Übergabe machen und noch Resturlaub nehmen etc. Das ist nicht zu lang, wenn es professionell gemacht werden soll. Und wenn man das Gefühl hat, dass eine Person nicht mehr motiviert ist, das Tischtuch zerschnitten ist oder aus anderen Gründen früher gehen möchte: Aufhebungsvertrag. Die Möglichkeit gibt es und sie wird regelmäßig in solchen Fällen genutzt. Darüber hinaus ist das Thema Arbeitnehmerschutz nicht außer Acht zu lassen, insbesondere außerhalb unserer White-Collar-Bubble. Also wie man es auch dreht und wendet: Nein, mich überzeugen die Argumente nicht in der Praxis.

Tim Verhoeven, Recruitment Evangelist bei Indeed
© simonthon Indeed

Tim Verhoeven, Recruitment Evangelist bei Indeed

Contra

Als Personalberater wünsche ich mir das amerikanische Employment at Will herbei, mit einem Augenzwinkern versteht sich. Als CHRO war ich früher ärgerlich über Mitarbeitende, die ihre Verträge nicht mehr einhalten und vor Ablauf der Kündigungsfrist gehen wollten. Als jemand, der selbst eine neue Stelle gefunden hat, wollte ich natürlich meine eigene Kündigungsfrist nie einhalten, um möglichst schnell zu den neuen Ufern aufzubrechen. Es kommt also auf den Blickwinkel an. Ich empfinde die häufig genutzte Frist von sechs Monaten zum Quartalsende für Angestellte und Führungskräfte in jedem Fall als zu lang. Es kann quälend sein, wenn der Arbeitgeber auf Einhaltung besteht. Irgendetwas von drei bis sechs Monaten zum Monatsende, was auch gelebte Praxis in Deutschland ist, wäre aus meiner Sicht für diesen Kreis völlig angemessen. Unternehmen, die richtig gute Personalpolitik betreiben, schlagen sich mit ungewollter Fluktuation übrigens deutlich seltener herum als viele andere. Wenn Mitarbeitende gerne bleiben, spielen Kündigungsfristen bekanntlich keine Rolle.

Udo Fichtner, Partner bei Graf Lambsdorff & Compagnie
© Fotostudio T W Klein

Udo Fichtner, Partner bei Graf Lambsdorff & Compagnie

In den Kommentaren spricht sich die HRM-Community überwiegend für Kündigungsfristen aus, wenngleich Zeiträume von mehr als sechs Monaten kritisch gesehen werden. So plädiert Antje Welzandt, Beraterin für Recrui­ting und Digitalisierung, für Kündigungsfristen, die weit unter sechs Monaten liegen. Kündigungsfristen mit sechs Monaten und länger seien nicht von Vorteil und würden eine Planungssicherheit lediglich vorgaukeln – schließlich würden Personen oftmals einfach auf ihrer Position ausharren. Die ehemalige Recruiterin hat im internationalen Kontext folgende Erfahrung gemacht: „Wo Kündigungsrechte stärker sind, ist manchmal auch der Wille für Widerspruch aus der Belegschaft stärker.“ Damit meint Welzandt, dass Angestellte dann intrinsisch motiviert mehr eigene Ideen für Verbesserungen aufbringen. In Regionen mit lockereren Kündigungsmöglichkeiten sei dies nicht der Fall.

„Ein Mindestmaß an gesetzlicher Kündigungsfrist sehe ich als wichtig an für beide Parteien: für die eine geht es um die Lebensgrundlage und für die andere um die Aufrechterhaltung betrieblicher Funktionen“, schreibt Rechtsanwältin Julia Rudolf. Arbeitgeber wüssten, dass sie auf potenzielle Beschäftigte warten müssten, und seien umgekehrt bei nicht intendierter Fluktuation vermutlich froh, nicht selbst von einem spontanen Personalwechsel betroffen zu sein. Die frühere Personalleiterin stellt fest, dass es häufig Arbeitgeber sind, die zumindest auf Teile einer langen Kündigungsfrist verzichten – eben weil eine prolongierte Zusammenarbeit für beide Seite wenig sinnvoll ist. Insofern sei jedenfalls in dieser Konstellation schon einiges an Flexibilität gegeben. Rudolf fragt, ob die Kopplung der Kündigungsfrist an die Betriebszugehörigkeit noch zeitgemäß ist und wieso Personen, die länger als andere im Betrieb sind, schützenswerter sein sollten als andere.

 

Für Carlos Frischmuth, Arbeitsmarktexperte und Autor, ist Deutschland ein Land der starken Arbeitnehmerrechte. Manche meinen, sie seien zu stark, trotz schwächer werdender Tarifbindung und abnehmendem Gewerkschaftseinfluss. Bei dem zunehmenden Arbeitskräftemangel drehe sich der Wind jedoch gerade: „Viele Arbeitgeber wären froh, wenn ihre Angestellten auf dem Sprung in den nächsten Job etwas länger blieben“, schreibt er. Die eingangs erwähnte Produktivitätsthematik hält er aus psychologischer Betrachtung für richtig: Beschäftigte, die sich nicht mehr ans Unternehmen gebunden fühlen, gehen wollen und durch lange Kündigungsfristen gehalten werden, seien sicherlich nicht auf Hochleistung unterwegs. Frischmuth merkt an, dass besonders im Mittelstand, aber auch bei größeren Unternehmen, Positionen nicht redundant besetzt sind. Könne eine neuralgische Person schnell austreten, setze eine Nachbesetzung die Organisation massiv unter Druck. Sein Fazit: Wenn beide Seiten, Arbeitgeber und Beschäftigte, einen guten Dialog führen, lässt sich über juristische Dimensionen hinaus immer eine Lösung finden.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Humor. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sven Lechtleitner, Foto: Privat

Sven Lechtleitner

Journalist
Sven Lechtleitner ist freier Wirtschaftsjournalist. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule in Berlin absolviert. Von November 2020 bis Juli 2022 war er Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager.

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