Was Führungskräfte von Sokrates lernen können

Fragende Führung

Es endete nicht gut für ihn: Mit 70 Jahren starb So­krates durch den Schierlingsbecher. Das Gericht hatte ihn zum Tode verurteilt. Grund für die Giftstrafe war, was ihn als Philosophen unsterblich gemacht hat: sein Redetalent. Mit Fragen verwickelt er Gesprächspartner in einen Dialog, sodass sie Wissen „gebärten“. Sokrates hat keine Schriften hinterlassen, aber seinen Schüler Platon. Er hat diese Fragetechnik „Mäeutik“ genannt, Hebammenkunst, nach dem Beruf von Sokrates‘ Mutter. Was den Gerichten damals als Verführung galt, erlebt über 2.400 Jahre später eine Renaissance. Denn die Mäeutik kann helfen, eine gute Führungskraft zu sein.

Viele Unternehmen stecken in einer Falle. Sie entwickeln sich nicht, weil sich die Menschen, die für sie arbeiten, zu wenig engagieren. „Passiv-aggressive Starre“ nennt das die Beratung Booz Allen Hamilton in einer weltweit durchgeführten Umfrage aus dem Jahr 2005. Mehr als ein Viertel der Unternehmen leide darunter. Was ist seitdem passiert? Gallup diagnostiziert regelmäßig im Engagement Index, dass sich viele Beschäftigte in die innere Kündigung zurückziehen. Der Begriff „Quiet Quitting“, der aktuell in den sozialen Netzwerken kursiert, zeigt deutlich: Es sieht heute nicht besser aus, im Gegenteil.

Kündigen, um wieder aktiv zu sein

„Meine Forschung und Beratungspraxis zeigt klar: Die Pandemie hat die Unzufriedenheit verstärkt, sodass immer mehr Mitarbeitende ihre Unternehmen verlassen wollen, in denen sie sich nicht einbringen können“, sagt Lena Marie Glaser. Sie ist Arbeitsforscherin, Beraterin und Autorin von Arbeit auf Augenhöhe. Menschen wollten sich engagieren, es werde ihnen aber nicht leicht gemacht. Ganz abgesehen davon, dass Unternehmen nicht profitieren, wenn das Engagement gering ist, können sie sich Kündigungen von Fachkräften nicht erlauben. Denn Personal ist knapp. Und Rekrutierung kostet. Ausgehend vom Vorstand bis zu den Führungskräften und Mitarbeitenden braucht es laut Glaser eine sichtbare Kultur, bei der Empathie und Dialog im Mittelpunkt stehen.

„Wir haben ein anderes Führungsverständnis als früher“, sagt Stephan Limpächer, freiberuflicher Coach und Führungskraft beim Automobilunternehmen Mercedes-Benz. „Führungskräfte sind nicht intelligenter als ihre Teammitglieder. Sie wissen nicht automatisch, wie alle Probleme zu lösen sind, sondern sind ganz im sokratischen Sinne Geburtshelfer, die ihre Expertinnen und Experten im Team unterstützen, die richtige Lösung zu erarbeiten.“

Gerade in einer Welt, die sich im Eiltempo ändert, scheint es klar, dass Führungskräfte nicht allwissend sind. Allerdings hat sich genau dieses Bild verfestigt. Noch immer stehen auf vielen Blogs und Fachmedien Entscheidungssicherheit und Selbstbewusstsein als Charaktereigenschaft einer guten Führungskraft. Viele hätten die Idee, dass sie möglichst oft Entscheidungen fällen müssten, um als Vorgesetzte kompetent zu sein, sagt Limpächer. Er plädiert für etwas anderes: „Wir sollten uns häufiger raushalten. Nur wenn Mitarbeitende in einem Dilemma stecken, weil ihnen der Überblick fehlt und wir eine andere Perspektive bieten, sollten wir im Dialog eine gemeinsame Entscheidung fällen.“

Für den Dialog bräuchten Führungskräfte Coaching-­Kompetenz. Limpächer hat deswegen einen internen Coaching-Pool aufgebaut, um Führungskräfte zu sensibilisieren. Viele Firmen möchten laut ihrer Leadership-Prinzipien eine lernende Organisation sein. Über Fragenstellen oder gar Mäeutik steht da nichts, dafür jedoch etwas über Feedback und Co-Kreation. Limpächer sagt, dass es darum gehe, einen gemeinsamen Lernraum aufzuspannen: „Zwei Nicht-Wissende versuchen gemeinsam, aus unterschiedlichen Perspektiven, einen Erkenntnisgewinn herzustellen und dadurch wirksamer und erfolgreicher zu sein.“ Das passt zum Zitat des Philosophen Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Denn genau das ist die Grundhaltung, aus der Wissen und Fortschritt entstehen soll, weil sich Ansichten und Wahrheiten ohnehin permanent ändern.

Sich infrage stellen

Ein Unternehmen ist keine neutrale Plattform und auch kein wahrheitssuchender Philosoph, der nach Wahrheit sucht. Es hat Strategien und Positionen, die oft in einem Leitbild festgehalten werden, nicht in einem Fragenkatalog. Auch Führungskräfte sollten sagen, wo sie stehen und was sie erreichen wollen, sagt Limpächer: „Die Frage ist nur, wie sie damit umgehen und wie es Unternehmen gelingt, ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen einzuladen, sich kritisch mit der Position und Strategie auseinanderzusetzen.“

Es gibt Methoden, um diese Kritik einzuholen. Den Gemba-Walk zum Beispiel, bei dem das Management regelmäßig zum eigentlichen Ort – japanisch „gemba“ – geht, das bedeutet in die Büros oder Produktion, um mit den Menschen dort über ihre Arbeit und Probleme zu reden. In erster Linie aber sei es eine Frage von Vertrauen und Kultur, sagt Arbeitsforscherin Glaser. Und da gebe es noch einiges zu tun: „Die meisten Führungskräfte sind so sozialisiert, dass sie keine Dialoge führen, sondern von oben herab Vorgaben diktieren. Wir brauchen eine Kultur der Arbeit auf Augenhöhe, in der sich Mitarbeitende ernst genommen fühlen, sodass sie sich wieder engagieren und auf den Dialog einlassen.“

Was Kindern noch selbstverständlich erscheint und in der Sesamstraße besungen wird („Wer nicht fragt, bleibt dumm“), hat sich in der Arbeitswelt in Luft aufgelöst. „Fragen spielen in Organisationen eine unterentwickelte Rolle“, sagt auch Andreas Patrzek. Er hat Questicon, ein Institut für Fragekompetenz, gegründet, analysiert in zahlreichen Texten, was gute Fragen sind, und trainiert seit über 25 Jahren Menschen in Unternehmen in der Gesprächsführung. Das Problem liege im System, sagt er: „Wir leben in einer Welt des Sich-Zeigens statt des Sich-Fragens. Aussagen stabilisieren und geben Sicherheit. Gute Fragen hingegen gehen immer mit der Unsicherheit einher, dass man sich getäuscht haben könnte und etwas ganz Neues erfährt.“

Drei Tipps für fragende Führung

  1. Fragen, die sich mit Ja oder Nein oder mit A oder B beantworten lassen, engen Gespräche ein und geben dem Gegenüber nicht so viele Möglichkeiten, eigene Antworten zu formulieren und über eine Frage wirklich nachzudenken.
  2. Zu viele Fragen können verwirren und wie ein Verhör wirken. Es ist gut, ein Gesprächsziel vor Augen zu haben und dafür ausgesuchte Fragen parat zu haben, bei denen man im Zweifel nachhaken kann, um zu einer ehrlichen Antwort vorzudringen.
  3. Zeit ist knapp, aber wer die Zeit in ein Gespräch investiert, sollte versuchen, möglichst Druck rauszunehmen und lieber einzelnen Fragen den Raum zu geben sowie Pausen auszuhalten, die entstehen, wenn wir Dinge ernsthaft reflektieren.

Nicht nur Antworten, auch Fragen brauchen also Mut. Vorgesetzte haben oftmals Angst, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie ihr Handeln infrage stellen. Es klingt zwar gut, ein lernendes System zu sein, aber die Umsetzung ist schwer. Wer Platon liest, wird feststellen, dass auch Sokrates zielorientiert fragte. Manche Antworten scheinen ihm längst klar, er lenkt sein Gegenüber geschickt mit Fragen dorthin. Diese Technik kann helfen, Zuhörende einzubinden und Aufmerksamkeit zu generieren. Im schlimmsten Fall kann eine rhetorische oder suggestive Frage jedoch manipulieren. Limpächer findet solche Fragen entsprechend unethisch. Als Coach und Führungskraft lehnt er sie ab. „Wir manipulieren immer, das lässt sich nicht vermeiden. Lächeln, Haltung und Stimme: Das hat Einfluss auf ein Gespräch. Ein guter Coach aber versucht, sich selbst auf die Schliche zu kommen und Ergebnisse so wenig wie möglich zu lenken“, sagt Patrzek. Das einzige Ziel eines Coaching-Gesprächs sei es, den Dialog zu garantieren. Genau das unterscheidet Coaching von Führung: Führungskräfte haben Ziele, die sich am Unternehmenserfolg orientieren. Es ist ihre Aufgabe, sicherzustellen, dass Teammitglieder ihren Teil dazu beitragen. „Führungskräfte müssen Erfolg haben und gleichzeitig die Belange des Zwischenmenschlichen im Auge behalten“, sagt Patrzek. Alles andere sei eine grenzenlose Überforderung.

Statt sich in kurzen Seminaren Fragetechniken anzutrainieren, zielt Fragekompetenz auf die richtige Haltung. „Das Motivierendste für Mitarbeitende ist es, wenn eine Führungskraft sich ernsthaft für sie interessiert. Menschen wollen gesehen werden“, sagt Patrzek. Dafür müssten Führungskräfte höchstens üben, einmal nichts zu sagen, und Pausen aushalten, die entstehen, wenn sie andere fragen, wie es ihnen geht. Und sie müssten mutige Antworten anerkennen, die sie herausfordern, und sich die Zeit nehmen, darüber nachzudenken.

Genau das ist das Problem. Denn Zeit ist Mangelware. Die Hälfte der Arbeitnehmenden fühlt sich im Job gehetzt, zeigt eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Vorgesetzte sollten mehr Ruhe reinbringen. Zeit zu investieren, zahle sich aus, sagt Limpächer: „Mittel- und langfristig steigert systemisches Fragen den Erfolg. Im Idealfall führen Mitarbeitende am Ende einen inneren Dialog. Das entlastet Führung und gibt ihr mehr Freiraum für Strategien.“

Führungskräfte müssten sich weiterbilden und soziale Kompetenzen entwickeln, sagt auch Glaser. Der Druck liege in vielen Konzernen gerade auf dem mittleren Management, das wachsende Ansprüche vom Team und der Geschäftsführung erlebe. Darum brauche Führung Freiräume mit weniger operativen Aufgaben und administrativer Last, um den Ansprüchen gerade der jungen Generation gerecht zu werden. Glaser betont, dass die Rolle der Führungskraft als Coachin neu gedacht werden müsse und wie wichtig es sei, dass Vorstand und Personalabteilung den Wert zeigen, den es hat, in neue Kompetenzen zu investieren. Denn die Zeiten ändern sich. Oder wie es ein anderer großer Philosoph der Antike formuliert, nämlich Heraklit: „Nichts ist so beständig wie der Wandel.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Mirjam Stegherr, Journalistin, Moderatorin und Beraterin

Mirjam Stegherr

Freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin
Mirjam Stegherr ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin.

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