In der Arbeits- und Geschäftswelt wird gerne mit dem großen Wort Vertrauen geworben. Wie hat sich dieses Gefühlsdiktat in unsere Gegenwart eingeschlichen? Die Historikerin Ute Frevert widmet sich in ihrer Publikation „Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne“ der Konjunktur dieses Begriffs. Eine aktuelle Vertrauenskrise vermag sie nicht zu erkennen. Vielmehr wundert sie sich über fehlendes Misstrauen.
Warum bezeichnen Sie Vertrauen als „Obsession der Moderne“?
Weil die Moderne, also die Zeit seit etwa 1800, Vertrauen zu einem ihrer Zentralbegriffe gemacht hat – alles dreht sich um Vertrauen, selbst dort, wo Vertrauen gar nicht hinpasst.
Wo passt die Verwendung des Begriffs denn nicht?
Im alltäglichen Sprachgebrauch wenden wir den Begriff auch dort an, wo er vor zweihundert Jahren nicht hingehörte, nämlich bezogen auf systemische Verhältnisse und Institutionen. Man vertraut, heißt es, der Demokratie, der Deutschen Bahn, dem Bundesverfassungsgericht – oder, noch allgemeiner und abstrakter, dem Geld als Tausch- und Zahlungsmittel.
+++ Dieses Interview ist zuerst in unserem Magazin Human Resources Manager erschienen. Eine Übersicht der Ausgaben erhalten Sie hier.+++
Wie ist die veränderte Anwendung des Begriffs zu erklären?
Dass man früher eher von Vertrauen zu Personen gesprochen hat und heute eher oder zumindest sehr häufig von Vertrauen in Institutionen, lässt sich dadurch erklären, dass Institutionen in unserer Zeit „vertrauenswürdig“ geworden sind, das heißt stabil, regelgeleitet und verantwortlich agierend. In jedem Fall geht es um die Erwartung, dass unser Interesse an persönlicher „Sicherheit und Wohlfahrt“ bei diesen Institutionen in guten Händen liegt und nicht externen Interessen untergeordnet wird.
Wann ist der Begriff überhaupt in Mode gekommen?
Wir finden ihn als Nomen seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts; anschließend ist er in alle Lebensbereiche, von der Familie bis zur Politik, eingedrungen. Eine absolute Hausse erlebt er seit den 1990er Jahren.
Sicherheit und Wohlfahrt
Was verstehen Sie unter Vertrauen?
Ich zitiere gern eine Definition aus dem 18. Jahrhundert: Vertrauen hat in sozialen Beziehungen seinen Ort, in denen der Vertrauensgeber davon ausgehen kann, dass ihm der Vertrauensnehmer prinzipiell wohlwollend gegenübersteht und an seiner „Sicherheit und Wohlfahrt“ interessiert ist. Vertrauen existiert also zwischen Personen und schließt die Erwartung ein, dass derjenige, dem ich vertraue und dem ich etwas Wichtiges anvertraue, wie ein Geheimnis, Geld, meine Gesundheit, meine Kinder, meine politischen Interessen und so weiter, damit so umgeht, dass er mich nicht enttäuscht.
Wem schenken wir Vertrauen?
In der Regel vertrauen wir eher Personen, die wir schon einigermaßen kennen, denn wir haben uns bereits ein Bild ihrer Vertrauenswürdigkeit gemacht. Fremden vertrauen wir dann, wenn sie uns in irgendeinem Punkt ähnlich scheinen. „Wildfremden“ Personen zu vertrauen, von denen wir nichts wissen, fällt ungemein schwer – und ist auch nur dann empfehlenswert, wenn wir überhaupt keine Handlungsalternative haben. Misstrauisch sollten wir denen gegenüber sein, die offensiv um unser Vertrauen werben.
Um Vertrauen wird immer gerungen
Es wird häufig von der Krise des Vertrauens gesprochen. Befinden wir uns gegenwärtig wirklich in einer gesellschaftlichen Vertrauenskrise?
Um Vertrauen wird immer gerungen, denn es ist eine dynamische Größe. Es wird geschenkt, aber auch entzogen. Der- oder dasjenige, dem man es schenkt, wird auf seine Vertrauenswürdigkeit geprüft. Es wird stets weiter beobachtet, ob das Vertrauen auch gerechtfertigt ist. Das ist ja der große – und für die Moderne so attraktive – Unterschied zur Treue: Ein Treueverhältnis existiert, zumindest vom Konzept her, ewiglich und wird auch nicht infrage gestellt. Vertrauen dagegen ist per se an Bedingungen geknüpft, die sich ändern können. Von daher ist die Krise ihm geradezu eingeschrieben. Eine „gesellschaftliche Vertrauenskrise“ vermag ich darüber hinaus nicht zu erkennen, denn das würde bedeuten, all unsere Institutionen infrage und unter Verdacht zu stellen. Das passiert aber nicht, wir bringen unser Geld ja nach wie vor auf die Bank, ziehen vor Gericht – und kaufen sogar weiter Autos, deren Hersteller Vertrauen in einem Maße verspielt haben, wie das noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.
Wie hat sich unser Verhältnis zum Vertrauen vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Big Data verändert?
Erstaunlich wenig – wenn man bedenkt, wie viele Menschen mittlerweile online ihre Bankgeschäfte abwickeln, einkaufen und ihre Daten unbekümmert ins Netz stellen. Hier wäre mehr Misstrauen angebracht, und ich hätte es eigentlich auch erwartet.
Warum?
Auch Vertrauen in Institutionen wie Banken oder Unternehmen ist ja traditionell gesichtsabhängig, das heißt, ich vertraue genau genommen nicht der Bank, sondern meinem Bankberater, den ich schon kenne und der mich bislang anständig behandelt hat. Diese Gesichtsabhängigkeit entfällt in der digitalen Welt. Warum man sich trotzdem so vertrauensvoll darin bewegt, hat vermutlich damit zu tun, dass sie so fantastisch schnell und bequem funktioniert. Wir sparen Zeit – und verzichten deshalb auf unser eigentlich gesundes Misstrauen.
„Jede Vertrauensbeziehung wird durch inkonsistentes, unfaires, erratisches Verhalten getrübt.“
Welche Unterschiede gibt es zwischen privatem und geschäftlichem Vertrauen?
Privates Vertrauen kennt höhere moralische Erwartungen und Hürden; wird es enttäuscht, sind wir in unserer ganzen Persona getroffen und verletzt. Vertrauen in Geschäftspartner oder Anbieter von Dienstleistungen ist „dünner“ und hängt moralisch tiefer. Erweist es sich als unbegründet, sind wir ärgerlich, aber liegen nicht am Boden.
Kann oder sollte man dem Unternehmen, für das man arbeitet, Vertrauen schenken?
Man sollte prüfen, ob das Unternehmen die Regeln, die es für sich aufstellt und die man selbst mittragen kann, auch tatsächlich einhält. Das heißt nicht, dass man permanent misstrauisch sein soll. Aber wenn es Grund für Misstrauen gibt, wäre es besser, sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen.
Wie wird Vertrauen im Arbeitskontext erschüttert und wie kann es zurückgewonnen werden?
Jede Vertrauensbeziehung wird durch inkonsistentes, unfaires, erratisches Verhalten getrübt beziehungsweise unterminiert. Das trifft vor allem auf Vorgesetzte zu – sie spielen sozusagen die Musik, geben den Ton an, der auch unter den Kolleginnen und Kollegen resoniert und weitergetragen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass jede nicht nachvollziehbare oder als ungerecht empfundene Entscheidung des Chefs oder der Chefin das Vertrauen ein für alle Mal untergräbt. Wichtig ist in diesem Falle Transparenz: Man sollte darüber das Gespräch suchen, und Chefs sollten ihr Verhalten reflektieren, erklären und, wenn es nottut, auch bedauern.
Menschen sind soziale Wesen
Warum sehnen sich Menschen überhaupt danach, in eigentlich sachlichen Beziehungen, wie denen zum Arbeitgeber oder zum Angestellten, eine vertrauensvolle Beziehung zu pflegen? Schließlich sind Ergebnisse eines vertrauensvollen Umgangs, so wie die Geheimhaltung geschäftlicher Informationen, ohnehin vertraglich geregelt.
Menschen sind soziale Wesen, sie brauchen einander. Es gibt nur sehr wenige Berufe, in denen die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz völlig egal sind – Trader sind dafür ein rares Beispiel. Darüber hinaus machen wir die Erfahrung, dass Freundlichkeit, Respekt und Umsicht das Arbeitsleben sehr viel angenehmer machen. Das muss noch nicht „dickes“ Vertrauen sein ‒ das belastet die Arbeitsatmosphäre eher. Denn es führt zu einer Gemeinschaftsrhetorik, der die Realität kaum je standhalten kann. „Dünnes“ Vertrauen – darin, dass alle die Regeln einhalten und sich nicht unfair verhalten – reicht grundsätzlich aus.
Welchen Unterschied gibt es zwischen dem allgemeinen Vertrauen und dem sogenannten Urvertrauen?
Das sogenannte Urvertrauen ist eine Konstruktion aus den 1950er Jahren; Psychoanalytiker haben es damals in der Beziehung zwischen Mutter und Säugling diagnostiziert. Das Baby entwickelt, so hieß es, durch die Interaktion mit der immer präsenten Mutter das Vertrauen, dass jemand für seine Bedürfnisse sorgt und es nicht allein lässt. Werde diese Erwartung getäuscht, könne das Kind auch im Erwachsenenalter kein Weltvertrauen entwickeln. Heute sieht man das anders, weniger dramatisch. Erstens interagieren nicht nur Mütter mit Babys, sondern auch Väter, Großeltern, Geschwister und viele mehr. Zweitens ist, wie psychologische Studien erhellen, früh enttäuschtes Vertrauen auch wieder reparabel. Aber in jedem Fall gilt, dass familiale Beziehungen für die Art und Weise, wie ein Mensch Vertrauen lernt und in die Welt trägt, von zentraler Bedeutung sind.
Was passiert, wenn Vertrauen entzogen wird? Kommt es automatisch zum Misstrauen?
Vertrauen ist dynamisch und kennt zwischen „dick“ und „dünn“ zahlreiche Abstufungen. Aber wenn jemand mein Vertrauen enttäuscht hat, bin ich in der Regel nicht an einer Fortsetzung der Beziehung – sei sie privat oder geschäftlich – interessiert. Oder ich reduziere meine Erwartungen so, dass mich auch eine weitere Enttäuschung nicht aus dem Gleichgewicht bringt.
Ute Frevert istist Historikerin und Direktorin des Forschungsbereichs „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Sie ist unter anderem Autorin des Buchs „Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne“ (2013), in dem sie der Geschichte des Vertrauensbegriffs nachgeht und dessen inflationärer Verwendung in der heutigen Zeit kritisch als „V-Waffe“ bezeichnet.