Ende April, acht Uhr morgens: Die erste Arbeitsstation von Thomas Leidner liegt in seinem 2013 eröffneten Restaurant. Der gebürtige Münchner untersucht mit seinem Team eine Katze, deren Unterbringung im Restaurant aus Gesundheitsgründen ungewiss ist. Daher muss vielleicht jemand Team einspringen und das Sorgenkind zur Genesung privat aufnehmen. Doch es gibt Entwarnung, der Katze geht es bestens. Es werden Lunchpakete gepackt und dann geht es für Leidner gemeinsam mit zwei Mitarbeitenden von der Münchner Innenstand in die Büroräumlichkeiten am Rand der bayerischen Metropole. Im Rausgehen erklärt er kurz, dass der Laden bald grundlegend umgebaut werde: „Die Katzen von hier kommen bald alle in Rente.“ Entweder werden sie von Mitarbeitenden oder langjährigen Gästen in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Tierheim adoptiert. Das Restaurant bietet einigen Katzen ein neues Zuhause. Viele von ihnen stammen aus dem Tierheim, da sie nicht vermittelt werden konnten. Besonders Tiere mit Behinderungen, drei Beinen oder mit einem Auge finden oft kein neues Heim. Sie findet man dafür besonders oft im Katzentempel, so heißt Leidners Restaurant, und manchmal öffnet sich so auch der verspätete Weg zu einer Adoption.
Wenn Leidner von Tieren spricht, spürt man seine Begeisterung. Seit seiner späten Jugend begleiten sie ihn: Egal ob Hunde oder Hausratten, ob klein oder groß, alle habe er aus dem Tierheim geholt und bei sich in der Wohnung aufgepäppelt. In Indonesien leistete er in einer Station für gerettete Hunde einen Freiwilligendienst. So wundert es nicht, dass er selbst mit den Katzen in seinem Restaurant übernachtete, damit sie sich im neuen Zuhause gut eingewöhnen. Seit zehn Jahren umgeben ihn die Stubentiger nun bei seiner täglichen Arbeit, auch wenn sich mittlerweile viel in die Operative verschoben hat. Seinen Job und die Arbeitsumgebung beschreibt der Tierfreund als überaus erfüllend. Der Weg dorthin war gepflastert von vielen Hürden und unerwarteten Wendungen. Es galt flexibel und sehr mutig zu sein. Doch am Ende haben sich die Anstrengungen für den 40-Jährigen mehr als gelohnt.
Ferdl, auch Zottelbär genannt, hat im Erlangener Katzentempel ein neues Zuhause gefunden.
Sein erstes Leben
In der Schule war Leidner kein Überflieger. Er hat eine Lese- und Rechtschreibstörung und der Schulstoff interessierte ihn zudem einfach nicht. Besonders einschneidend für seine Jugend war der frühe Tod seiner Mutter in seinem 15. Lebensjahr, der ihn dazu zwang, schnell erwachsen zu werden. Doch in diesem Prozess fühlte er sich oft orientierungslos. Nach dem Abitur rutschte er in ein Bauingenieursstudium, weil hierzu kein NC gefordert war. Doch Leidner brach es ab, das Fach lag ihm nicht: „Wenn ich versuchte , die Statik von Brücken und Tunneln zu berechnen, musste ich an all die potenziell gefährdeten Menschen denken“, erzählt er. Die Entscheidung für seine nächste Ausbildung fällte er recht pragmatisch. Durch die gescheiterte Selbstständigkeit seines Vaters entwickelte er den Willen, Zahlen und all die betriebswirtschaftlichen Hintergründe ganz genau zu verstehen. Und langsam schien sich der richtige Pfad aufzutun. Leidner trat eine Banklehre an, doch diese lastete ihn nicht aus. Der Startschuss für eine wahre Ausbildungsrallye: Innerhalb weniger Jahre schloss Leidner eine Lehre zum Bankkaufmann, Versicherungskaufmann und ein duales Studium als Diplom-Kaufmann ab. Seine Diplomarbeit über eine Aktienanalyse führte ihn schließlich zum Investmentbanking.
Die Welt der Bullen und Bären faszinierte ihn. Dort gesellte sich ein außerordentlich hohes Gehalt zu verantwortungsvollen Aufgaben und viel Anerkennung von außen. Doch Leidner blickt gleichermaßen kritisch auf diese Zeit zurück: „Es ist irgendwo auch ein kranker Beruf.“ Damit bezieht er sich vor allem auf die Insolvenz der amerikanischen Investmentbank Lehmann Brothers und die griechische Finanzkrise. Beide Ereignisse erlebte er als Investmentbanker hautnah vor seinen zehn Bildschirmen und vier Diensttelefonen mit. Für Hedgefonds und Versicherungen wettete er auf den Kurs Richtung Untergang, dafür gab es für Anleger gewaltige Profite und für sich selbst einen Bonus. Am anderen Ende der Leiter standen wiederum Menschen, die alles verloren hatten.
Es geht nicht mehr
Der Ausspruch „weniger ist mehr“ gilt für vieles, aber nicht für die Börse. Leidner arbeitete 80 bis 90 Stunden in der Woche, absolvierte nebenbei eine Weiterbildung zum Portfoliomanager, machte Trades mit mehreren Milliarden. Der Druck war enorm. Ein nach zwei Minuten behobener Fehler verursachte schließlich einen Verlust von 150.000 Euro. „Wenn man anfängt, Fehler zu machen, merkt man langsam, dass da etwas nicht stimmt.“ Dann erkrankte Leidner an einem Zwerchfellbruch. Infolgedessen war seine Speiseröhre chronisch entzündet, eigentlich hätte er nun Stress vermeiden sollen. Doch dass sein Körper sich nach nichts mehr als schlichter Ruhe sehnte, konnte und wollte der Investmentbanker nicht akzeptieren. Erst als die Operation unausweichlich war, realisierte er, dass sich endlich etwas verändern musste.
Ein Neuanfang
Manchmal gibt es Momente im Leben, in denen sich alles fügt. Ein Initialerlebnis stellte für Leidner ein Besuch im ersten Katzencafé Europas dar. In Wien schienen sich die verschiedenen Fäden seiner Vergangenheit zu verknüpfen – Tierliebe und fundamentale betriebswirtschaftliche Kenntnisse. Inspiriert von seinem Cafébesuch wollte er in Deutschland ein Restaurant eröffnen. „Allerdings kein Katzenrestaurant, sondern ein Restaurant mit Katzen. Die vegane Küche sollte im Vordergrund stehen.“ Der angehende Gastronom hatte während seiner Krise einen Lebenswandel vollzogen. Zu Zeiten seiner Tätigkeit als Broker sei er „typischer Fleischesser“ gewesen. „Nur ganz wenig und natürlich immer bio“, sagt er dazu augenzwinkernd. Hunde und Katzen streichle man gerne, aber auf das Schnitzel könne man nicht verzichten. „Ich habe die Verbindung damals nicht gesehen.“ Zu der pflanzlichen Ernährungsweise gelangte er über seine Frau, die ihn zu einem veganen Kochkurs mitnahm. An das Vorhaben ein Restaurant zu eröffnen, das gleichzeitig Katzen aus dem Tierheim ein Zuhause bietet, ging er nach eigener Aussage mit einer gesunden Naivität heran. Ohne genauen Plan rief Leidner bei den zuständigen Behörden an und erkundigte sich, was er für seine Restaurantidee alles umsetzen müsse. Aus den Antworten entwickelte er schließlich das Konzept für die heutige Franchisekette Katzentempel. Ob er bereits Kocherfahrung gehabt hatte? Nein. Die Erstausstattung des Gastraumes habe er kurzerhand bei Ikea eingekauft.
Herausforderungen annehmen
Leidner ist ein Mensch, der sich nicht davor scheut, geradewegs ins Unbekannte zu laufen. Von scheinbaren Hindernissen hält er wenig. Zwei Wochen vor der Eröffnung sprang ihm sein Koch ab. Das war im Jahr 2013. Eine Zeit, in der es der Suche nach der Nadel im Heuhaufen glich, vegan kochendes Küchenpersonal zu finden. Abschrecken ließ er sich von diesem plötzlichen Verlust trotzdem nicht – und fand rechtzeitig Ersatz. Die Speisekarte druckte er eine Stunde vor dem ersten Aufsperren der Ladentüren aus.
Viele Menschen strömten zur Eröffnung neugierig in das Lokal. Das vegane Restaurant mit Katzenfaktor profitierte bereits von Anfang an von einer großen medialen Aufmerksamkeit. Wenn Leidner von diesem Tag spricht, werden seine gemischten Gefühle von damals deutlich. Natürlich habe er sich riesig gefreut, war energiegeladen. Doch nachdem die ersten Gäste das Restaurant betraten, versteckte er sich in der Küche. Er habe abgespült, vor der Eröffnung sogar geweint. „Es war wirklich viel Druck. Es waren so viele Aufgaben und zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie sie alle zu bewältigen waren.“
In der ersten Woche besuchten zudem viele Leute aus seinem früheren Beruf den Katzentempel und wollten sehen, was ihr ehemaliger Kollege so trieb. Bei einigen ist er sich sicher, dass sie ihn zu einem gewissen Teil auch scheitern sehen wollten. Für viele habe es anfangs wie eine Schnapsidee gewirkt. Mit einigen Menschen aus seiner Arbeit in der Finanzbranche hält er immer noch Kontakt. „Jetzt sagen mir einige, dass sie teilweise neidisch sind, weil ich aus diesem Hamsterrad ausgebrochen bin und meinen Traum verwirklicht habe.“
Gemeinsam über sich hinauswachsen
Seitdem ist viel passiert. Mittlerweile gibt es elf Katzentempel in verschiedenen deutschen Städten und bis August kommen noch vier weitere dazu. Neue Herausforderungen stehen an. All das mühsam zusammengetragene Wissen der letzten Jahre um Rezepte, Ladenarchitektur und allgemeine Anforderungen möchte bewahrt werden. Um Thomas Leidner hat sich in der Zentrale am Rande von München ein Team von jungen und engagierten Menschen formiert. Die meisten kamen als Quereinsteiger oder Mitarbeitende, die zunächst als Nebenjob in einem Katzentempel gekellnert haben. In seiner Arbeitsweise beschreibt sich Leidner als „vorantreibendes Chaos“. Seine Geschäftspartnerin Kathrin Karl bremst ihn mittlerweile, wenn nötig. „Ohne sie wäre das alles wirklich nie möglich gewesen“, sagt Leidner. Seit 2015 leiten die beiden gemeinsam die Geschäfte des Katzentempels. Kennengelernt hatten sie sich im Münchner Standort, als Leidner eine Bestellung von ihr aufnehmen wollte. Karl war zu diesem Zeitpunkt frisch in Biochemie promoviert, doch die wissenschaftliche Karriere erschien ihr nun nach Erreichen des höchsten akademischen Grades wenig verlockend. Auch sie suchte nach mehr Sinn in ihrer Arbeit, etwas Anderes musste her. Seitdem ist Karl mit ihrer strukturierten Arbeitsweise für einen Großteil der Wissenssicherung und Rezeptentwicklung im Katzentempel verantwortlich. Denn erlaubte die Anfangszeit vor mehr als zehn Jahren noch viel Spontaneität, braucht es heute ein festes Fundament für das weitere Wachstum.
Seit acht Jahren leitet der Gründer des Katzentempels, Thomas Leidner, die Franchisekette gemeinsam mit Kathrin Karl. Beide fanden über Umwege zur Berufung und definierten beruflichen Erfolg für sich um.
Bei all diesen Veränderungen ist es umso wichtiger, einen festen Anker zu haben. Diese Rolle kommt Thomas Leidners Familie zu. Seit wenigen Monaten ist er Vater eines kleinen Jungen. Die Geburt seines Sohnes habe ihn noch einmal völlig neu geerdet, erzählt er. Gleichzeitig sei sie auch noch größerer Ansporn, mehr Menschen für eine nachhaltigere und vegane Lebensweise zu begeistern, die aufgrund der niedrigeren CO2-Bilanz oft nachhaltiger und klimafreundlicher ist als omivore Ernährung. Für die Zukunft hat Thomas Leidner große Pläne. „Ich bin wirklich davon überzeugt, dass wir weltweit Katzentempel eröffnen werden.“ Mit der geplanten Neueröffnung in neun weiteren Standorten dieses Jahr kommt er diesem Ziel Schritt für Schritt näher. Und eins ist sicher: Sein Leben ist nach dem Wechsel aus der Finanzbranche sicherlich nicht ruhiger geworden – aber um einiges erfüllter.
Weitere inspirierende Menschen im Porträt:
- Raúl Krauthausen: Der Inklusionsaktivist
- Natalya Nepomnyashcha: Die Vorkämpferin
- Michael Pluta: Der Krisenflüsterer
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Flexibilität. Das Heft können Sie hier bestellen.