The Great Relearning Revolution

The Big Shift

„Der Analphabet von morgen wird nicht der Mensch sein, der nicht lesen kann; Es wird der sein, der nicht gelernt hat, wie man lernt.“
                                                                    Alvin Toffler, „Future Shock“

Ende 2021 habe ich mit dem Beitrag „The Great Reshuffle: Ich bin dann mal weg“ über die aktuell weltweit größten Umschichtungen der Arbeitsmärkte gesprochen. Unter anderem angetrieben durch veränderte Werte, Technologieumbrüche, den demographischen Wandel und die Pandemie. So kündigten etwa in den USA im vergangenen Jahr mitten in der Covid-Krise Monat für Monat rund vier Millionen Menschen ihren Job. Weltweit spielen laut Microsofts Work Trend Index 41 Prozent aller Angestellten mit dem Gedanken, ihren Arbeitsplatz zu wechseln. Auch in Deutschland herrscht Wechselstimmung. Anfang dieses Jahres zeigte eine Studie von EY, dass fast die Hälfte der Befragten offen für einen neuen Arbeitsplatz sind. Auch die Anfragen bei Onlinestellenbörsen stiegen auf Rekordniveau.

Wer aber nur davon spricht, dass die Karten neu gemischt werden, verkennt den entscheidenden Trend, der dahinterliegt. „Wir erleben gerade etwas völlig anderes“, schrieb jüngst der CEO des indischen Technologieriesens HCL, C. Vijayakumar, für das Davoser Weltwirtschaftsforum: „Wir stehen am Scheitelpunkt der Großen Relearning-Revolution.“

Er hat recht. Wir stehen an der entscheidenden Wende zu einem neuen Zeitalter des Lernens, Verlernens und Neulernens. Die allermeisten Menschen wollen nicht nur raus, um ihre Work-Life-Balance etwa durch remote oder hybrides Arbeiten zu verbessern – sie wollen sich weiterentwickeln, inspiriert werden und suchen nach neuen Herausforderungen.

Die zunehmende Digitalisierung unserer Arbeit und die sich daraus verändernden Geschäftsmodelle und Arbeitsorganisationen führen zu einem starken Wandel von benötigten Kompetenzen und Skills. Neue Berufsbilder entstehen, die Halbwertszeit von Wissen nimmt ab und damit wird die Fähigkeit, sich neues Wissen anzueignen, wichtiger. Lernen lernen ist der Schlüssel zum Erfolg. Gerade vor dem Hintergrund einer zukünftig längeren Lebensarbeitszeit für viele von uns braucht es ein neues Paradigma für den Kreislauf Lernen, Verlernen, Neulernen im beruflichen Lebensweg. Skills und Employability sind die neue Währung für Menschen, Unternehmen und den beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg. All das hat Konsequenzen auf die Lernstrukturen und -angebote in Unternehmen und Bildungsinstitutionen und fordert von den Menschen eine neue Haltung gegenüber dem Thema Lernen.

Dass auf der individuellen Ebene bereits ein Umdenken eingesetzt hat, sehen wir an der rasant gestiegenen Nutzung von Online-Lernplattformen. In der Pandemie konnten diese Portale Zuwachsraten verzeichnen wie nie zuvor. Die Verfügbarkeit von Wissen und Lernmöglichkeiten für neue oder verbesserte Fertigkeiten (Upskilling/Reskilling) ist massiv gestiegen und wächst weiter. Schulungen sind heute viel einfacher in die Arbeitswoche integrierbar als zuvor. Ich habe mir selbst eine Lernroutine angewöhnt. Es ist geradezu ein Hobby, mir zwei bis drei Mal pro Woche bei führenden Business Schools Research Ergebnisse zu Innovation, Leadership, Future of work und Transformation anzuschauen. Viel Selbststudium, aber auch viel Austausch in Netzwerken und gerne auch mal ein Training oder Ted Talk – so investiere ich in meine persönliche Weiterentwicklung. Und das tue nicht nur ich, genauso agieren inzwischen sehr viele Menschen.

Auf diese veränderten Rahmenbedingungen muss HR reagieren, wenn Unternehmen sich im Kampf um die besten Köpfe differenzieren möchten.

Wer das neue Paradigma für lebenslanges Lernen verwirklichen will, sollte meiner Meinung nach diese drei Punkte befolgen:

1. Weiterbildung wird die neue Währung

Mitarbeiterbindung neu denken: Was wäre, wenn wir Entlohnung nicht mehr ausschließlich in Gehaltsstufen denken, sondern Weiterbildung (zu einem Teil) zur neuen Währung machen? Eine aktuelle Studie von BCG hat gezeigt, dass mehr als zwei Drittel der befragten Angestellten bereit sind, sich zu verbessern und neue Skills zu erlernen. Aber wären sie auch bereit, Bildung als Benefit anzunehmen? Ich denke, ja. Auch die Älteren haben erkannt, dass in einer sich rapide wandelnden Arbeitswelt das Erlernen neuer Skills von unschätzbarem Wert ist. Nur ein Beispiel: Ein Microsoft-Survey zeigt, dass fast drei Viertel der Ü45-Generation bereit sind, Zeit in das Upskilling zu investieren. Bei Atruvia haben wir eigens die People Lead-Rolle eingeführt, die explizit dazu da ist, die Entwicklung von Mitarbeitenden und Teams im Blick zu behalten mit regelmäßigen Feedbackschleifen. Das Ganze ergänzen wir mit rollenspezifischen Trainingsangeboten, um neu entstehende Jobprofile im Unternehmen zu etablieren.

2. Skills stechen Zeugnisse

Dazulernen müssen auch wir selbst im Personalmanagement. Die Zeiten, in denen allein Zeugnisse ausschlaggebend waren, sind vorbei. Digitalisierung und Demografie machen aus unserem Arbeitsmarkt einen Bewerbermarkt, in dem Unternehmen um die Bewerberinnen und Kandidaten mit den passenden Skills buhlen. Expertenrollen nehmen tendenziell zu, Führungsrollen nehmen tendenziell ab, neue Jobprofile entstehen und Wissen veraltet immer schneller. Das heißt nicht, dass die guten, alten Qualifikationen nichts mehr wert wären. Aber da Qualifikationen eher generelle Fähigkeiten sind, müssen wir unseren Fokus stärker auf spezielle Fertigkeiten und Skills verlagern, die in die Zukunft weisen. Dabei hilft uns eine datengetriebene Personalentwicklung, die durch Total Workforce Management stets genau weiß, welche Skills wo fehlen und transparent macht, welche Fertigkeiten in Zukunft gefragt sind.

3. Statische Selbstbilder sind passé

Wir müssen alle wieder das Lernen lernen, und auch lernen, zu verlernen. Die eigene „Employability“ kann jeder in Eigenverantwortung zum Teil seiner Arbeitswoche machen. Dafür brauchen wir allerdings das passende Selbstbild. Der Glaube an „Talente“, die Unternehmen jagen müssen, ist ein Mythos der Neunzigerjahre. Festzulegen, wer etwas kann und wer nicht, fördert ein toxisches, statisches Selbstbild. Wo Geniekult herrscht, besteht wenig Wille zur Veränderung und schon gar keine Fehlerkultur. Wir sollten lieber nach Menschen mit Entwicklungspotenzial und transformativen Fähigkeiten Ausschau halten und individuelle Entwicklung stetig belohnen. Es gilt, mehr inspirierende, leicht zugängliche Angebote zu schaffen und in den Arbeitsalltag zu integrieren, damit die Menschen in Eigenverantwortung schnell und leicht Wissen und Informationen beschaffen können. Bei Atruvia zum Beispiel setzen wir dazu auf kurze Lernnuggets und Informations- und Wissensportale.

Eins ist dabei besonders wichtig: Es muss nicht immer nur nach oben auf der Karriereleiter gehen. Unternehmen, die ein dynamisches Selbstbild haben und fördern, bieten auch Möglichkeiten, innerhalb der Organisation auf ganz andere Positionen – crossfunktional – zu wechseln, auch ohne „Aufstieg“. Und tatsächlich halten immer mehr Beschäftigte solche Weiterentwicklungsmöglichkeiten, die zu ihnen passen, für wichtiger als das ewige Ringen um die Spitze. So hat die Stanforder Motivationspsychologin Carol Dweck gezeigt, dass Mitarbeitende in Unternehmen mit dynamischen Selbstbild ihren Arbeitgeber in allen Bereichen positiver einschätzen als Menschen, die in Organisationen mit einem statischen Mindset arbeiten.

Menschen wollen sich entwickeln, sie sind hungrig auf Erneuerung. HR muss sich darauf einlassen, das Potenzial darin erkennen und nutzen. Wenn wir Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, lebenslang zu lernen, haben wir die erste Probe der großen Relearning-Revolution bereits bestanden.

Weitere Beiträge aus der Kolumne:

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Jörg Staff, Chief People Officer bei Atruvia

Jörg Staff

Jörg Staff ist Mitglied des Vorstands und Chief People Officer bei Atruvia (früher Fiducia & GAD) sowie Aufsichtsrat, Beirat und Investor von (Tech-)Start-ups. Er arbeitete vor dieser Position über 20 Jahre als Mitglied von Global Executive Leadership Teams direkt für CEOs und Vorstände führender globaler Unternehmen in der IT- Industrie (SAP, Debis Systemhaus), Logistik (Deutsche Post/DHL) und der Automobilindustrie (Daimler). In seinen globalen Positionen verantwortete er unternehmensweite Strategie-/Transformationsprogramme, Restrukturierungs- und Effizienzprogramme und unterstützte diverse Wachstumsinitiativen. Darüber hinaus sind Schwerpunkte seiner Arbeit People-Themen, wie die Ausrichtung der Unternehmensorganisation auf Human Experience, die Einführung agiler Zusammenarbeitsmodelle und die Stärkung der Innovationkraft. Staff absolvierte ein Studium der Betriebswirtschaft und einen Master of Business Administration (MBA). Über 30.000 Leserinnen und Leser haben bisher seine Kolumne Logbuch einer Transformation gelesen, die 2019/2020 monatlich auf humanresourcesmanager.de erschienen ist. 2021 ist er zum CHRO of the Year gewählt worden.

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