Der große Treuetest in Unternehmen

Lockangebote

Nach zwei Wochen im neuen Job können Angestellte beim Softwareentwickler Trainual 5.000 US-Dollar kassieren. Ganz einfach: indem sie kündigen. Per Onlineumfrage stellt ihr Arbeitgeber sie vor die Wahl: Wollt ihr bleiben oder gehen? Wer geht, bekommt die 5.000 Dollar. Anfangs war es die Hälfte. Doch um sicher zu sein, dass es wirkt, hat der Trainual-CEO Chris Ronzio die Summe verdoppelt. Die Idee: Wer das Geld nimmt, steht nicht hinter der Marke und wird sich nicht genug im Job engagieren. So will Ronzio nur die Talente halten, die sich mit dem Unternehmen identifizieren. Und die loswerden, die das scheinbar nicht tun.

Pay to Quit nennt sich die Strategie: zahlen, damit Mitarbeitende kündigen. Eingeführt hat sie 2008 der Onlineshop Zappos. „Clever“ fand das unter anderem Amazon-Chef Jeff Bezos, der Zappos übernahm. In einem Brief an die Aktionärinnen und Aktionäre schrieb er 2014, warum er die Strategie schätzt und kopiert: „Wenn ein Mitarbeiter an einem Ort bleibt, an dem er nicht sein will, ist das auf lange Sicht weder für ihn noch für das Unternehmen gut.“

Amazon hat das Programm inzwischen wieder eingestellt. Andere Firmen nutzen es weiter, darunter Drinks of the World, ein Getränkehandel in der Schweiz. In sechs Jahren habe noch niemand das Angebot angenommen, erzählt Geschäftsführer Stefan Müller stolz. Nach der dreimonatigen Probezeit würde er alle, die es bis dahin geschafft haben, fragen, ob sie Lust hätten, weiter für ihn zu arbeiten, oder lieber 2.000 Schweizer Franken nehmen und gehen. „Ich will nicht, dass jemand bleibt, der zweifelt“, sagt er. Ob das so funktioniert, ist unklar. 2.000 Franken sind im Vergleich zu einem Vollzeitjob nicht viel, Teilzeitkräfte bekommen nur 1.000 Franken. Es habe aber auch einen psychologischen Effekt, sagt Müller: „Mitarbeiter entscheiden sich durch diese Taktik bewusst für uns als Arbeitgeber. Das hilft, die Bindung zu erhöhen.“

Richtig durchgesetzt hat sich das Modell nicht. Vollkommen zu Recht, sagt Emine Yilmaz, Managing Director Stuttgart und Vice President Permanent Talent D/A beim Personaldienstleister Robert Half: „Die Pay-to-Quit-Strategie ist ein Treuetest. Dadurch kann Mitarbeiterloyalität sinken. Sie zeigt, dass Arbeitgeber Angestellten misstrauen.“ Wer an dem Punkt ankomme, Treue zu testen, solle sich lieber fragen, woher dieses Misstrauen kommt.

Therapie gegen Quiet Quitting

Nur ein Drittel der Führungskräfte in Deutschland vertraut ihren Mitarbeitenden von Anfang an, so eine Studie des Workforce Institute by UKG. Die Angestellten sind noch kritischer: Nur ein Fünftel glaubt, dass ihnen Vorgesetzte nach der Einarbeitungszeit vertrauen. Auch später gibt es Grund zur Sorge: Laut aktuellem Gallup Engagement Index ist die emotionale Bindung der Arbeitnehmenden an ihren Job so niedrig wie seit zehn Jahren nicht. Begriffe wie „Quiet Quitting“, die innere Kündigung, machen die Runde. Beim „Quiet Firing“ wiederum entlassen Arbeitgeber Mitarbeitende, ohne dass es auffällt, indem sie etwa den Vertrag aufheben und das nicht kommunizieren. Irgendetwas ist faul an der internen Debattenkultur.

Solange man sich auseinandersetze und eine offene Kommunikation pflege, würde es weniger Quiet Quitting geben, sagt Yilmaz: „Kommunikation ist Therapie. Der Arbeitgeber muss sicherstellen, dass er Mitarbeitende hört und sieht. Es sind Menschen. Was heute gut für sie ist, muss es morgen nicht mehr sein.“ Das können Arbeitsbedingungen sein, Themen und Zusatzleistungen, wie sie die aktuelle Gehaltsübersicht 2024 von Robert Half auflistet. Es gelte, nicht nur regelmäßig Gespräche zu führen, sondern auch in den Markt zu hören, was sich entwickele, um besser auf Mitarbeitende einzugehen, so Yilmaz.

Während der Coronakrise hat das funktioniert: Viele Unternehmen haben mit Homeoffice-Lösungen und Flexibilität Mitarbeitenden geholfen, besser mit der Krise umzugehen. Das Vertrauen in Arbeitgeber war zu dieser Zeit auf einem Hoch. Doch jetzt sollen Angestellte an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Das wirkt sich auch auf das Verhältnis aus: Die Studie State of the Workplace Empathy zeigt, dass Arbeitnehmende, die wieder ins Büro müssen, ihren Vorgesetzten weniger Empathie zusprechen und eine geringere Motivation mitbringen als diejenigen, die weiterhin zu Hause arbeiten dürfen. Laut der erwähnten Gehaltsübersicht von Robert Half sind 70 Prozent der Arbeitgeber besorgt, ob ihr Unternehmen im kommenden Jahr wichtige Mitarbeitende halten kann. Und eine Umfrage von EY sagt, dass jede Vierte beziehungsweise jeder Vierte einen neuen Job sucht. Die Wechselbereitschaft befinde sich auf einem Rekordniveau.

Es gibt Lockangebote, die genau das testen wollen. Headhunter berichten von „Mystery Calls“, mit denen sie herausfinden sollen, ob Angestellte ihren Job verlassen würden. Auch das ist eine Art Treuetest. Und er ist umstritten. Yilmaz lehnt sie ab: „Es sagt überhaupt nichts aus, wenn Mitarbeitende Interesse zeigen und sich ein Angebot anhören“, sagt sie. Neugierde sei menschlich und noch kein Grund, an Loyalität zu zweifeln.

Rechtliche Pflicht zur Treue

In der Tat haben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmende Loyalität versprochen. Nur ist das vielen nicht bewusst. Treuepflichten ergeben sich aus dem Grundsatz von „Treu und Glauben“ des Bürgerlichen Gesetzbuchs: Beide Parteien eines Vertrags müssen nicht nur Pflichten erfüllen, die im Vertrag stehen, sondern auch auf die Interessen und Rechte der Gegenseite Rücksicht nehmen. Dazu gehört beispielsweise, keine Geschäftsgeheimnisse zu verraten oder nebenbei ein Konkurrenzgewerbe aufzubauen. Kurzum: „Der Arbeitnehmer hat alles zu unterlassen, was dem Ansehen und Erfolg des Arbeitgebers abträglich sein könnte“, sagt Aziza Yakhloufi, Rechtsanwältin und Expertin für Arbeitsrecht bei Rödl und Partner.

Bekannt ist das zum Beispiel von Debatten um Whistleblowing, wenn Angestellte mögliche Missstände aufdecken und aus Sicht des Arbeitgebers gegen ihre Treuepflicht verstoßen, weil sie rechtwidrig Interna preisgeben. Mitunter steht im Arbeitsvertrag, dass es nicht erlaubt ist, über Gehälter zu sprechen. Auch das gehört zur Treuepflicht. Genau definiert sind diese „Nebenpflichten“ aber nicht. Entsprechend groß ist die Wissenslücke, die klafft. „Vielen ist nicht bewusst, dass es Treue- und Loyalitätspflichten gibt“, sagt Yakhloufi.

Inwiefern mehr Engagement und Identifikation mit dem Job zur Treuepflicht gehören, ist kritisch. Es sei mitunter eine Frage der Leistungsbeschreibung des vertraglich vereinbarten Stellenprofils und ohnehin eine Frage des Einzelfalls, erläutert Yakhloufi. Wer seinen Angestellten misstraut und fürchtet, sie könnten sich anderweitig umsehen, kann sie aber nicht einfach testen und ausspionieren. Letzteres verstößt gegen Datenschutz. Und selbst wenn eine Person auf ein Lockangebot eingeht, ist das kein Kündigungsgrund. „Die Treuepflicht findet insbesondere ihre Grenzen in den Grundrechten der Arbeitnehmer“, so Yakhloufi.

Fürsorgepflicht und Retention ­Management

Auch Arbeitgeber haben eine Treuepflicht, besser bekannt als Fürsorgepflicht. Arbeitsschutz gehört dazu. Wenn zu wenig Kommunikation krank macht, ist das aber nur schwer juristisch einklagbar: Personal- und Zielvereinbarungsgespräche sind zwar in der Regel Pflicht, doch sagt das nichts über ihre Länge und Qualität aus.

Treue zu stärken, statt zu testen, bekommt in Anbetracht des Fachkräftemangels sowieso eine neue Bedeutung: Können es sich Unternehmen leisten, Angestellte zu entlassen oder ihnen die Kündigung anzubieten, nur weil sie eventuell zweifeln? Müller sagt, er wolle niemanden aufhalten, der darüber nachdenke, zu gehen. Die Frage ist nur, ob das eine Loyalitätsfrage ist oder eine Momentaufnahme, die sich korrigieren lässt. Um Personal zu binden, gibt es eine eigene Strategie: das Retention Management.

Retention Management meint Maßnahmen, die helfen, Mitarbeitende zu halten. Das können Geldprämien sein, nur in diesem Fall eben als Boni für alle, die bleiben. ­Wirklich effektiv sind Fortbildungen und Investitionen in die Unternehmenskultur: Laut der Internet-Plattform Glassdoor wären 80 Prozent der Büroangestellten motivierter, mehr zu arbeiten und länger bei einem Arbeitgeber zu bleiben, wenn sie sich wertgeschätzt fühlen. Die Beschäftigungswebsite Monster hat Arbeitnehmende befragt und herausgefunden, dass knapp die Hälfte mit größerer Wahrscheinlichkeit im aktuellen Job bleiben würde, wenn die Möglichkeit bestünde, sich fortzubilden und weiterzuentwickeln. „Bilde Menschen gut genug aus, so dass sie gehen können. Aber behandle sie gut genug, so dass sie es nicht wollen“, hat der britische Unternehmer Richard Branson gesagt.

Auch Amazon orientiert sich heute stärker an dieser Strategie: Das Unternehmen sei sehr an langfristigen Arbeitsbeziehungen interessiert und investiere in die Aus- und Weiterbildung seiner Mitarbeitenden, so ein Sprecher. Auch wenn das Logistiknetzwerk wachse und neue Kräfte brauche, könne das bedeuten, dass Mitarbeitende aus der Logistik in einen anderen Beruf wechseln. Sie machen das aber unternehmensintern. Für mehr Treue und Loyalität am Arbeitsplatz scheint sich nach „Pay to Quit“ also ein anderes Motto mehr zu rentieren: „Invest to Stay.“

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Treue. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Mirjam Stegherr

Freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin
Mirjam Stegherr ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin.

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