Ob Schnee fällt oder nicht, in Zermatt ist wieder Hochsaison. Der Ort ist ein Hotspot für Skifahrerinnen und Bergfreunde. Rund zwei Millionen Menschen strömen jedes Jahr in die Gegend am Schweizer Matterhorn. Doch die Hotels und Restaurants in Zermatt haben ein Problem: Es fehlt das Personal für Küche, Service und Rezeption.
„Die Situation ist angespannt“, sagt Harald Burgener, Geschäftsführer des Hotelier Vereins Zermatt. Auch weil im Tal bezahlbarer Wohnraum fehle, werde es schwerer, Personal zu gewinnen. Eine Arbeitsgruppe soll sich auf „das Machbare“ konzentrieren, Dinge wie die Staff Card, mit der Mitarbeitende Rabatte auf Freizeitangebote bekommen, oder Social-Media-Kampagnen, die daran anknüpfen, warum Menschen gerne in Zermatt tätig sind. „Mich interessiert, was die Leute hier hält, nicht, was sie vertreibt“, sagt Burgener. „Wenn wir versuchen, Dinge zu lösen, die wir nicht beeinflussen können, sind wir nur frustriert. Dass Menschen in Scharen die Berufe verlassen, ist immerhin kein Thema, das nur uns umtreibt, sondern ein weltweites Phänomen.“ Irgendwo scheint es ein Riesenproblem zu geben.
Weltweites Phänomen
In Deutschland haben einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zufolge Hotel und Gaststätten allein im Jahr 2020 über 215.000 Beschäftigte verloren, größtenteils an Handel und Logistik. Laut Holidaycheck hat der Personalmangel dazu geführt, dass Bewertungen für Hotels sinken. Es ist sichtbar, was schon seit Jahren gärt: Der Gastronomie laufen die Leute davon. Doch bisher hat das niemanden so richtig besorgt.
Die Bundesagentur für Arbeit schreibt, dass Ausbildungsplätze im Gastgewerbe seit Jahren unbesetzt bleiben und „vergleichsweise viele“ Verträge wieder aufgelöst werden. Burgener hat in den Vereinsprotokollen der 1960er Jahre Notizen zum Personalmangel gefunden, damals ausgelöst von der Konjunktur und einer stärker werdenden Industrie. Das Personal ist in Branchen gewechselt, die besser bezahlen und geregelte Arbeitszeiten bieten. Doch geändert hat sich nicht viel, um die Arbeitsbedingungen in der Gastronomie zu verbessern.
Mehr Lohn und gute Arbeitszeiten: Dafür kämpft die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Sie ist die älteste Gewerkschaft Deutschlands. Doch ihr Organisationsgrad liegt bei unter zehn Prozent. Die meisten Betriebe sind kleiner, sie haben weniger als zehn Beschäftigte. Mark Baumeister sieht ein Versäumnis des Branchenverbands Dehoga und der Politik, die Tarifbindung in der Branche nicht durchzusetzen: „Wir brauchen Mindeststandards für Arbeit und fairen Lohn. Das sichert der Tarifvertrag. Es sollte die Voraussetzung für eine Vergabe öffentlicher Aufträge und die Mitgliedschaft im Dehoga sein, dass sich ein Betrieb daranhält“, sagt er.
Baumeister ist verantwortlich für das Gastgewerbe bei der NGG. Wenn er Kinder hätte, würde er ihnen sofort raten, in die Branche zu gehen, sagt er: „Nirgendwo sonst gibt es so viele Möglichkeiten, sich weiterzubilden und zu entwickeln.“ Doch das sei noch viel zu wenig bekannt. Und die Bedingungen seien oft schlecht.
Auch mit Tarifvertrag steigt der Stress, wenn Personal fehlt. Hohe Belastung, fehlende Anerkennung, Überstunden und ein vergleichsweise niedriger Lohn vergraulen laut einer Umfrage der NGG die Beschäftigten: Ein Drittel kann sich nicht vorstellen, noch lange in der Hotellerie oder Gastronomie tätig zu sein. „Es gelingt vielen nicht, unter den aktuellen Bedingungen bis zur Rente zu arbeiten“, sagt Baumeister. Die Branche müsse Service mehr schätzen und besser bezahlen: „Die bisherige Sparpolitik hat sich gerächt und gefährdet die Zukunft von Hotellerie und Gastronomie.“
Mit einem Bruttomonatslohn von 2.059 Euro landet die Branche in der Statistik der Bundesarbeitsagentur auf dem letzten Platz. Selbst mit Trinkgeld ist es ein weiter Weg bis zu den 4.100 Euro, die Arbeitnehmende im Median verdienen. Allerdings gibt es auch viele ungelernte Kräfte, die den Durchschnitt senken. Die NGG fordert ein Minimum von 3.000 Euro für Fachkräfte und einen „Neustart“ der Branche. Der könne zumindest auf dem Papier schon anfangen, sagt Baumeister, trotz Inflation und Energiekrise.
Ausbeutung und Aggression
In der Schweiz sind die Löhne höher und vergleichbar mit anderen Branchen. Trotzdem fehlt Personal. Auch Teilzeitkräfte orientieren sich laut Schweizer Personalvermittler Coople um: Nur ein Drittel zeigt sich bei einer Umfrage überzeugt vom Job im Gastgewerbe. Sie wollen mehr Lohn, aber auch mehr Flexibilität und bessere Arbeitszeiten.
Erste Anbieter reagieren. Hotels wie Adula, Krafft oder 25hours führen eine Viertagewoche ein. Die Initiative Unfuck Gastronomy will Küchen von ihrem schlechten Ruf befreien, von „testosterongeschwängerten Arbeitsplätzen“, Ausbeutung und Aggression. Das Projekt I Love Gastro will einen Kulturwandel für mehr Wertschätzung und soziale Kompetenz. Es bewegt sich etwas in der Gastronomie. Das muss es auch. Denn die Situation ist auf dem gesamten Arbeitsmarkt angespannt, der Wettbewerb ist groß.
„Aus dem Personalmangel ist eine Not geworden“, sagt Sabrina Westphälinger. Sie ist Senior Director Talent and Culture für Deutschland, Österreich und die Schweiz bei Accor, dem größten Hotelkonzern Europas. Nach der Pandemie habe ihr Team einen Minivan gemietet und sei durch die Länder getourt, um Personal zu gewinnen. „Wir haben unsere Sales-Leute nach Tipps gefragt und sind losgefahren, um zu zeigen, dass es uns als Arbeitgeber noch gibt.“
Accor will mit dem „Mitarbeiterversprechen“ punkten. Dazu gehören eine Feedbackkultur, Weiterbildungen und internationale Aufstiegschancen. Eine immer größere Rolle würden Trainings für die mentale Gesundheit spielen, um „Mitarbeitenden den Rücken zu stärken und ihre Resilienz zu fördern“, sagt Westphälinger. Zum einen, weil sie mittendrin waren in der Krise und Präsenz zeigen mussten, wo andere im Homeoffice saßen. Zum anderen, weil sie mehr Wert auf ihr Wohlbefinden legen: „Wir merken, dass eine Schmerzgrenze erreicht ist. Viele Mitarbeitende wollen oder können ihre Ansprüche denen der Gäste nicht mehr so stark unterordnen.“
Das zeige sich auch daran, dass ein Posten schwer zu besetzen sei, der stets zu den beliebtesten gezählt habe: die Rezeption. Rund um die Uhr erreichbar, immer freundlich, auch bei Kritik: Das wollen viele nicht mehr. Die Stellen bleiben offen. Der Gast sei immer noch König, sagt Westphälinger, aber ohne Hierarchie: „Gast und Personal begegnen sich auf Augenhöhe.“ Eine „Heartist-Kultur“ nennt das Accor, das Herz als verbindendes Element.
Interview mit Sandra Warden
Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) ist die wichtigste Stimme der Branche. Sandra Warden, Geschäftsführerin Arbeitsmarkt, erklärt, wie der Verband die Kritik und den Personalmangel einschätzt. Zum Interview
Könige und Roboter
Die Mitarbeitenden müssen immer stärker mit digitalen Systemen kooperieren, gerade an der Rezeption: Gäste buchen online, checken sich selbst ein und recherchieren. Sie wissen dadurch oft mehr als die Angestellten. Damit müssen sie zurechtkommen: „Wir werden mehr und mehr auch zu Change Managern“, sagt Westphälinger.
Automatisierung kann helfen, Mitarbeitende zu entlasten. Doch einige Hotels sehen Technik als Ersatz für fehlendes Personal, setzten Roboter an die Rezeption oder lassen sie Getränke ausliefern. Der Personalmangel macht kreativ. Es gibt Tipps, Gäste ihr Essen auf dem heißen Stein selbst braten zu lassen. Viele Hotels fragen, ob man eine tägliche Zimmerreinigung will oder zugunsten der Nachhaltigkeit darauf verzichtet. „Es gibt noch viel Potenzial, Abläufe zu verbessern. Aber es ist dennoch notwendig, sich mit dem Personalmangel zu beschäftigen“, sagt Baumeister.
Am Ende steht die Frage, wie sehr die Branche das Gasterlebnis reduzieren will, das sie auszeichnet. Andere Branchen haben es vorgemacht: Banken haben kaum noch Schalter, Fluglinien haben die kostenlose Verpflegung eingestellt. Wie weit können Hotels und Gaststätten gehen? „Wir müssen als Branche selbstbewusst auftreten und die Debatte führen, was Service Wert ist“, sagt Westphälinger. Vielleicht müssen dann die Preise steigen, wie es der globale CEO von Accor sagt. Oder die Politik muss helfen, wie es die Branche fordert. In jedem Fall stehen hinter den Services Menschen, die gut behandelt und bezahlt werden wollen. Nur wird das erst langsam richtig sichtbar.
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