Von der Sinnlosigkeit des Purpose

Purpose

Verkauft Starbucks keinen Kaffee mehr? Das könnte man zumindest meinen, wenn man deren Purpose liest: „To inspire and nurture the human spirit“. Den menschlichen Geist inspirieren und nähren? Bislang machten das die Weltreligionen. Auch Daimler Financial Services scheint keine Autos mehr zu verkaufen, sondern behauptet von sich: „We move you“. Wenigstens verkauft Zalando noch Bekleidung, dies jedoch mit Weltrettungsanspruch. Sie erfinden Mode neu zum Wohle aller: „We reimagine fashion for the good of all“.

Stellen wir solche vollmundigen Aussagen gedanklich neben das, was die Unternehmen tatsächlich produzieren und anbieten, drängt sich der Verdacht auf, dass das Marketing den Bereich kühner Behauptungen verlassen hat und das Feld der Hochstapelei betritt. Warum eigentlich?

Die Gründe des Hypes

Viele HR-Verantwortliche und Führungskräfte haben die Zeichen der Zeit durchaus treffend erkannt: Immer mehr Menschen suchen eine Erklärung, einen Sinn in etwas, das sie nicht mehr ganz verstehen und das sie nicht mehr wirklich mit Überzeugung oder gar gerne machen: ihre Arbeit. Wir erleben eine neue Entfremdung der Menschen von ihrer Arbeit. Eine Sinnlücke ist entstanden. Dieses Sinndefizit soll der Purpose beheben. Doch auch für HR und Unternehmen selbst verspricht der Purpose einiges. Im gnadenlosen Kampf um Fach- und Führungskräfte bieten Unternehmen eine Reihe von Benefits an, locken mit hundefreundlichen Büros, Smoothie-Bar und einer Kaffeebar. Sind solche Optionen ausgeschöpft, greift man eben auch zum Yoga am Arbeitsplatz oder eben zu quasireligiösen Versprechungen in Form eines Purpose. Wenn man mit Versprechungen Wahlen gewinnen kann, warum dann nicht auch neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Purpose statt Tischkicker

Was vor 30 Jahren der Tischkicker im Aufenthaltsraum war, ist heute der Purpose. Und dieser hat durchaus seine Berechtigung. In Zeiten der permanenten Erreich- und Verfügbarkeit von Berufstätigen und einer immer unklarer werdenden Grenze zwischen Arbeit und Leben nehmen die Belastungen zu. Vielen ist längst unklar: Was nervt mich mehr – meine Chefin oder meine Familie? Es ist nur verständlich, wenn sich Menschen inmitten dieser unglückseligen Vermengung von Lebensbereichen fragen: Was soll das alles? Was läuft hier falsch? Der Purpose antwortet und tröstet: Nichts läuft falsch. Du machst alles richtig. Du folgst einem hehren Anspruch. Die oder der CEO erscheint auf der Kanzel des philosophisch-ökonomischen Überbaus und predigt eine neue Sinnfülle, auf die die Welt gewartet hat. Ob das nun Hochstapelei ist oder eine neue Art von Motivation und Retention Management, sei dahingestellt. Die interessantere Frage ist doch: Funktioniert das?

Um es kurz zu machen: Nein. Zwei für nichttheologische Sinnfragen zuständige Wissenschaften, die Philosophie und die Psychologie, konnten in teils jahrhundertelanger Forschung nie einen Sinn finden, der wirken würde, wenn er – wie der Purpose – von außen oder von oben vorgegeben wird. Sinn lässt sich nicht verordnen. Der bekannteste Merkspruch diesbezüglich stammt von Viktor Frankl, Überlebender eines Vernichtungslagers der Nazis und Begründer der Logotherapie: „Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“ Ein qua Purpose vorgegebener Sinn wäre sozusagen eine Einheitslösung für alle. Doch persönlicher Sinn ist zu individuell für eine Einheitsgröße. Sinn muss gefunden werden von jeder einzelnen Person. Worin sich die Wissenschaft einig ist: Sinnvolle Arbeit braucht keinen Purpose, sondern – um zum Beispiel dem Job-Characteristics-Modell zu folgen – fünf Charakteristika.

Hat bei Ihnen schon jemals jemand vorgesprochen, der oder die wegen mangelndem Purpose kündigen wollte? Vermutlich nicht. Doch in zahlreichen Exit-Gesprächen sprechen Mitarbeitende mit Kündigungsabsicht Gründe an, die eben dem Fünf-Faktoren-Modell zugerechnet werden können. Sie möchten gehen, weil einer oder mehrere der fünf Faktoren ihrem Empfinden nach bei ihrer Arbeit unzureichend berücksichtigt werden. Umgekehrt ergibt wirklich jede Arbeit Sinn, sofern sie als Ganzes oder in wesentlichen Teilen diese fünf Voraussetzungen erfüllt: Sie ist vielfältig (1) und bedeutsam (2), kann von vorne bis hinten (3) und relativ autonom (4) ausgeführt werden und sie bietet Feedback (5). Jeder dieser fünf Faktoren steigert die Sinnhaftigkeit – und das deutlich mehr als jeder Purpose.

Was heißt das für HR und Führung?

Arbeit mit Sinn

Die erste Handlungsempfehlung ergibt sich direkt aus dem Modell: Gestalte einen konkreten Job so, dass dabei die fünf Faktoren optimal zur Geltung kommen. Die zweite ist etwas weniger offensichtlich: Sorge dafür, dass Mitarbeitende die fünf Faktoren auch tatsächlich wahrnehmen. In heutiger Zeit ist eher das Gegenteil der Fall. Dafür sorgt der sogenannte Korrumpierungseffekt: Zu viele äußere Anreize, zum Beispiel monetärer Art, irritieren und zerstören die intrinsische Motivation, die eigentliche Sinngebung bei der Arbeit, die Erfüllung in der konkreten Tätigkeit. Dazu gibt es erschütternde Studien, in denen zum Beispiel Kinder Bilder malen sollten. Die eine Gruppe bekam dafür eine materielle Belohnung, die andere nicht. Die belohnte Gruppe wollte nach einigen Durchgängen nicht mehr ohne Belohnung malen. Die unbelohnte Gruppe malte munter weiter: Die Belohnung hatte die erste Gruppe einer der beliebtesten Tätigkeiten von Kindern beraubt. Weil nicht die Belohnung, sondern die Tätigkeit an sich sinnstiftend ist. Ergo könnte man mahnen: Übertreibt es in Unternehmen nicht mit monetären und materiellen Anreizen. Leider kommt diese Warnung für die meisten Unternehmen zu spät. Sie überschütten die Belegschaft förmlich mit äußeren Anreizen. Trotzdem ist das Paradies nicht verloren.

Zurück ins Paradies

Die Erkenntnis der Kinder-Studie ist generalisierbar und passt zu Viktor Frankls Diktum. Sinn kann nicht von außen vorgegeben werden, sondern kann nur gefunden werden – in der konkreten Aufgabe selbst. Anhand der fünf Faktoren. Oder, um die Suche noch stärker zu konzentrieren, anhand von nur einer Schlüsselfrage: Worum geht es beim Malen und Arbeiten eigentlich? Es geht um Kompetenz, um Handwerk, darum, aus eigener Kraft ein Ergebnis zu schaffen. Das erfüllt, das stiftet Arbeitszufriedenheit, das ist sinnvoll. Diese Essenz von Arbeit und Sinn-Voraussetzung ist so universell, dass sie in wirklich jeder Aufgabe gefunden werden kann – wenn sie darin gesucht wird. Es gibt keine Aufgabe, die per se sinnlos ist. Selbst Sisyphos, der auf ewig einen schweren Stein einen Berg hochwälzen muss, von dem er, einmal oben angelangt, stets aufs Neue wieder auf der anderen Seite herunterrollt, findet Sinn in seiner Arbeit. Deshalb sagte der Autor vom Mythos des Sisyphos, der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Sisyphos erzielt durch seine Kompetenz ein Ergebnis. Nichts ist sinnvoller.

Unmittelbare Ergebnisse zählen

Führungskräfte, die das ungeheure Potenzial der Sinnhaftigkeit nutzen möchten, stellen also sicher, dass Mitarbeitende möglichst jene Aufgaben anpacken, die sie kraft Kompetenz gut bis exzellent bewältigen können. Aufgaben also, bei denen sie unmittelbare Ergebnisse sehen. Bürokratische Zusatzaufgaben oder etwa die modische Jobrotation halten sie jedoch viel zu oft davon ab: Eine sinnstiftende Führungskraft macht die Arbeit nicht selbst, sondern verschafft den Teammitgliedern adäquate Rahmenbedingungen. Und diese Rahmenbedingungen sollten zur Persönlichkeit der jeweiligen Person passen: Ist sie eher Teamworkerin oder Solistin? Braucht er die Spitzenbelastung oder eher niederschwellige stete Belastung? Das sind Führungsfragen, die im Sinne des Wortes sinnvoll sind, weil sie den einzelnen Menschen helfen, den eigenen Sinn zu finden.

Mehr Sinn für die Welt

Eine Managerin sagte mir einst: „Ich bin dafür da, meinen Leuten den Rücken freizuhalten, damit sie in ihrer konkreten Tätigkeit ungestört aufgehen können.“ Gelingt ihr das, findet der Mitarbeiter und die Mitarbeiterin dank ihr Sinn im Job: Was gibt es Besseres? Für sie, ihre Mitarbeitenden, die Kundschaft und das Unternehmen? Dafür braucht es keinen hochtrabenden Purpose, sondern schlicht das persönliche Kompetenzerleben in einer konkreten Tätigkeit. Wir müssen nicht immer gleich die Welt retten, um Sinn zu finden. Es reicht völlig, wenn wir gute Produkte und ordentliche Dienstleistungen anbieten. Wenn wir das nicht nur den Kundinnen und Kunden, sondern auch den eigenen Mitarbeitenden vermitteln könnten, würde uns die Welt um einiges sinnvoller erscheinen.

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Humor. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Ingo Hamm

Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Darmstadt und Leiter des Darmstädter Instituts für Wirtschaftspsychologie. Er war Berater bei McKinsey, arbeitete dann auf Konzernseite in Human Resources und Kommunikation und folgte schließlich seiner Leidenschaft für angewandte Forschung und Beratung. Hamm berät Menschen und Organisationen bei den Herausforderungen der neuen Arbeitswelt und ist Autor mehrerer Sachbücher.

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