Der Innovationstreiber

Porträt

Mit zwei Smartphones in den Händen sitzt Thomas Sattelberger am Schreibtisch in einem seiner beiden Büros in Berlin. „Schon voll im Staatssekretär-Modus! 2 Handys, 2 Büros & ein explodierender Terminkalender. Let’s do it!“, kommentiert er diesen Schnappschuss auf Twitter und Linkedin zum Amtsantritt. Die beiden Telefone braucht er, das zweite Büro auch. Alles muss strikt getrennt sein zwischen seiner Abgeordnetentätigkeit im Bundestag und dem Amt als Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Im Deutschen Bundestag ist er seit 2017 Mitglied, den Spitzenposten bei der Behörde hat er seit Dezember 2021 inne. Als das Foto seines ersten Amtstages in den sozialen Netzwerken die Runde macht, kommentieren manche die Unterschriftenmappe, die voller Dokumente in der Mitte des Schreibtisches liegt. Ein Widerspruch zwischen analogem Behördenalltag und dem Digitalversprechen, das sich seine Partei, die FDP, auf die Fahnen geschrieben hat. Kritik gehört zur politischen Arbeit dazu.

Verschlossenheit gegenüber der digitalen Welt kann man Sattelberger jedenfalls nicht unterstellen. Der 72-Jährige hat unter anderem ein Profil auf der Videoplattform Tiktok mit rund 150.000 Followern und teilt kurze Videoclips zu seinem Politikerdasein. Zu Beginn der Pandemie führte er auf Youtube ein Videotagebuch über seine Coronainfektion und den Krankheitsverlauf; digitale Medienarbeit zwischen Aufklärung und Unterhaltung sozusagen.

Trotz der Trennung zwischen Partei- und Fraktionsarbeit sowie ministerieller Arbeit kann eines kaum separat koordiniert werden: die Termine in seinem Kalender. Eine Herausforderung für ihn und sein Team. Die Zeitplanung sei fast wie zu seiner Zeit als Dax-Vorstand bei der Telekom. Als Abgeordneter folgt er bestimmten Routinen: montags Bürotag, dienstags Fraktionstag, mittwochs ein halber Ple­nartag, donnerstags und freitags ein ganzer. Mit dem Amt des Staatssekretärs haben sich Kommunikation und Termine vervielfacht. An Arbeitstagen ist der Politiker schon mal von 7:00 Uhr morgens bis abends 20:30 Uhr durchweg in Videokonferenzen, ohne Pausen für Frühstück und Mittagessen. Am Tag des Gesprächs für dieses Porträt klingelte nachts um 2:30 Uhr sein Wecker, bis 5:00 Uhr hat er gearbeitet, sich dann fertig gemacht und ist zum Flughafen gefahren. Der Flieger von München nach Berlin ging um 7:00 Uhr. „Work-Life-Balance ist ein Konzept für Menschen, die ihre Arbeit als nicht sinnvoll empfinden“, sagt Sattelberger. Bei ihm vermische sich Privates und Berufliches. Über Fragen der Balance macht er sich keine Gedanken.

Nach der Vorstandskarriere schlägt Thomas Sattelberger einen politischen Weg ein – und ist beschäftigter als je zuvor. Über Unruhe im Ruhestand, die Magie der Transformation und das Verständnis von Personalarbeit
Thomas Sattelberger © Bundestagsbüro Beatrice Kaps

Mit 72 Jahren übernimmt Thomas Sattelberger einen Spitzenposten beim Bundesministerium für Bildung und Forschung – und hantiert zum Amtsantritt mit zwei Telefonen und einem übervollen Terminkalender.

Quereinstieg in die Politik

Nach dem Karriereende als Personalvorstand und Arbeitsdirektor, zuletzt bei der Telekom, ging es für den Diplom-Betriebswirt in den Unruhestand, wie er es nennt. Sattelberger übte einige Aufsichtsratsmandate aus, wirkte aktiv bei nationalen Initiativen wie MINT Zukunft schaffen mit, die sich für die Ausweitung von MINT-Qualifikationen einsetzt. Erfüllt haben ihn diese Aufgaben allerdings nicht. „Im zarten Alter von 66 Jahren musste ich feststellen, dass man dort zwar lernt, Schiffchen auf dem See zu steuern, es aber etwas anderes ist, noch einmal eine gehaltvolle Aufgabe zu haben“, sagt Sattelberger. So hat er als später Quereinsteiger den Weg in die Politik eingeschlagen und ist über die bayerische FDP-Landesliste auf Platz fünf in den Bundestag gezogen. Schließlich folgte die Möglichkeit, noch einmal eine gestalterische Aufgabe zu übernehmen – für das Bildungs- und Forschungsministerin. Die Bildungsthemen im Ministerium betreut sein Kollege Jens Brandenburg. Thomas Sattelberger ist für Forschung und Innovation zuständig. Bereits für die FDP-Fraktion war er unter anderem Sprecher für Innovation, Bildung und Forschung. Die Transformationsthematik packe ihn seit jeher, auch schon während seiner Arbeit als Personalvorstand. Ob Organisationsentwicklung, Culture Change oder jetzt eben die Transformation: „Es sind die Pionieraufgaben, die ich spannend finde“, sagt Sattelberger. Klassische Personalarbeit habe er nie gemacht. Es sei immer HR-Arbeit für Fusions-, Privatisierungs-, Sanierungs- oder Globalisierungsprozesse gewesen. Die Transformation habe ihn wie magisch angezogen.

Im Fokus seines politischen Wirkens steht die Innovationskraft, gerade im Mittelstand. Der Münchner sagt, dass die Zahl der Produkte- und Serviceinnovationen zurückgehe. Gleiches gilt für Ausgründungen und Gründungen von Unternehmen. Diese seien fast auf einem historischen Tiefstand. Dabei bezieht er sich insbesondere auf den Deep-Tech-Bereich, also disruptive Innovationen und Technologien. Abgesehen vom Biotechnologieunternehmen Biontech hat Deutschland kaum was vorzuweisen: „Seit der Einführung des MP3-Verfahrens haben wir hierzulande nicht mehr viel hinbekommen“, sagt Sattelberger. Im Vergleich zu Schweden, Kanada oder den USA ringt Deutschland um den Anschluss. Aus seiner Sicht braucht es mehr Deep-Tech-Mittelstand, vor allem in den Bereichen Biotechnologie, künstliche Intelligenz, Raumfahrt und Klima-Tech. Schlüsselthemen dafür sind für ihn das Wissenschafts- und Forschungssystem, aber ebenso Industriekooperationen und forschungsintensive Firmenausgründungen. Seine jetzige Arbeit vergleicht er mit den Aufgaben, die er als Personalvorstand anging, nur dass er nun noch wirkungsvoller agiere: „Am Schluss ist es statt einer Vorstandsvorlage eine Gesetzesvorlage, nur eben im Makrosystem.“

Innovationsfähigkeit von HR

Wie steht es um die Personalarbeit in Sachen Innovationsfähigkeit? Schließlich wirken Personalverantwortliche mit ihren Strategien maßgeblich ein auf Talente, deren Gewinnung und Entfaltung am Arbeitsplatz. Für Sattelberger geht es zunächst darum, selbst zu verstehen, was Innovationsfähigkeit in eigenen Unternehmen überhaupt bedeutet. HR-Verantwortliche könnten oftmals Fragen nach dem Umsatz von High-Tech- oder Deep-Tech-Produkten nicht beantworten, geschweige denn die Entwicklung der letzten Jahre nennen. Außerdem hält er die Diversity-Debatte in vielen Unternehmen für viel zu moralisch getrieben. Man habe noch nicht verstanden, dass Diversität ein Innovationsthema sei, besonders bei der Karrierepolitik oder in Ausbildungsfeldern. „In einer Welt, in der neue Geschäftssysteme über die Grenzen traditioneller Branchen gehen, braucht es eine diverse Branchenkompetenz – nicht für alles und jede Funktion, aber bei wichtigen Schlüsselpositionen“, sagt Sattelberger. Weiter hält er das Bild, das viele von Transformation haben, für überromantisch. Denn die Transformation von Geschäftsmodellen bedeute: Man kannibalisiert sein altes Geschäft, investiert in neue Themen und durchläuft einen schmerzhaften Prozess. Transformation sei nicht nur New Work oder Innovations-Bohei.

Das erfordert mehr als nur den Blick auf sich selbst. Sein Kritikpunkt an dem Selbstverständnis von HR: Die Personalarbeit ist zu eng auf den einzelnen Betrieb ausgerichtet statt auf die Region oder die gesellschaftlichen Entwicklungen. Er bezeichnet das als „Organisationsautismus“. Als Beispiel nennt er die Frauenquote, die er damals vor allen anderen Dax-Konzernen bei der Telekom einführte. Die Hoffnung seinerzeit: Die anderen Unternehmen ziehen nach und entscheiden für sich, wie sie es umsetzen. Denn die Alternative war, dass die Politik es per Gesetz für alle verhängt. Aus seiner Sicht arbeitet HR eher konservierend und stabilitätsorientiert, wenig innovationsorientiert. Sein Eindruck: Personalabteilungen schieben Veränderungen oft ab und sie skalieren sich selbst nicht. Und: „HR ist hochgradig anfällig für Modewellen“, sagt Sattelberger. „You name it, und die Personaler sind die Ersten, die draufhüpfen.“ Damit meint er insbesondere neue Bezeichnungen von HR-Abteilungen, Arbeitsweisen und Organisationsmodellen. Es herrsche eine gewisse Blauäugigkeit, auf jede Modewelle einzugehen.

Ehrlichkeit und Gerechtigkeit

Thomas Sattelberger gehört zu den Menschen, die Autoritäten hinterfragen. Das zeigt sich nicht nur in seiner politischen Tätigkeit, sondern ebenso während seiner HR-Laufbahn. So scheute er schon zu Beginn seiner Karriere nicht den Konflikt mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden bei Daimler-Benz Jürgen Schrempp. Eine Auseinandersetzung über Ehrlichkeit. „Er hat sich und andere belogen – und das habe ich adressiert“, erinnert sich Sattelberger. Ehrlichkeit hat für ihn einerseits eine strategische Komponente, um zu wissen, wo man als Unternehmen steht, andererseits eine moralische Komponente, dass man sich und andere nicht belügt. Nicht in allen Situationen empfindet sich Sattelberger rückblickend als mutig. Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit bei Continental spricht er von „blinder Loyalität“. Bei dem Unternehmen hatte er eine Fabrik geschlossen. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht lief alles richtig. Aber als daraus eine Kommunikations- und Reputationskrise resultierte, erkannte er, dass seine betriebswirtschaftliche Betrachtung zu dogmatisch gewesen ist. Über Monate traute er sich nicht, den gemeinsamen Vorstandsbeschluss im Vorstand zur Diskussion zu stellen. Die Sorge: Vertrauens­entzug durch den Vorstandsvorsitzenden und Jobverlust auf hohem Niveau. Schließlich machte Sattelberger sich Luft und suchte die Aussprache. „Am Ende brauchte es Mut, aber vorher war eine kräftige Portion Feigheit da“, sagt der 72-Jährige. Die Sorge, er könne seinen Job verlieren, spielt heute keine Rolle mehr. Dennoch gehört für ihn bei einer Spitzenposition eine ständige Risikoabwägung dazu. Doch er zieht nicht mehr in jede Schlacht, sondern sucht sich die Schlachtfelder aus. Er geht alles etwas ruhiger als früher an, bis die Grenze erreicht ist, wo es um unverrückbare Werte geht: Gerechtigkeit und Ehrlichkeit.

Was kritische Stimmen über Sattelberger sagen, kümmert ihn kaum. Dabei ist das Feedback als Politiker schier grenzenlos – positiv wie negativ. Das macht er mit sich selbst aus. „Bei der Telekom haben die Gewerkschaften Schmutzkübel über mich ausgeschüttet – und ich habe gut überlebt“, sagt er. Seine Resilienz habe sich über die Jahrzehnte verstärkt. Ein Wendepunkt in Sattelbergers Leben war seine politische Abkehr vor 53 Jahren vom antiautoritären Links und der Studentenbewegung APO. Ein weiterer: die Auseinandersetzung mit dem Daimler-Chef. „So schlimm es für mich war, meine geliebte Daimler-Benz AG zu verlassen, so wunderbar war die Freiheit, die ich dadurch bekommen habe“, sagt er. Diese Entscheidung habe ihn sehr geprägt. Und sie hat ihn gelehrt, dass in dem Schmerz des Gehens die Chance einer ganz neuen Zukunft liegt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Selbstverständnis. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sven Lechtleitner, Foto: Privat

Sven Lechtleitner

Journalist
Sven Lechtleitner ist freier Wirtschaftsjournalist. Er hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg sowie ein Fernstudium Journalismus an der Freien Journalistenschule in Berlin absolviert. Von November 2020 bis Juli 2022 war er Chefredakteur des Magazins Human Resources Manager.

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