Zwischen Arbeitsschutz und Vertrauen

Arbeitszeiterfassung

Herr Blum, das Bundesarbeitsgericht hat kürzlich in einem Beschluss festgestellt, dass in Deutschland eine Pflicht zur Arbeits­zeiterfassung besteht. Ist das überhaupt sinnvoll?
Felix Blum: Es ist richtig, dass Arbeitgeber ein System haben sollten, damit sie im Blick behalten, ob sie ihre Belegschaft in gesundheitsbelastender Weise beschäftigen und ob sie die Arbeitszeitgesetze einhalten. Am meisten nutzt die Zeiterfassung den Menschen in Unternehmen mit schlechter Arbeitszeitkultur. Damit ist der Beschluss Ausdruck eines modernen Verständnisses von gesundheitsbewusstem Arbeiten. Er birgt allerdings auch Risiken.

Denken Sie dabei an das Szenario, dass die Menschen vermehrt ins Büro zurückgeholt werden?
Das vielleicht weniger, denn Arbeitszeit lässt sich auch zu Hause erfassen. Es gibt viele digitale Methoden als Alternative zur klassischen Stempeluhr und das Bundesarbeitsgericht gibt in der Pressemitteilung auch keine Vorgabe zur Arbeitszeitdokumentation. Sie kann in einer App, einer Tabelle, einem komplexen integrierten System oder meinetwegen auch auf einem Bierdeckel stattfinden. Das Risiko ist eher, dass Freiheit, Flexibilität und Vertrauen verloren gehen.

Die Gesetzeslage
Der Europäische Gerichtshof hatte am 14. Mai 2019 entschieden, dass die Mitgliedstaaten Unternehmen verpflichten müssen, ein objektives, zugängliches und verlässliches System zur Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeit einzurichten. Diese Vorgabe hat der Gesetzgeber in Deutschland bisher noch nicht umgesetzt; es werden oft nur Überstunden und Sonntagsarbeit erfasst. Erneute Aufmerksamkeit bekam das Thema durch eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022. Diese besagt, dass laut einer europarechtskonformen Auslegung des Arbeitsschutzgesetzes in allen Betrieben in Deutschland bereits eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht.

Basieren die Methoden zur Arbeits­zeiterfassung nicht ohnehin auf Vertrauen? Arbeitgeber können schließlich nicht kontrollieren, was ihre Mitarbeitenden im Homeoffice machen, während sie digital eingestempelt sind.
Ja, der Arbeitgeber muss vertrauen, dass die Beschäftigten verantwortungsvoll mit ihrer Arbeitszeit umgehen. In gewisser Weise ist das auch im Büro schon so. Der Arbeitgeber vertraut darauf, dass Kontrolle unnötig ist, sofern die Arbeit erledigt wird. Dieses Vertrauen ist wertvoll. Mit einer Zeiterfassung erhalten die Beschäftigten einen aussagekräftigen Nachweis, während die Arbeitgeber weiterhin vertrauen müssen, dass sie ihre Arbeitszeit korrekt erfassen. Wenn es schlecht läuft, werden manche Arbeitgeber den Eindruck haben, sie müssten die Balance anderweitig wiederherstellen, zum Beispiel durch engmaschige Führung oder ausgeprägte Überprüfung. Gerade in der Wissensarbeit, in der Freiheit und Remote Work geschätzt werden, wird der Markt viel entscheiden.

Inwiefern?
Viele Menschen werden sich schnell nach einem neuen Arbeitgeber umsehen, wenn sie sich zu stark kontrolliert fühlen. Aber in der Wissensarbeit braucht es auch nicht unbedingt den Schutz durch eine Überwachung der Arbeitszeit.
Hier ist ja die Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit sowieso fließend.
Die aktuelle Grenzziehung bei der Arbeitszeit kommt tatsächlich aus einer Zeit der Produktionsarbeit am Fließband. Alles, was im Entferntesten auf Veranlassung des Arbeitgebers geschieht, ist bereits Arbeitszeit, zum Beispiel die Zeit, in der sich eine Person in der Umkleidekabine ihre Dienstkleidung anzieht. Solche kleinteiligen Differenzierungen sind nicht alle falsch, aber zumindest im Bereich der Wissens- und Büro­arbeit aus der Zeit gefallen. Der Gesetzgeber muss moderne, flexible Arbeitszeitregelungen schaffen, die einerseits die Gesundheit schützen und andererseits die Selbstbestimmung und Vertrauenskultur nicht beschädigen.

Wie ist das zu schaffen?
Das Problem ist in der Politik erkannt worden, aber es gibt noch keine richtungsweisenden Ideen. Es wird möglicherweise nicht ausreichen, dass man den Beschäftigten das Schutzniveau überlässt, da sie manchmal die gesundheitlichen Folgen ihres Tuns nicht kennen oder in einem Machtgefälle ihre Interessen nicht durchsetzen können. Der Gesetzgeber kann aber Betrieben mit Betriebsrat erlauben, das Schutzniveau für bestimmte Gruppen oder Betriebsteile zu senken, für deren Gesundheitsschutz geeignete Maßnahmen vereinbart sind. Kurz gesagt: Wer in gesicherter Qualität aufgeklärt ist und strukturell eine Wahl hat, soll ein abgesenktes Schutzniveau, dafür größere Freiheiten bei der Arbeitszeitgestaltung zugebilligt bekommen dürfen. Ich könnte mir vorstellen, dass man Belegschaften und Führungskräfte intensiv in Resilienz und gesundheitsbewusster Führung schult und sie dafür in ihrer Arbeitszeitregelung mehr Flexibilität erhalten. Entscheidend ist, dass eine neue Gesetzgebung es unterstützt, wenn Betriebe eine Kultur von Freiheit, Eigenverantwortung und Vertrauen leben.

Vor allem in Start-ups zählen oft die Ergebnisse und nicht die investierte Zeit. Ist eine solche Firmenkultur auch weiterhin möglich?
Das hoffe ich. Auch hier ist wieder der Arbeitsschutzaspekt wichtig. Junge, aufstrebende Start-ups wissen oft wenig über gesundheitsbewusste Führung, gerade wenn sie für eine Sache brennen. Sie könnte man zur gesundheitlichen Aufklärung verpflichten. Ein Stück weit ist das schon so: Die Gefährdungsbeurteilung, auch zur psychischen Gesundheit, ist längst Teil der Gesetzgebung. Andererseits steckt in diesen Start-ups viel Innovationskraft, warum sollten diese Beschäftigten nicht so arbeiten dürfen, wie sie wollen? Einem Leistungssportler können Sie schließlich auch nicht verbieten, sich mit seinem Sport die Gelenke zu ruinieren. Wichtig ist nur, dass die Beschäftigten darüber Bescheid wissen, was sie ihrer Gesundheit antun, dann können sie selbst entscheiden, wie weit sie für sich selbst gehen wollen – und auch die Option haben, auf Überstunden zu verzichten.

Also sollen Beschäftigte nicht vor sich selbst geschützt werden?
Ja und nein. Viele Menschen haben Karriereambitionen und Faszination für ein Thema. Sie können eine Wissenschaftlerin nicht davon abhalten, am Sonntag über ihr Forschungsthema nachzudenken. Genau dafür hat der Gesetzgeber keine Antwort. Das Arbeitszeitrecht ist in erster Linie dazu da, Beschäftigte zu schützen, was ja auch richtig ist. Aber es muss das Schutzniveau dort fallen lassen oder reduzieren, wo es nicht dringend gebraucht wird. Der Grat ist ­schmal, denn zwischen Selbstbestimmtheit und Selbstausbeutung liegen oft nur wenige Millimeter. Zudem muss auf mögliche Machtgefälle achtgegeben werden. Die sind nämlich gerade in spielerisch-lockeren Arbeitskulturen schwierig zu identifizieren.

Die Beschlussgründe für das Urteil werden voraussichtlich im November veröffentlicht. Was können wir Ihrer Einschätzung nach erwarten?
Das Bundesarbeitsgericht wird sich hauptsächlich auf den Aspekt des Arbeitsschutzes konzentrieren. Deshalb erwarte ich keine großen Klarstellungen zu den Themen Wissensarbeit und Vertrauensarbeitszeit. Spannend wird sein, ob der Gesetzgeber sich des Themas wieder annehmen oder es einfach aussitzen wird. Beides ist möglich. Allerdings wurde bereits eine Überarbeitung des Arbeitszeitrechts angekündigt. Der Beschluss sagt bisher übrigens auch nichts darüber, wer die Arbeitszeit erfasst und kontrolliert. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob Beschäftigte sich ihre Stunden aufschreiben und angeben, wenn es zu viele werden. Oder ob der Arbeitgeber selbst messen muss und ob Personen, die ihre Arbeitszeit nicht regelkonform dokumentieren, abgemahnt werden sollen. Der Gesetzgeber muss jedoch nicht all diese Fragen lösen, sondern darf ein bisschen Vertrauen in den Markt haben, solange die von Ausbeutung betroffenen Berufsgruppen geschützt sind.

Zum Gesprächspartner:

Felix Blum ist Leiter des Bereichs Organisations­entwicklung und Personal und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Spiegel-Gruppe. Der promovierte Rechtswissenschaftler leitet mit Gernot Brenscheidt die Fachgruppe Arbeitsrecht beim Bundesverband der Personalmanager*innen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Intelligenz. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Senta Gekeler, Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager

Senta Gekeler

Senta Gekeler ist freie Journalistin. Sie war von 2018 bis 2023 Redakteurin beim Magazin Human Resources Manager.

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