Alle Welt redet von der Work-Life-Balance. Dass der Begriff an sich schon in die Irre führt, nimmt ihm nicht die gesellschaftliche Relevanz. Ausgeglichenheit in allen Lebensbereichen bleibt das Credo der Gegenwart. Wie gelingt eigentlich Frauen, die weder auf Kind noch Karriere verzichten wollen, die Sache mit der Balance?
Wenn Frauke Grotjahn um 16 Uhr das Büro verlässt, ist sie bei weitem nicht die Einzige, die um diese Uhrzeit die Segel streicht. „Das ist ein regelrechter Exodus hier am Nachmittag“, sagt sie. Grotjahn lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern seit zwei Jahren in Oslo. Die deutsche Ingenieurin arbeitet für die DNV GL Gruppe, einem Experten in technischer Beratung und Risikomanagement. Viele ihrer Kollegen gehen am Nachmittag nach Hause, verbringen Zeit mit der Familie, begleiten die Kinder zum Schwimmkurs oder Skifahren.
„Familienzeit“ heißt das Konzept, ist fest etabliert und wird von Vätern wie Müttern genutzt. In Norwegen seien in der Regel beide Elternteile in Vollzeit berufstätig. „Man wird schräg angesehen, wenn man nur in Teilzeit arbeitet“, sagt Grotjahn. Sie und ihr Mann können sich die Kindererziehung und Betreuung gleichberechtigt teilen, auch mit Hilfe der „Familienzeit“. Und die gilt bei weitem nicht nur für erwerbstätige Eltern. „Eine Kollegin sagt aus Spaß immer, sie gehe ihre Kinder abholen, aber eigentlich geht sie zu ihrem Salsa-Kurs“, erzählt Grotjahn. Das sei völlig akzeptiert.
Am Abend setzen sich viele Angestellte noch einmal an den Rechner, beantworten arbeitsrelevante Mails oder wählen sich in eine Telefonkonferenz ein. Ein Teil des Arbeitstags wird damit in den Feierabend gelegt. Ist diese Vermischung der beiden Lebensbereiche nicht auf Dauer aufreibend? „Das ist natürlich immer eine Gratwanderung. Die Trennung funktioniert nur mit einer gewissen Disziplin“, sagt Grotjahn. Mit der Trennung meint sie die thematische Fokussierung auf das eine oder das andere, unabhängig von der Tageszeit. Verbringt sie Zeit mit den Kindern, guckt sie nicht auf das Handy und ist nicht in Rufbereitschaft. „Ich weiß, dass ich mich zwischen 16:30 und 20 Uhr entspannt meinen Kindern widmen kann. Dann bin ich am Abend gelassener, wenn ich mich nochmal der Arbeit widme.“ Nur mit innerer Distanz gelinge die emotionale Trennung zwischen beiden Welten.
Die Gegenutopie zum Burnout
Also ist das Herstellen der Balance die Sache des Einzelnen und jeder seiner eigenen Ausgeglichenheit Schmied? „Balance ist zu einer individuellen Gestaltungsaufgabe geworden, die offensichtlich Kompetenzen erfordert. Sonst gäbe es nicht die vielen Seminare, Berater und Ratgeberbücher“, sagt der Münchner Soziologe Nick Kratzer. Er forscht zur sogenannten Entgrenzung von Arbeit und Leben und beobachtet ein grundlegendes Dilemma in der heutigen Arbeitswelt. „Die Anforderungen steigen. Wachsende Arbeitsmenge, Beschleunigung und Komplexität treffen auf begrenzte Ressourcen“, sagt er. Das Verhältnis zwischen Anzahl der Arbeitnehmer und Volumen der Arbeitsaufgaben werde seitens der Unternehmensführung häufig unrealistisch eingeschätzt. Der Mensch habe Grenzen, die sich individuell und in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebensphase verschieben.
Kratzer sieht den grundlegenden Widerspruch darin, dass mehr Leistungen bei gleichbleibenden oder geringeren Kosten erwartet werden. Dieses strukturelle und institutionelle Problem werde einfach an die Angestellten weitergegeben. „Das Problem soll nun das Individuum lösen“, sagt er. Damit die Angestellten dauerhaft leistungsfähig blieben, geben Unternehmen ihnen mittlerweile einiges an die Hand. Angebote wie betriebliches Yoga, interne Rückenschulen und mobile Massage-Sessions grassieren. Hier der Billardtisch, da der Tischkicker und nebenan wartet der Resilienz-Coach.
So viel Mühe aus reiner Nächstenliebe? „Diese Angebote sollen die Beschäftigten nutzen, um in einer zunehmend stressiger werdenden Arbeitswelt ihre Leistungsfähigkeit dauerhaft halten und steigern zu können“, sagt Soziologe Kratzer. „Man sagt ihnen damit: Es ist jetzt euer Job, mit den begrenzten Ressourcen umzugehen und ich helfe euch dabei mit Zeitmanagement-Kursen, Yoga und Atemübungen. Aber nur, damit ihr eure Ressourcen erhaltet und steigert.“ Eine Art verordnete Balance.
Was hat es eigentlich mit diesem Diktat der Balance auf sich? Ist sie eine Art Gegenutopie zum Burnout? Der Begriff Balance ist äußerst schwammig, gerade in Kombination mit „Work“ und „Life“. Kratzer zufolge entspricht der Dreiklang „Work-Life-Balance“ ohnehin nicht mehr der modernen Arbeitswelt. Das Begriffspaar Work-Life suggeriere, dass Leben und Arbeiten unterschiedlichen Bereichen angehören. „Aber wir leben ja auch während wir arbeiten. Es handelt sich immer schon im Vorhinein um ein Blending“, sagt der Soziologe. Er würde lieber gleich von Life-Domain sprechen, also Lebenssphären, die in einem andauernden, dynamischen Prozess immer wieder austariert werden müssen. Allerdings ist eben der Spielraum, innerhalb dessen die Balance hergestellt werden soll, begrenzt. „Irgendwann kann man die ständig steigernden Anforderungen nicht mehr erfüllen. Es entsteht das Gefühl, dass man sich noch so sehr anstrengen kann, aber man bekommt es nicht mehr hin.“ Das schlechte Gewissen und die ständig drohende Gefahr des Scheiterns seien Folge dieses Zustands.
Das Burnout ist dann auf lange Sicht nur noch Formsache. Und so hat das Blending, die Aufhebung der Grenzen beider Sphären, seinerseits Grenzen. „Meine Ressourcen als Mensch sind immer begrenzt. Und gerade Mütter sind in ihrer Lebenswelt besonders stark eingeschränkt.“
Aus Mangel an Vorbildern
Für Mütter ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie deswegen auch ein bestimmendes Thema. Stefanie Bilen, Journalistin und selbst Mutter zweier Töchter, kennt die Situation aus eigener Erfahrung. Und trotzdem stört sie sich daran, dass verallgemeinernd von einer „Vereinbarkeitslüge“ gesprochen werde, dass Kind und Karriere per se nicht zusammen passen sollen.
Bilen hat 40 Mütter aus dem Verein Working Moms, einem Zusammenschluss engagiert berufstätiger Mütter, gefragt, wie sie es geschafft haben beide Lebensbereiche in Einklang zu bringen. Daraus ist das Buch „Mut zu Kindern und Karriere“ entstanden. Ein „Mutmachbuch“, wie sie sagt. „Arbeit gehört für mich genauso zum Leben wie Kinder.“ Bilen will zeigen, dass das eine das andere nicht ausschließen muss. Da ist zum Beispiel Janina Kugel, Personalchefin und Mitglied im Siemens-Vorstand. Kugel, Mutter von Zwillingen, „tut eben nicht so, als hätte sie kein soziales Leben. Sie zeigt, dass sie mit der Familie am Abendbrottisch sitzen möchte und eben nicht am Schreibtisch“, so Bilen. Angestellte in Führungspositionen seien besonders gefragt, diese Offenheit und Transparenz vorzuleben.
Ähnlich wie Janina Kugel hat es Frauke Grotjahn in Norwegen gemacht. Die Ingenieurin ist ebenfalls eine der Working Mums, eine Frau mit Führungsverantwortung in einem Unternehmen mit hoher Männerdichte. Sie sagt: „Wir brauchen mehr Vorbilder.“ Sie selbst war, vor allem für ihre männlichen Kollegen, ein solches Role Model. Als sie sahen, dass Grotjahn Elternzeit nimmt und, zurück im Job, abends pünktlich nach Hause geht, taten sie es ihr allmählich gleich.
Bilen ist überzeugt: „Die Lösung kann nur sein: Ich nehme mir das Recht, eben nicht ständig präsent zu sein. Aber wenn ich mir Zeit für die Familie nehme, dann muss ich an anderer Stelle etwas geben und zum Beispiel nach Feierabend die Arbeit nachholen.“
Dieser Zustand sollte allerdings nicht über Jahrzehnte andauern, „das geht sonst an die Substanz“. Die Frage ist auch immer wieder die nach der gleichberechtigten Aufteilung der Kinderbetreuung. Nicht ohne Grund bezeichnet Facebook-Managerin Sheryl Sandberg die Wahl des Partners als wichtigste Karriereentscheidung. Und da Karriere, so Bilen, bedeute, Führungsverantwortung zu haben und eben doch „einen Tick mehr zu leisten als die anderen“, spiele die Aufteilung der Kindererziehung eine große Rolle, ob diese nun vom Partner oder von engagierter Hilfe übernommen wird. „Frauen ohne klassische Karrierewünsche haben es aber nicht einfacher als solche, die eine Karriere anstreben. Die Herausforderungen, zum Beispiel die finanziellen, sind nur andere“, sagt sie. Beide eint die Komplexität des Zeitmanagements und die Sehnsucht danach, sowohl der Arbeit als auch dem Nachwuchs gerecht zu werden.
Anja Unglaub, Projektleiterin der IT bei Bosch, noch eine Working Mum, betont, wie wichtig und sinnvoll dabei die Trennung von Beruf und Leben sei. Die Mutter einer siebenjährigen Tochter weiß aus eigener Erfahrung, dass diese Trennung ein „ewiger Lernprozess“ ist. „Durch den heutigen globalisierten Arbeitsalltag vermischen sich beide Bereiche ohnehin. Wir sind mobil, können von zu Hause arbeiten. Das verführt dazu, permanent zu arbeiten.“
Sie selbst müsse „von Zeit zu Zeit einen Rückfall“ haben, um sich für ihre Grenzen zu sensibilisieren. Kürzlich saß sie wieder bis halb elf abends am Schreibtisch und dachte: „Das kann doch jetzt wirklich nicht wahr sein.“ Unglaub versucht, sich nicht mehr verführen zu lassen und bewusst „nein“ zu sagen. „Mittelfristig wird man sonst krank.“
Karriere nicht um jeden Preis
Über eine Milliarde unbezahlte Überstunden häufen Beschäftigte in Deutschland jährlich an. Laut einer Untersuchung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sind zwei Drittel aller Angestellten „zumindest gelegentlich zuhause erreichbar“.
Im Gegensatz dazu stehen die Ergebnisse einer Rundstedt-Umfrage, der zufolge sich etwa zwei Drittel der Angestellten für eine klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit aussprechen. Einer Vermischung beider Bereiche befürworten über 40 Prozent der befragten Erwerbstätigen nur dann, wenn sie sich ihre Arbeitszeit frei einteilen können. An dieser Stelle schlagen allerdings Arbeitnehmervertreter und Wissenschaftler Alarm und sprechen, wie der Personalmanagement-Professor Christian Scholz im Interview mit Spiegel Online vom „Zwang zur Selbstausbeutung“ und einer „metastasenartigen Durchdringung des Privatlebens durch den Beruf“. Sie befürchten eine weitere Entgrenzung der Arbeit gefolgt von emotionaler Erschöpfung und Schlafstörungen bis hin zur Depression.
Die Thematik ist der Bosch-Mitarbeiterin Anja Unglaub bekannt, aber sie versucht dagegen zu steuern, gerade als Vorgesetzte. „Zu Beginn wurde da schon erstmal verwundert geguckt, dass ich pünktlich gehe, aber ich habe das trotzdem gemacht.“ Das Geheimnis bestehe darin, das Thema offen anzusprechen. „In meiner Mannschaft haben das alle positiv aufgenommen. Sie waren selbst froh, nach 17 Uhr keine Termine mehr zu haben.“ Dennoch sei ihr die Auflockerung der Arbeitszeiten „sehr wichtig“. Die starre Regelung einer Präsenzkultur setze gerade Mütter enorm unter Druck. Dann beantworten sie auf dem Spielplatz oder beim Abendbrot Mails, weil bis 18 Uhr eine Antwort erwartet werde.
Der Soziologe Kratzer kritisiert, es werde den Arbeitnehmern überlassen, die Balance „irgendwie hinzubekommen“. Auch die Working Mums bezeichnen die Abgrenzung von der Arbeit größtenteils als individuelle Aufgabe, bei der gesunder Menschenverstand und persönliche Reife gefragt seien. „Jeder bastelt da für sich selbst. Es fehlt an Vorbildern und einem Modell“, sagt Kratzer.
Er sieht die Unternehmen in der Pflicht, einen Diskurs herzustellen und zu fragen: Was ist realistisch? Was kann ich wirklich von meinen Angestellten erwarten? Denn wer nicht abschalten kann, den Kopf immer voll hat und sich nach Büroarbeit und Kindererziehung noch abends an den Schreibtisch setzt, läuft Gefahr zu überhitzen. Auf Überhitzung folgt Feuer und wo Feuer ist, ist das Ausbrennen nicht weit. Das menschliche Gehirn benötigt Auszeiten, in denen sich der Geist zweckfrei erholen kann.
Eine Art Auffangsystem könnte da greifen, dass es Arbeitnehmern immer wieder erlaubt, ein Zeitmanagement, angepasst an individuelle Bedürfnisse, zu entwerfen. Kratzer nennt als Möglichkeit das Jobsharing, die Aufteilung einer Stelle, um einem nicht mehr überschaubaren Aufgabenvolumen menschlich begegnen zu können. Arbeitszeiten seien immer auch persönliche Ermessensfrage, die den Menschen mit all seinen individuellen Bedürfnissen betrifft. Entsprechend sinnvoll sei eine auf Diversität angelegte Regelung. Der Lohn dafür wäre nicht nur eine gesunde Belegschaft, was wiederum positive betriebswirtschaftliche Folgen hätte. Vielmehr liege darin das Potenzial junge und gut ausgebildete Fachkräfte zu gewinnen; angesichts des Fachkräftemangels ein erstrebenswertes Ziel.
Die jüngere Generation würde nämlich, Kratzer zufolge, „nicht mehr um jeden Preis Karriere machen wollen. Sie wollen Zeit für sich haben“. Und im Zweifelsfall eben auch für ihre Familie.