Im vergangenen Herbst schien die Arbeitswelt Kopf zu stehen. Microsoft verordnete seinen MitarbeiterInnen in Japan mehr Freizeit! Einen Monat lang schickte das Unternehmen seine Beschäftigten schon am Donnerstag ins Wochenende. Die 2.300 Angestellten an den japanischen Standorten des Unternehmens arbeiteten nur noch vier Tage, dann hatten sie drei Tage Wochenende. Ziel dieses Experiments war es, herauszufinden, wie sich flexiblere Arbeitszeit auf die Produktivität auswirkt. Die Öffentlichkeit war begeistert angesichts eines so „mutigen“ Schrittes.
Ein wichtiges Experiment – das aber alles andere als neu ist. Die Notwendigkeit einer flexibleren Gestaltung von Arbeitszeit ist eine zentrale Voraussetzung der digitalen Transformation. Das moderne Verständnis von Arbeit 4.0 zeichnet sich dadurch aus, dass sich Arbeitsformen an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten – und nicht umgekehrt. Wer A (wie Agilität) sagt, muss auch B (wie flexible Beschäftigungsformen) sagen. Konsequenterweise wird seit Jahren viel über Modelle wie Wahlarbeitszeit oder Vertrauensarbeit diskutiert. Umgesetzt wird für meinen Geschmack noch viel zu wenig – gerade bei größeren Unternehmen.
Gerne versteckt man sich hinter dem Argument, dass das Arbeitsrecht in Deutschland nicht genügend Spielraum biete oder dass etwa das Arbeitszeitgesetz längst nicht mehr den Anforderungen einer modernen Arbeitswelt entspräche. Das mag in Teilen richtig sein. Aber das kollektive Arbeitsrecht bietet im Rahmen der Tarifpartnerschaft sehr wohl Möglichkeiten, eine viel größere Flexibilität zu gestalten, als es zurzeit vorstellbar ist. Das ist auch eine Frage des Willens und des Durchhaltens.
Der Digitaltarifvertrag schafft Freiräume, wo MitarbeiterInnen sie benötigen
Nach drei Jahren intensiver Verhandlungen haben wir uns im Sommer letzten Jahres mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auf einen vollumfänglich neuen Mantel- und Entgelttarifvertrag geeinigt. Dieses neue Tarifwerk ist in Deutschland einzigartig. Es ist nun seit Januar 2020 in Kraft. Unser Ziel war es, einen modernen und innovativen Tarifrahmen zu schaffen: Er sollte sowohl den Anforderungen der digitalen Transformation als auch den Interessen der Beschäftigten nach mehr Lebensphasenorientierung und Flexibilität gerecht werden. Herausgekommen ist der erste Digitaltarifvertrag dieser Art für ein Unternehmen in dieser Größe in Deutschland. Wir können nun in umfassender Form flexible Arbeitszeitregelungen für Gleitzeit-, Freizeit- und Wertguthaben-Konten einführen. Hinzu kommt ein grundsätzlicher Anspruch auf mobiles Arbeiten und Sabbaticals. Unsere MitarbeiterInnen können jetzt selbständig entscheiden, wie sie ihre Lebens- und Arbeitszeit planen. Sie können viel freier über Zeit für Erholung, Pflege, Hobbies und Familie entscheiden. Einzigartig ist dabei die stufenlos flexible Wahl der Wochenarbeitszeit zwischen 35 und 40 Stunden, die in Deutschland jenseits von Teilzeitmodellen beispiellos ist. Durch den neuen Tarifvertrag ist eine Vier-Tage-Woche bereits heute schon möglich. Das war bahnbrechend – und das zeigt sich erst recht im Rückblick.
Die agile Revolution entsteht im Kopf – nicht im Heizkeller
Ich habe mit großem Interesse die Berichte der KollegInnen von Microsoft gelesen. Die in Japan verordnete Vier-Tage-Woche führte zu deutlichen Effizienzsteigerungen – unter anderem dadurch, dass die Energiekosten in den Büros um ein knappes Viertel gesunken seien, dass die Mitarbeiter weniger gedruckt, oder Meetings verkürzt und auch in Videoschalten durchgeführt hätten. Das ist aber gar nicht das Wesentliche. Die agile Revolution entsteht im Kopf – nicht im Heizkeller.
Das zeigte bereits zuvor eine Studie aus Neuseeland: Eine Vier-Tage-Woche senkt das Stress-Level der Beschäftigten von 45 auf 38 Prozent. Gleichzeitig stieg der Work-Life-Balance-Index von 54 auf 78 Prozent. Das alles sind wichtige Benchmarks. Im Rahmen unserer Transformation fördern wir eine konsequente Ausrichtung auf unsere Kunden und die Menschen in unserem Unternehmen. Damit Arbeitgeber attraktiv sind und agile Organisationen funktionieren, brauchen wir zeitliche Rahmenbedingungen, die Menschen zufriedener machen und ihre Kreativität fördern, damit sie selbstbestimmter und radikaler Ideen entwickeln und im Sinne der Kunden umsetzen. Darum geht es in dieser Transformation.
Und genau das erleben wir jetzt bei uns. Es ist nicht alles eitel Sonnenschein. Wo transformiert wird, gibt es auch Widerstände. Aber wir sehen nun, dass alle Generationen in unserem Unternehmen den Spagat zwischen Arbeit, Privatleben und Familie viel besser bewältigen. Wir sehen, mit welcher Kraft und Energie sie sich in neue Kundenprojekte einbringen, wie sie arbeiten, wenn es gefordert ist – und feiern, wenn es ihnen danach ist. Flexible Beschäftigungsformen sind ein Muss in der digitalen Transformation. Bei uns sind sie kein Experiment – sondern gelebte Wirklichkeit. Es lohnt sich, die Spielräume, die wir für flexiblere Beschäftigungsformen durchaus haben, gemeinsam auszudehnen.
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